# taz.de -- Sterbehilfe in Deutschland: Siebzehn Wege zu sterben | |
> Eine taz-Recherche zeigt: Ärzte, die im falschen Bundesland Sterbehilfe | |
> leisten, riskieren ihren Job. Pech für Patienten. Droht ein | |
> „Suizid-Tourismus“? | |
Bild: Die richtige Dosis kann einen schmerzvollen Tod verhindern. | |
BERLIN taz | Wer seinem Leben aufgrund schwerer Krankheit selbstbestimmt | |
ein Ende setzen möchte und dazu gern ärztliche Hilfe hätte, der sollte sich | |
überlegen, rechtzeitig nach Bayern, Baden-Württemberg oder Berlin | |
umzuziehen. Denn die Wahrscheinlichkeit, einen Arzt zu finden, der bereit | |
ist, einem sterbewilligen Patienten Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist in | |
Deutschland abhängig vom Wohnort. Im Süden der Republik und in der | |
Hauptstadt sind die Bestimmungen am liberalsten. Das ergab eine Umfrage der | |
taz unter den 17 Landesärztekammern in Deutschland. | |
Der Grund: In einigen Bundesländern droht Medizinern, die Menschen bei der | |
Selbsttötung helfen, etwa indem sie ihnen ein entsprechendes Medikament | |
überlassen, ein Berufsverbot nach dem ärztlichen Standesrecht. In anderen | |
Ländern dagegen werden diese Ärzte behandelt wie alle anderen Menschen in | |
der Bundesrepublik derzeit auch: Sie dürfen das. Es droht ihnen keine | |
Sanktion, weder nach dem Strafrecht noch nach den jeweiligen | |
Berufsordnungen für Ärzte. Letztere erlassen die in dieser Frage autonom | |
agierenden Landesärztekammern. In der aktuellen Debatte um eine Reform der | |
Sterbehilfe in Deutschland wurde dies bislang ausgeblendet. | |
Danach riskiert seine Approbation, wer in Brandenburg, Bremen, Hamburg, | |
Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen oder Thüringen einem | |
Patienten beim Suizid assistiert und dabei erwischt wird. In | |
Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz, Saarland, | |
Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein dagegen existiert kein explizites | |
Verbot des ärztlich assistierten Suizids. Folglich riskieren Ärzte dort | |
auch keine berufsrechtlichen Konsequenzen, wenn sie entsprechend helfen. | |
Besonders prekär ist die Lage in Nordrhein-Westfalen, wo es gleich zwei | |
Ärztekammern gibt: Die Kammer Nordrhein schreibt ihren Ärzten in Paragraf | |
16 ihrer Satzung kategorisch vor: „Es ist ihnen verboten, Patientinnen und | |
Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur | |
Selbsttötung leisten.“ | |
## Moralisch motivierte Willkür | |
Die Ärztekammer Westfalen-Lippe dagegen fordert, ebenfalls in Paragraf 16 | |
der Berufsordnung, von ihren Ärzten lediglich: „Sie sollen keine Hilfe zur | |
Selbsttötung leisten.“ In der Praxis heißt das: Ein Patient mit | |
Sterbewunsch aus Köln etwa dürfte es aufgrund der dem Arzt dort drohenden | |
Konsequenzen ungleich schwerer haben, einen ärztlichen Helfer zu finden, | |
als beispielsweise einer aus Münster. | |
Gleichbehandlung von Patienten? Einheitliche medizinische | |
Versorgungsstandards? Klare Rechtslage? In den letzten Lebensfragen gleicht | |
die Republik einem Flickenteppich moralisch motivierter Willkür. „Es droht | |
ein innerdeutscher Suizid-Tourismus“, warnt Urban Wiesing, Direktor des | |
Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. | |
Wiesing, bis 2013 zugleich Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei | |
der Bundesärztekammer, ist überzeugt: „Eine solche Vielfalt im Standesrecht | |
ist den Patienten in Deutschland nicht zumutbar.“ | |
Zwar verfügt keine der 17 von der taz befragten Kammern nach eigenen | |
Angaben über Zahlen oder Schätzungen, wie viele Ärztinnen und Ärzte im | |
jeweiligen Kammerbereich jährlich Beihilfe zum Suizid leisten. Auch | |
verweisen alle Kammern pflichtschuldig darauf, dass die ärztliche Aufgabe | |
die Erhaltung von Leben und die Linderung von Leid sei – und nicht die | |
Beihilfe zum Suizid. | |
Doch allein die Begründungen für die jeweiligen Regelungen machen deutlich, | |
wo Patienten die größten beziehungsweise die geringsten Chancen haben, auf | |
liberal denkende Ärzte zu stoßen, die den Mut haben, sich auch als solche | |
zu outen. So heißt es etwa in der Berufsordnung von Bayern lediglich: „Der | |
Arzt hat Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres | |
Willens beizustehen.“ Dies lässt viele Interpretationen zu. | |
## Humanere Möglichkeiten | |
Der baden-württembergische Ärztepräsident Ulrich Clever, dessen Kammer die | |
bayerische Auffassung fast wortgleich teilt, lässt über seinen | |
Pressesprecher präzisieren, wo die Standesorganisation der knapp 61.000 | |
Ärzte im Südwesten politisch steht: „Der Satzungsgeber in Baden-Württemberg | |
hielt es für entbehrlich, das strafrechtliche Verbot der Tötung auf | |
Verlangen in der Berufsordnung zu zitieren. Außerdem sollte, was die | |
Beihilfe zum Suizid angeht, berufsrechtlich keine strengere Regelung als | |
die strafrechtliche getroffen werden.“ Damit sind Ärzte, die den Willen | |
ihrer Patienten respektieren und zugleich dazu beitragen möchten, dass | |
diesen Patienten humanere Möglichkeiten offenstehen, als sich etwa vor | |
einen Zug zu werfen, rechtlich auf der sicheren Seite. | |
Die Ärztekammer Berlin findet überdies: „Die im Einzelfall von einem Arzt | |
im Rahmen einer gewachsenen Arzt-Patienten-Beziehung getroffene, ethisch | |
wohl abgewogene Entscheidung, bei einem schwer kranken Patienten, der weder | |
mit den Möglichkeiten der Palliativmedizin, der adäquaten | |
Schmerzbehandlung, noch durch Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen eine | |
ausreichende Leidenslinderung erfährt, sollte nicht unter Strafe gestellt | |
werden.“ | |
## Aufstand gegen Bund | |
Mit ihrer liberalen Haltung proben einzelne Landeskammern zugleich den | |
Aufstand gegen den Präsidenten der Bundesärztekammer, Frank Ulrich | |
Montgomery. Dieser hatte beim Deutschen Ärztetag in Kiel 2011 eine in | |
Teilen der Ärzteschaft heftig umstrittene, höchst restriktive Reform der | |
Musterberufsordnung durchsetzen lassen. In dieser heißt es seither: | |
„Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter | |
Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und | |
Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur | |
Selbsttötung leisten.“ | |
Verfechter dieses Verbots, wie die Landeskammern Thüringen und Hamburg, | |
begründen ihre Haltung noch heute mit der Antizipierung eventueller | |
gesellschaftlicher Entwicklungen, für deren Regelung die Landesärztekammern | |
jedoch überhaupt nicht zuständig sind. „Bei der Zulassung dieser | |
Möglichkeit“, schreibt etwa die Kammer aus Thüringen, habe man die „Sorge… | |
dass Kranke sich „zu einem suizidalen Schritt genötigt sehen könnten“. | |
Hamburg fordert derweil einen Ausbau der ambulanten palliativmedizinischen | |
Versorgung. | |
Die Kritiker der Verbotsregelung dagegen hatten sich schon beim Kieler | |
Ärztetag mit ihrem Argument nicht durchsetzen können, der Ärztetag habe | |
überhaupt kein Mandat, die ethische Überzeugung eines Teils seiner | |
Mitglieder als die einzig richtige zu deklarieren – und sodann anderen zu | |
oktroyieren. Was sie als Einschränkung ihrer ärztlichen Freiheitsrechte und | |
Missachtung der Patientenautonomie begreifen, entsorgen sie nun auf ihre | |
Weise: Landesärztekammern sind gegenüber der Bundesärztekammer nicht | |
weisungsgebunden. Über ihre Satzungen entscheiden sie frei. | |
## Kontrovers diskutiert | |
Unterstützt werden sie dabei durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts | |
Berlin aus dem Jahr 2012 (Az.: VG9K63.09). Dieses hatte in einem | |
juristischen Streitfall um die Zulässigkeit ärztlicher Beihilfe | |
entschieden: „Die […] satzungsmäßigen Generalklauseln reichen aber nicht | |
als Rechtsgrundlage aus, um ein […] Verbot für ein Verhalten ausnahmslos | |
auszusprechen, dessen ethische Zulässigkeit in bestimmten | |
Fallkonstellationen auch innerhalb der Ärzteschaft äußerst kontrovers | |
diskutiert wird und dessen Verbot in diesen Ausnahmefällen intensiv in die | |
Freiheit der Berufsausübung des Arztes und seine Gewissensfreiheit | |
eingreift.“ | |
Doch inmitten des Eifers dieser Rebellion gegen die ethische Bevormundung | |
durch die Bundesärztekammer ist es auch zu Pannen gekommen. So haben die | |
Kammern von Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und dem Saarland in ihrem | |
stillen Protest ihre Berufsordnungen in Bezug auf den Sterbebeistand seit | |
2011 gar nicht verändert. | |
Deswegen gilt dort noch heute eine Regelung, formuliert im Geist der 70er | |
Jahre, in der es heißt: „Der Arzt darf – unter Vorrang des Willens des | |
Patienten – auf lebensverlängernde Maßnahmen nur verzichten und sich auf | |
die Linderung der Beschwerden beschränken, wenn ein Hinausschieben des | |
unvermeidbaren Todes für die sterbende Person lediglich eine unzumutbare | |
Verlängerung des Leidens bedeuten würde.“ Diese Formulierung aber | |
widerspricht allen neueren Bestimmungen zur Patientenautonomie und ist | |
spätestens seit Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes im Jahr 2009 | |
eindeutig rechtswidrig: Bei entsprechendem Patientenwillen müssen Ärzte die | |
Vornahme oder die Fortsetzung einer lebenserhaltenden oder | |
lebensverlängernden Behandlung unterlassen. Und zwar auch dann, wenn deren | |
Beginn oder Fortsetzung aus rein medizinischer Sicht geboten wäre. | |
Dies gilt im Übrigen ohne Rücksicht darauf, ob der Tod nahe bevorsteht. | |
Oder ob der Patient seinen Wohnsitz im Bereich einer Landesärztekammer hat, | |
die dies nicht begriffen hat. | |
26 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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Wolfgang Herrndorf | |
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