# taz.de -- Fatih Akin zum Film „Aus dem Nichts“: „Rache ist nichts Ethni… | |
> In seinem neuen Film „Aus dem Nichts“ besetzt Fatih Akin eine Weiße als | |
> Rächerin für einen rassistischen Mord. Wieso? Weil der Regisseur | |
> provozieren muss. | |
Bild: Rächerin in Akins Film: Schauspielerin Diane Krüger | |
taz am wochenende: Herr Akin, „Aus dem Nichts“ ist ihr elfter Film als | |
Regisseur in weniger als zwanzig Jahren … | |
Fatih Akin: Ist das so? (Zählt leise nach.) Es ist der zwölfte Film, mit | |
den Dokumentarfilmen zusammen. | |
Okay, der zwölfte sogar. Sind Sie ein ehrgeiziger Mensch? | |
Ich arbeite gern. Ich habe lange für [1][„The Cut“] gebraucht, fast fünf | |
Jahre. Da habe ich viel Zeit verloren, und das wollte ich aufholen. | |
[2][„Tschick“] und „Aus dem Nichts“ habe ich schnell hintereinander | |
gedreht. Alle zwei Jahre einen Film halte ich für einen gesunden Rhythmus. | |
Wird das Filmemachen leichter mit den Jahren? | |
Einige Dinge werden leichter, doch der eigene Anspruch wächst. Es braucht | |
weitere Wege, um mit der eigenen Arbeit zufrieden zu sein. Aber wenn man | |
einen gewissen Erfolg hat, finanzieren sich die nächsten Projekte natürlich | |
schneller. Ich konnte „Aus dem Nichts“ so schnell drehen, weil „Tschick�… | |
erfolgreich war. Der Film, den ich nach „The Cut“ machen wollte, ließ sich | |
leider überhaupt nicht finanzieren, weil „The Cut“ gefloppt ist. | |
Welcher Film war für Sie persönlich ein Erfolg? Nicht in Zahlen, sondern | |
künstlerisch. | |
Die Dokumentarfilme stehen mir näher als die Spielfilme. Das sind die | |
Arbeiten, bei denen ich nicht wegschalte, wenn sie Jahre später im | |
Fernsehen laufen. Spielfilme langweilen mich schneller. | |
Mit Filmen wie „Kurz und Schmerzlos“ und „Gegen die Wand“ haben Sie das | |
Kino um die migrantische Perspektive bereichert. Hat Sie diese | |
Vermittlerrolle irgendwann genervt? | |
Ja, hat es. Es gab eine Zeit, in der ich mich stigmatisiert gefühlt habe. | |
Es hat mich gekränkt, dass ich immer auf eine Nische reduziert wurde. | |
Inzwischen denke ich: ein Glück, dass ich meine Nische gefunden habe im | |
Weltkino. Ich habe diesen Komplex längst überwunden. | |
Wie haben Sie ihn überwunden? | |
Indem ich mir selbst bewies, dass ich auch andere Sachen machen kann. Ich | |
habe „Tschick“ verfilmt, einen wichtigen, populären deutschen Roman. Der | |
Film hat sich durchgesetzt. Ich war sehr eitel früher. Aber wenn man Kinder | |
hat, ändern sich die Prioritäten. Heute bin ich einfach froh, dass ich | |
Filme machen und damit meine Familie ernähren kann. Ich bin dankbarer | |
geworden. | |
Mit der AfD ist kürzlich zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eine | |
explizit rechtsextreme Partei in den Bundestag eingezogen. Inwiefern | |
beeinflusst das Ihr Leben und Ihre Arbeit? | |
Es beschäftigt mich sehr. Mein neuer Film hat ja einen gewissen Bezug zum | |
Phänomen AfD. Er basiert auf den Morden des NSU, und NSU ist nicht die AfD, | |
aber es bestehen ideologische Überschneidungen. | |
„Aus dem Nichts“ dreht sich um eine deutsche Frau, die ihren | |
türkisch-kurdischstämmigen Mann und ihren Sohn bei einem rechten Anschlag | |
verliert. Sie will sich an den Tätern rächen, nachdem diese vom Gericht | |
freigesprochen werden. Was hat Sie an der Geschichte gereizt? | |
Seit der Enttarnung des NSU 2011 habe ich viel an die Opfer und deren | |
Angehörige gedacht. Wie sind sie mit der Sache umgegangen, bevor sie | |
wussten, dass es den NSU gab? Wie gehen sie heute damit um? Haben sie | |
Rachegedanken, hätte ich welche? In welcher Beziehung stehen Rache und | |
unser Justizsystem? Mich wühlt das Thema auf, auch weil ich ein | |
potenzielles Opfer solcher Zellen wäre. Aus dem Gefühl, sich wehren zu | |
müssen, ist die Idee zu diesem Film entstanden. Aber dann begann ich zu | |
arbeiten und der Film entwickelte sich in eine andere Richtung, als ich es | |
mir anfangs vorgestellt hatte. | |
Inwiefern? | |
Die Mutterfigur und ihr Schmerz wurden wichtiger als der politische | |
Zusammenhang, der den Impuls für die Geschichte lieferte. Die Fragen des | |
Films lauteten für mich irgendwann: Wie viele Ebenen hat Schmerz? Was | |
braucht es, um aus Schmerz Hass zu machen, und wie mündet das Ganze in | |
Gewalt? | |
Wurde Ihnen der politische Stoff zu groß? | |
Nein, ich hatte Angst, dass der Film zu didaktisch wird. Ich will aber | |
nicht erziehen, politisch korrekt oder vernünftig sein. Ich kann keine | |
Lösungen anbieten, aber Fragen stellen. Nicht alle werden einverstanden mit | |
diesem Film sein, aber die Hauptsache ist, sie diskutieren. | |
Welche Fragen wollen Sie aufwerfen? | |
Wie gerecht ist Gerechtigkeit? Ist Fatalismus ein Lifestyle? | |
Es gibt viele Verweise im Film auf den Fall NSU. Etwa die Nagelbombe, die | |
in einem migrantisch besiedelten Viertel hochgeht. Oder dass die | |
polizeilichen Ermittlungen im falschen Milieu versanden und Angehörige der | |
Opfer mit Vorwürfen der Bandenkriminalität konfrontiert werden. Die | |
rechtsterroristische Gruppe wird als Täter enttarnt, aber es wird nicht | |
näher auf die Ideologie hinter den Morden eingegangen. | |
Für mich steht der Film in der Tradition von Robert Bresson. Man bleibt bei | |
einer Figur und bei einer Perspektive. Meine Sympathie liegt bei der | |
Mutter. Alles, was mich interessiert, ist ihre Gefühlswelt. Mich | |
interessiert die Perspektive der Nazis nicht. Ich wollte keinen Film über | |
Radikalisierung von Rechten machen. | |
Das ist klar. Aber Sie verweisen auf die rassistischen Anschläge des NSU, | |
und gleichzeitig entscheiden Sie sich, eine blonde, herkunftsdeutsche Frau | |
und deren Verlust ins Zentrum der Geschichte zu rücken. Warum? | |
Um das Motiv der Rache eben nicht in eine kulturelle Ecke zu schieben. Wenn | |
ich die Hauptrolle nicht mit Diane Krüger, sondern mit dir besetzt hätte, | |
dann wäre die Reaktion des Publikums: Ja klar, die Kanaken sind eben so, | |
die haben das im Blut. Dieses Vorurteil wollte ich nicht bedienen. Mir ging | |
es eher darum, zu sagen: Rache ist so alt und so tief im Menschen | |
verankert, sie ist Teil unserer Evolution. Das Bedürfnis nach Rache ist ja | |
auch auf gewisse Weise die Grundlage der Justiz. Das hat nichts mit dem | |
Nahen Osten zu tun, Rache ist nichts Ethnisches. | |
Um das zu erklären, musste die Hauptfigur, das NSU-Opfer, weiß sein? | |
Klar. Alles wird ethnisch gelesen, sobald die Hauptfigur nicht weiß ist. | |
Und viele hier hätten sich mit einer nicht weißen Hauptfigur noch weniger | |
identifizieren können. Ich wollte so viel Identifikation wie möglich | |
schaffen. Kanaken brauchen das nicht. (Lacht.) | |
Warum nicht? | |
Wer von Rassismus betroffen ist, kann sich mit dem Vorfall und dem Schmerz | |
sowieso identifizieren. | |
Sie hätten es langweilig gefunden, wenn die Protagonistin von Rassismus | |
betroffen wäre? | |
Nein. Aber es hätte zu eindimensional gewirkt. Und es hätte nicht das | |
breite Interesse geweckt. Lass mal eine Arierin auf Nazis losgehen und | |
Rache nehmen. Die Leute sind sauer. Schau mal ins Netz oder in die | |
Besprechungen. Selbst der Guardian schreibt, der Film würde sich 90 Minuten | |
lang nur darum bemühen, zu legitimieren, dass die Mörder keine Muslime | |
seien. Es hat den Rezensenten richtig gestört, dass die Mörder Rassisten | |
sind. Und ich glaube, wenn die Hauptfigur nicht weiß gewesen wäre, hätte es | |
weniger gestört. Du musst die Leute stören. Du musst das blonde | |
Lagerfeld-Model losschicken, um Nazis zu killen. Du musst sagen: Ja, es | |
geht um dich, motherfucker! Du könntest auch das Opfer sein, motherfucker! | |
Diane Krüger wurde für ihre Rolle in Cannes ausgezeichnet. Wie haben Sie | |
sie gecastet? | |
Wir haben uns 2012 in Cannes kennengelernt. Ich habe da eine Party | |
geschmissen. Sie kam kurz vorbei und sagte, dass sie gern mal einen Film | |
mit mir machen würde. Und irgendwann rief ich sie an. | |
Der Soundtrack des Films ist von Josh Homme, dem Frontmann der Band Queens | |
of the Stone Age. Wie kam es dazu? | |
Ich habe in den 90er Jahren seine Band Kyuss gehört. Ich komme vom Grunge. | |
Die Musik von Queens of the Stone Age passt sehr gut zu diesem Film. Ich | |
mag es, wie in den Songs, Melancholie und Wut zusammenkommen. | |
Wie ist Ihr Verhältnis zur Türkei gerade? Sind Sie noch oft da? | |
Gerade meide ich es, in die Türkei zu reisen. Das Risiko, festgenommen zu | |
werden, ist zu hoch. Sei es aufgrund meiner Facebook-Posts oder wegen eines | |
Filmprojekts, das ich gerade anschiebe. Der Film soll in Rojava spielen. | |
Ich habe noch keinem erzählt, worum es gehen soll, aber schon werde ich als | |
PKK-Sympathisant dargestellt. Deshalb kann ich leider nicht einreisen in | |
das Land, das ich so liebe. | |
Sie haben sich die Filmrechte zu Heinz Strunks „Zum Goldenen Handschuh“ | |
gesichert? | |
Ich habe eine Rezension gelesen und bin direkt am Erscheinungstag zum | |
Buchhändler. Ich habe den Roman noch am selben Tag gelesen und bei Rowohlt | |
angerufen, um zu sagen, dass ich das verfilmen will – ohne zu wissen, ob | |
ich es wirklich tun werde. Ich wollte mir die Rechte sichern, bevor es | |
Oliver Berben oder so tut. Strunk ist ein Chronist der Stadt Hamburg. Und | |
ich bin das in meinem Medium ja auch. Jetzt schreibe ich gerade am | |
Drehbuch. | |
19 Nov 2017 | |
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## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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