| # taz.de -- NSU-Film „Wintermärchen“: Der kalte Zwilling des Nationalstolz… | |
| > Jan Bonnys Film lässt das Publikum auf ein Terroristen-Trio von | |
| > narzisstischen, unreflektierten Figuren treffen. Es wird gezwungen, ihnen | |
| > zu folgen. | |
| Bild: Gewaltbereit: Tommi (Thomas Schubert) und Becky (Ricarda Seifried) | |
| 20 Jahre nach dem ersten (bekannten) terroristischen Akt des Trios | |
| Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, dem Bombenanschlag in einer Nürnberger | |
| Gaststätte, sind etliche Bücher und Dokumentationen erschienen, unzählige | |
| Nachrichten- und Zeitungsbeiträge veröffentlicht worden. Es gab | |
| Untersuchungsausschüsse, Gerichtsverfahren und Verurteilungen. Darüber | |
| hinaus weitreichende Ungereimtheiten und Verwicklungen von Staatsseite und | |
| Behörden. Der Mythos „NSU“ ist laut, seine ikonografische Bedeutung | |
| erdrückend; die Terroristen haben es zumindest hier geschafft, mit der | |
| Nazidiktatur in traurige Konkurrenz zu treten. | |
| Dieser zweifelhafte Ruhm wird den drei Protagonisten von „Wintermärchen“ | |
| verwehrt bleiben. Denn Regisseur und Autor Jan Bonny entschied sich eben | |
| nicht einfach, einen weiteren Film und damit weitere Bilder zum kulturellen | |
| Gedächtnis hinzuzufügen. Dafür muss er einen finsteren Zaubertrick | |
| anwenden: Es entsteht der reale Fake zum wirklichen Terror. „Wintermärchen“ | |
| dreht sich um das (fiktive) Trio Becky, Tommi und Maik, das sich in Köln im | |
| Untergrund aufhält. Hier leben sie in einer Wohnung, ein karger Neubau, der | |
| versucht, mit peinlichen „HOME“-Buchstaben so etwas wie Wohnlichkeit | |
| herzustellen. | |
| Becky (Ricarda Seifried) und Tommi (Thomas Schubert) sind ein Paar vor dem | |
| Zusammenbruch. Während Becky schreit, zetert und in Heulkrämpfe ausbricht, | |
| verbringt Tommi seine Tage an der Oberfläche, läuft rum, schaut in Hörsälen | |
| vorbei oder quatscht Jugendliche an. Immer wieder wird ihre fehlende | |
| Zweisamkeit von unbefriedigenden Sexversuchen durchbrochen. Als Maik | |
| (Jean-Luc Bubert) hinzustößt, zerbricht die Zweierbeziehung immer weiter. | |
| Der Trieb ist stärker als jegliche Liebe. Mit gleich heftigem Trieb gehen | |
| die drei auf Raub- und Mordtour. Wie drei kleine Kinder freuen sie sich | |
| nach den ersten Morden und jammern sogleich, dass sie keine Anerkennung | |
| finden. | |
| Der Film konzentriert sich weitestgehend auf die Dynamiken der unheiligen | |
| Dreierallianz. Die Kamera setzt sich stets zwischen die drei, wenn nicht | |
| mit wackligem Steadicam-Einsatz Hektik und Action produziert werden. Der | |
| Ansatz ist klar: So unerträglich diese drei höchst narzisstischen, | |
| unreflektierten Figuren auch sind, wir sind gezwungen, ihnen zu folgen. Wir | |
| müssen ihnen zuschauen, wenn sie sich mal wieder anschreien und geifern, | |
| wenn sie am Rande des menschlichen Verstands entlang formulieren, was sie | |
| wollen. Becky, Tommi und Maik sind keine straff organisierten Nazikader, | |
| keine Kameraden und ganz sicher keine Helden, sondern bloß stumpfe, | |
| grunzende Primaten. Ihre „Hans-Wurst-Haftigkeit“ (angelehnt an Hannah | |
| Arendts legendäre Sätze über Adolf Eichmann) ist überwältigend. | |
| ## Trost bietet der Film keinen | |
| Die Parallelen zum realen „Nationalsozialistischen Untergrund“ sind | |
| offensichtlich, die Konstellation der Gruppe und ihre Morde an | |
| „ausländischen“ Einzelhändlern eindeutig. Doch lässt Bonny seine Figuren | |
| ausfransen. Somit erschafft der Film eine Gleichzeitigkeit von Fiktion und | |
| Realität. Diese ermöglicht es, Potenzielles zu erforschen und die Figuren | |
| zu nervtötenden Individuen zu verdichten, ohne der „Wahrheit“ verpflichtet | |
| sein zu müssen. | |
| Der Ikonografie des NSU wird eine Alternative entgegengesetzt, eine | |
| bitterböse. Es handelt sich eben nicht um ein warmes partypatriotisches | |
| Sommermärchen 2006, als Deutschland feierte, während in Dortmund und Kassel | |
| die kurz vorher ermordeten Opfer des NSU noch betrauert wurden. Wir sehen | |
| hier das „Wintermärchen“, den leichenkalten Zwilling des Nationalstolzes. | |
| Im weiteren Verlauf des Films wird sich die Gruppe trennen. Nach einer | |
| Unzulänglichkeit Tommis, der weitestgehend als der Simpelste der drei | |
| Idioten dargestellt wird, muss das Camp aufgelöst werden. Ihr neues Ziel | |
| ist ein Bauernhof. Die Isolation und die Enge führen zum Koller. Nach einem | |
| weiteren Doppelmord wird Becky als Störfaktor ausgemacht. Maik und Tommi | |
| beginnen eine Affäre, die genauso wenig von Zuneigung geprägt ist wie alle | |
| anderen vorher. Auch wenn für einige Momente wahrhaftige menschliche | |
| Intimität aufkommt, der Film das erste Mal Zärtlichkeit zulässt. Denn lange | |
| hält das Glück auch hier nicht an. | |
| Mit aller Brutalität verfolgt Bonny in „Wintermärchen“ einen Ikonoklasmus. | |
| Noch jedem Fakt über den NSU wird sogleich ein zerstörerisches Pendant | |
| geboten. Es bleibt wenig übrig von den „Heldengeschichten“ des Mördertrio… | |
| jede Bastion der „Ehre“ wird dem Erdboden gleich gemacht. Selbst den | |
| Freitod verwehrt er den Protagonisten. | |
| Man wird nicht verlangen können, dass die echten Hinterbliebenen an diesem | |
| Film Gefallen finden werden, dafür ist er zu schonungslos und bietet | |
| sicherlich keinen Trost. Das muss und kann der Film auch gar nicht leisten; | |
| es geht ausschließlich um die Zerstörung eines dunklen deutschen Denkmals. | |
| 21 Mar 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
| ## TAGS | |
| Film | |
| Terrorismus | |
| Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) | |
| Filmpreis | |
| Hakimullah Mehsud | |
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