| # taz.de -- Kolumne Buchmessern: Hinter der Düne | |
| > Ein Sieg der Popfraktion? Eine Eintagsfliege? Wolfgang Herrndorf erhält | |
| > den Preis der Leipziger Buchmesse. Das ist eine gute Entscheidung. | |
| Bild: Wie ein Bonbonregal – Reclam sortiert die Bände in neuem Design nach F… | |
| LEIPZIG taz | Ein entspannt sitzender, lässig gekleideter Mann ist lesend | |
| auf einem roten Sessel zu sehen. Turnschuhe, Dreitagebart, ein Buch | |
| aufgeschlagen in der Hand, kleiner Bücherstapel auf dem Fußboden neben dem | |
| Sessel, gemütliche Leselampe daneben. | |
| So lächelt einem ein Leser auf den offiziellen Plakaten für die Leipziger | |
| Buchmesse entgegen. Souverän soll das aussehen, sich selbst zugewandt, mal | |
| was für sich tun und die Hektik draußen vor lassen, das Buch als | |
| Rückzugsort. | |
| Interessant, wie sich das Messemarketing einen typischen Leser vorstellt. | |
| Das Buch wird hier nicht als Möglichkeit vermarktet, mehr vom Leben oder | |
| anderem Denken und Wahrnehmen zu erfahren, sondern als Wellnessfaktor. | |
| Genauer kann man kaum darstellen, gegen welche Klischeevorstellungen vom | |
| Lesen auch immer angearbeitet werden muss. | |
| Denn von dem Abenteuer des Lesens, davon, dass man mit Literatur sich | |
| selbst und dem, was man eh schon kennt, für ein paar Stunden entkommen | |
| kann, erzählen diese Plakate wenig. Würde das Lesen wirklich so kuschelig | |
| sein, auf Dauer schliefen einem glatt die Füße ein. | |
| Dass wichtige Teile des Literaturbetriebs zum Glück auch tatsächlich | |
| gewillt sind, gegen diese Klischees anzuarbeiten, zeigte dann die | |
| Verleihung des Leipziger Buchpreises. Christina Viragh bekam ihn in der | |
| Kategorie der Übersetzungen, für ihre Übertragung von Peter Nádas’ | |
| „Parallelgeschichten“; 1.750 Seiten, die den Sesselleser von den Plakaten | |
| mit ihrer Intensität vom Sessel pusten würden. Jörg Baberowski bekam den | |
| Sachbuchpreis für „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“. | |
| ## Der Welt zugewandt | |
| Dass Wolfgang Herrndorf den Preis in der Sparte Belletristik für seinen | |
| Roman „Sand“ bekam, zeigt zudem, dass der Literaturbetrieb manchmal auch | |
| gewillt ist, über seinen eigenen Schatten zu springen. Denn mit seiner | |
| Popfähigkeit und Weltzugewandtheit und auch mit seiner Unbürgerlichkeit | |
| sieht Wolfgang Herrndorf in manchem nicht so aus, wie man sich hierzulande | |
| einen großen Schriftsteller vorstellt. Aber er ist einer, wie vor „Sand“ | |
| bereits der Roman „Tschick“ bewiesen hat. | |
| Eher literaturkonservative Vertreter werden die Entscheidung jetzt zwar als | |
| Sieg der Popfraktion und Eintagsfliege herunterreden. Aber es kann auch | |
| sein, dass sie eher für eine langfristige Öffnung steht, in Richtung einer | |
| deutschen Literatur, in der man sich wirklich nicht mehr zwischen Tiefe und | |
| Oberfläche und den Kategerien Ernsthaftigkeit und Unterhaltung entscheiden | |
| muss. | |
| Wolfgang Herrndorf „konnte und wollte“, wie sein Stellvertreter Robert | |
| Koall anmerkte, nicht zur Preisverleihung erscheinen. Er hat ihn gebeten, | |
| im „Erfolgsfall“ (Koall) ein nordafrikanisches Stichwort vorzulesen: „Die | |
| Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nächsten ist.“ | |
| Einige Gäste der Preisverleihung hatten Tränen in den Augen. | |
| ## Autoren wollen lesen | |
| Ein weiteres Thema wird auf der Messe diskutiert, und das sollte man bei | |
| all den Fanfaren der Preisverleihung nicht vergessen. Es geht auf einen | |
| Artikel zurück, den die Schriftstellerin Tanja Dückers in der Wochenzeitung | |
| Jungle World schrieb. Offenbar geht die Zahl der Lesungen in Deutschland so | |
| stark zurück, dass es sich für viele Autoren existenzbedrohend auswirkt. | |
| Der Grund ist, dass viele Buchhandlungen Lesereihen einstellen und | |
| Literaturfestivals den Direktkontakt zwischen Lesern und Autoren besorgen. | |
| Diese Festivals boomen zwar, sind aber zu wenig, um den dezentralen | |
| Lesungsschwund auszugleichen, zumal viele Festivals Lesungen offenbar unter | |
| Marketingmaßnahmen der Verlage verbuchen und gar kein Honorar mehr zahlen. | |
| Die FAZ sprach am Donnerstag bereits von einer „Verfestivalisierung der | |
| Lesungskultur“. Sich so etwas ausgerechnet auf dieser Buchmesse überlegen | |
| zu müssen, die ja ein großes Lesungsfestival ist, kann einem schon | |
| schlechte Laune machen – bei aller Freude über den Buchpreis. | |
| 15 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
| Dirk Knipphals | |
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