| # taz.de -- Volksaufstand vor 70 Jahren: „Die Mehrheit war gegen die DDR“ | |
| > Historiker Stefan Wolle über die Bedeutung des 17. Juni 1953 für Ost und | |
| > West, bewaffnete LPG-Vorsitzende und die aktuelle DDR-Verklärung. | |
| Bild: Bäuer*innen der LPG Pasewalk in Vorpommern 1954 bei der Getreideernte | |
| wochentaz: Herr Wolle, in der kollektiven Erinnerung an den Aufstand vom | |
| 17. Juni 1953 sind vor allem die Bilder in der Ostberliner Stalinallee | |
| präsent: die Panzer, die gegen die Demonstrierenden vorrücken, und die | |
| Menschen, die die Panzer mit Steinen bewerfen. Aufstände gab es damals aber | |
| [1][überall in der DDR]. | |
| Stefan Wolle: Berlin ist als Zentrum der Aufstände bekannt, sicher weil es | |
| der einzige Ort ist, von dem Filmaufnahmen des Tages existieren. Aber Demos | |
| gab es in rund 700 Orten, in Merseburg, Jena, Görlitz, Dresden. In Halle | |
| gab es die größte Demo mit mehr als 100.000 Teilnehmenden. Studierende der | |
| Veterinärmedizin hatten damals den Stadtfunk gekapert, ein unglaublicher | |
| Coup, so konnten sich die Ereignisse rasant verbreiten. Und mit den | |
| Menschen, die aus Leuna und Buna in den Westen geflohen waren und von den | |
| Aufständen dort berichteten, änderte sich die Perspektive. | |
| Was kaum jemand weiß, dass sich die Menschen auf dem Land schon viel früher | |
| als in den Städten erhoben. | |
| Das hatte mit der Kollektivierung auf dem Land zu tun … | |
| … die zum Teil noch privaten Landwirtschaftsbetriebe sollten sich nach | |
| sowjetischem Vorbild freiwillig zu Landwirtschaftlichen | |
| Produktionsgenossenschaften, den LPG, zusammenschließen. | |
| Das wollten die meisten Bauern nicht, also wurden sie dazu gezwungen. | |
| Gleichzeitig wurde das Ablieferungssoll, also das, was die Bauern an Milch, | |
| Fleisch, Obst und Gemüse an den Staat zu liefern hatten, so hoch | |
| geschraubt, dass das niemand erfüllen konnte. Diese Aktionen waren ganz | |
| klar ein Feldzug gegen den Mittelstand. | |
| Die Repressalien gegen die Bauern waren härter und kompromissloser als | |
| gegen die Arbeiter? | |
| Die Arbeiterklasse war ja schon laut Selbstverständnis die herrschende | |
| Klasse, allein deshalb konnte man die nicht so hart angehen. Viele | |
| widerständige Bauern wurden wegen angeblicher Steuerhinterziehung | |
| verhaftet, es gab Schauprozesse, die abschrecken sollten – und dies auch | |
| taten. | |
| Am 11. Juni 1953 konnten die Bauern [2][im SED-Parteiorgan Neues | |
| Deutschland] dann aber lesen, dass die Bauern zu Unrecht bestraft worden | |
| waren. Was passierte danach? | |
| Ehefrauen, Kinder und Geschwister liefen zu den Gefängnissen und forderten | |
| die Freilassung ihrer Angehörigen. Die lokalen Behörden waren überfordert, | |
| die hatten nämlich noch keine Anweisungen aus Berlin. Es stand die Frage im | |
| Raum: Wenn das hier eskaliert, sollen wir dann auf die Leute schießen? | |
| Stimmt es, dass neben den bewaffneten Organen auch jeder LPG-Vorsitzende | |
| und nahezu jeder Kreisparteichef eine Waffe besaß? | |
| Ja. Sie sollten sich im Zweifelsfall verteidigen können und mussten | |
| regelmäßig militärische Übungen abhalten. Die meisten besaßen die Waffen | |
| bis zum Ende der DDR. | |
| Echt? | |
| Die Waffe des Sektionsleiters Geschichte an der Humboldt-Uni in Berlin lag | |
| bis 1989 dort im Panzerschrank. Er und andere, die auch Waffen besaßen, | |
| fanden das ziemlich lächerlich. | |
| Viele Bauern flohen nach dem 17. Juni in den Westen. Die DDR versuchte, sie | |
| zurückzuholen. Kam jemand zurück? | |
| Darüber gibt es keine Zahlen. Ich gehe davon aus, dass im Westen blieb, wer | |
| erst einmal dort war. Den Ausgereisten haftete zudem der Makel der | |
| „Republikflucht“ an, und die war eine Straftat. Die Folgen hatten damals | |
| vor allem Angehörige zu tragen, manche konnten kein Abitur machen, andere | |
| nicht studieren. Und sie sagten: Wir werden dafür bestraft, dass wir hier | |
| geblieben sind. [3][Die Mehrheit der Bevölkerung war gegen die DDR] und den | |
| SED-Staat. Es war aber auch klar, dass das System nicht zu stürzen ist, | |
| solange die Sowjetunion existiert. | |
| Schon ein Jahr nach der gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes in | |
| der DDR wurde der 17. Juni im Westen zum ersten [4][Einheitsfeiertag]. | |
| Dabei war eine Wiedervereinigung damals weit weg. | |
| Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer und die CDU wollten die Einheit | |
| gar nicht. Und – wenn überhaupt – nur zu ihren Bedingungen: die | |
| Unterordnung der DDR unter die BRD. Auch die DDR hätte einer Einheit | |
| ausschließlich zu ihren Bedingungen zugestimmt, und das wäre ein neutrales | |
| Deutschland unter der Vorherrschaft der Sowjetunion über Europa gewesen. | |
| Denn damals war klar: Die DDR gibt es nur durch und mit der Sowjetunion. | |
| Für Roland Jahn, Dissident und der letzte Leiter der | |
| Stasi-Unterlagen-Behörde, ist der 17. Juni wichtiger als der 3. Oktober, | |
| der heutige Einheitstag. Nachvollziehbar? | |
| Das wäre schwierig zu vermitteln. Die Ereignisse um den 17. Juni herum | |
| betreffen ja nur einen Teil der deutschen Bevölkerung, den im Osten. Im | |
| Westen spielten der Tag und seine Ereignisse in den 70er und 80er Jahren | |
| keine Rolle mehr, in der DDR wurde er sowieso unter den Teppich gekehrt. | |
| War nicht jeder Aufstand in der DDR im Westen willkommen? | |
| 1953 hat sich der Westen bewusst aus dem Konflikt im Osten herausgehalten. | |
| Die westlichen Schutzmächte insbesondere aus Angst, die Aufstände könnten | |
| auf ihre Sektoren in Berlin übergreifen. Man hat nur den einsetzenden | |
| Flüchtlingsstrom ins Land gelassen, die gut ausgebildeten Arbeitskräfte aus | |
| der DDR konnte die Bundesrepublik gut gebrauchen. | |
| Gerade ist wieder eine Ost-West-Debatte aufgeflammt, Bücher wie die des | |
| Literaturwissenschaftlers [5][Dirk Oschmann], der Autorinnen Katja Hoyer | |
| und Anne Rabe werden kontrovers diskutiert, scheinen aber einen Nerv | |
| getroffen zu haben. Was ist los? | |
| Die Bücher sind unabhängig voneinander entstanden, werden aber meist in | |
| einem Atemzug genannt. Zum Teil findet eine Verklärung der DDR statt, die | |
| sämtliche wissenschaftlichen Forschungsergebnisse negiert. Dirk Oschmann | |
| würdigt das, was Ost und West nach dem Mauerfall gemeinsam erreicht haben, | |
| herab und stellt Dinge, die tatsächlich zu kritisieren sind, drastisch | |
| heraus. Damit missachtet er die Leistung von Ost- und Westdeutschen, die | |
| eine Wiedervereinigung und gesellschaftliche Transformation weitgehend | |
| erfolgreich geschafft haben. | |
| Und doch finden viele Ostdeutsche: Endlich sagt’s mal jemand. | |
| Mit seiner eigenen Biografie – vom DDR-Arbeiterkind zum Literaturprofessor | |
| im vereinigten Land – widerlegt er seine eigene These, dass Ostdeutsche | |
| nach wie vor diskriminiert sind. Er polarisiert und holt sich Zuspruch vor | |
| allem von Leuten, die sich benachteiligt fühlen. | |
| Sie sprechen die AfD an? | |
| Aktuell würden 18 Prozent der Menschen die AfD wählen, besonders stark ist | |
| die AfD mit 30 Prozent im Osten. Diesen Leuten spielt Oschmann mit seiner | |
| Polemik in die Hände, er stützt die AfD-Welle mit einer Synthese aus | |
| SED-Verklärung und Miesmachen der Wiedervereinigung. Das ist gefährlich. | |
| Ostdeutsche sind doch aber in Führungspositionen von obersten | |
| Bundesbehörden und in der Justiz mit 13 Prozent nachweislich | |
| unterrepräsentiert. Auf den Leitungsebenen darunter halbiert sich der | |
| Anteil sogar. | |
| 1989 war es richtig, dass das Stasi-Gesindel aussortiert wurde, sowohl in | |
| den Schulen und an den Unis als auch in den Medien und in der Politik. Ich | |
| sagte damals: Lieber Leute aus dem Westen als die alte Bande. Dass sich der | |
| Ost- und Westanteil bis heute nicht angeglichen hat, ist der Preis des | |
| geschichtlichen Umbruchs. | |
| Gibt es derzeit eine neue Ostalgiewelle? | |
| Ich würde es als Doppelostalgie bezeichnen: Es wird gerade vieles | |
| schlechtgemacht, was erreicht worden ist seit der Wende, dabei aber | |
| vergessen, dass die ostdeutsche Mehrheit 1989 eine schnelle | |
| Wiedervereinigung wollte. Auch wenn manche anders argumentieren: Nahezu | |
| allen Ostdeutschen geht es heute besser als in der DDR. Selbst ein | |
| Hartz-IV-Empfänger hat heute mehr Komfort als in seiner maroden DDR-Wohnung | |
| mit Außenklo. | |
| Für Kritiker:innen zählt aber eher Teilhabe am gesellschaftlichen | |
| Leben, die ihnen nach dem Mauerfall abhandengekommen scheint. | |
| Wenn Sie den Werteverlust, den frühere SED-Kader beklagen, meinen, kann ich | |
| nur sagen: Richtig so. Spricht man mit Kritikern jenseits der einstigen | |
| Nomenklatura über ihr eigenes Leben, dann sagen die meisten: Nein, nein, | |
| mir persönlich geht es gut. Was also ist das Problem? Wenn Dirk Oschmann in | |
| seinem Buch beklagt, dass im Osten weniger vererbt wird, hat er zwar recht, | |
| aber dafür kann doch der heutige wiedervereinigte Staat nichts. Dafür muss | |
| er die DDR verantwortlich machen, weil die den Mittelstand und die | |
| Grundeigentümer enteignet hat. Die Frage des Erbens wird sich aber auch im | |
| Osten für die nächsten Generationen ändern. | |
| 16 Jun 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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