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# taz.de -- Volksaufstand in der DDR: Es war ein Freiheitstag
> Warum bekommt der 17. Juni so wenig Beachtung? Unser Autor sagt: Das
> Wissen um die Vergangenheit kann bei den Kämpfen von heute helfen.
Bild: Erbeutetes Schild: Die DDR bezeichnete Ostberlin in den 1950ern als „De…
Zwischen dem 12. und 21. Juni 1953 beteiligten sich etwa eine Million
Menschen in der DDR an Protesten, Streiks, Demonstrationen und
[1][Kundgebungen gegen das SED-Regime]. Es ging um Demokratie, Freiheit und
Einheit.
Der spontane Aufstand war chancenlos. Die Alliierten hatten kein Interesse
daran, acht Jahre nach Kriegsende die Nachkriegsordnung von Jalta und
Potsdam zu verändern. Von dem Aufstand in der DDR war der Westen damals
genauso überrascht worden wie der Osten. Es gab keine westlichen
Einmischungs- und Steuerungsversuche.
Unmittelbar mit [2][Ausbruch des 17. Juni 1953] begann auch ein Kampf um
seine Deutung. In der DDR blieb er stets der „faschistische Putschversuch“,
die angeblich vom Westen aus inszenierte Konterrevolution. In der
Bundesrepublik ist er noch 1953 zum Tag der Deutschen Einheit ausgerufen
worden – das war er auch. Und ein Freiheitstag.
Erst mit dem Mauerbau 1961, als das größte europäische Freiluftgefängnis in
Nachkriegseuropa entstand, begann eine Umdeutung. Nun setzte sich im Zuge
der neuen Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik immer stärker die
Auffassung durch, die DDR sei eine moderne Industriegesellschaft eigenen
Typs.
Von der Diktatur war immer weniger die Rede. Und nun wurde der
Volksaufstand vom 17. Juni 1953 immer stärker auf einen Arbeiteraufstand,
auf einen sozialpolitischen Konfliktfall reduziert, der auch nicht mehr
flächendeckend ausgebrochen sei, sondern immer mehr auf Ostberlin
beschränkt dargestellt wurde. Das hatte im Medienzeitalter auch damit zu
tun, dass es fast nur Fotos sowie Ton- und Filmaufnahmen aus Berlin gab.
## 17. Juni als Gedenktag
Aber der Hauptgrund war ein politischer: Die Zeichen standen nun auf Reform
in der DDR, nicht mehr auf Revolution, so dachte jedenfalls der
bundesdeutsche Mainstream.
Die Debatten um den ungeliebten Feiertag „17. Juni“, um seine Abschaffung
als Feiertag im Westen, ebbten bis 1989 nicht mehr ab. Vor allem die
Gewerkschaften sträubten sich aber, den Feiertag aufzugeben. Er war eine
sozialpolitische Errungenschaft.
Nach der Revolution von 1989 ist der Feiertag 17. Juni umgehend zugunsten
des technokratischen und blutarmen Feiertags am 3. Oktober 1990 abgeschafft
worden. Dort reichten sich in guter alter Manier Männer die Hand –
Westmänner verhandelten mit sich selbst und hatten nicht einmal zur
Staffage am 3. Oktober 1990 Ostmänner auf der Bühne am Reichstag dabei –,
um zu besiegeln, was eine gesellschaftliche Bewegung erreicht hatte:
Einheit in Freiheit. Zu Deutschland passt der 3. Oktober womöglich besser
als Tage der Bewegung wie der 17. Juni oder der 9. Oktober (Tag der
Entscheidung in Leipzig 1989).
## Keine Ahnung, warum es kaum Interesse gibt
Seit 1963 ist der 17. Juni durch eine Proklamation des Bundespräsidenten
auch Gedenktag. Kaum jemand weiß das. Im gesellschaftlichen
Geschichtsbewusstsein spielt der 17. Juni außerhalb von halbwegs runden
Jahrestagen keine Rolle. Das Wissen über diese Ereignisse ist selbst in
Historiker*innenkreisen, die sich damit nicht befassen, mit „bescheiden“
freundlich umschrieben.
Ich weiß auch nicht, warum es für diese gescheiterte Revolution so wenig
Interesse gibt. Vermutlich sind die Gründe banal: Für die Alten ist der Tag
noch immer durch die geschichtspolitischen Instrumentalisierungen im Osten
wie im Westen belastet, befrachtet, mit Emotionen verbunden, die mit dem
historischen Ereignis wenig zu tun haben.
Nicht nur 1953, auch 1989 und der gesamte Umbruch in Osteuropa fristen
außerhalb von Sonntagsreden ein Schattendasein, ja werden oft als
nebensächlich oder gar uninteressant, sogar irrelevant abgetan.
## Es hilft nicht, weiter herumzueiern
Kann unser postheroisches Zeitalter womöglich nichts mit einem
uneigennützigen, das eigene Leben als Einsatz einbringenden Pfand im Kampf
für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anfangen?
Eine Gesellschaft, in der Hedonismus mehr zählt als Leistung und
Engagement, in der die Work-Life-Balance über allem steht und die
materielle Sattheit ganzer nachwachsender Generationen nichts mehr mit dem
Existenzkampf „letzter Generationen“ einst und heute anfangen kann, muss
doch fast zwangsläufig irritiert sein, sich in der eigenen Lebensweise
angegriffen fühlen, wenn die Geschichte vorführt, wie Freiheit, Sattheit,
Demokratie erkämpft, erstritten worden sind. Oder?
Ist es nicht nur ein kleiner Schritt von der Ignoranz großer Teile der
westeuropäischen Gesellschaften gegenüber dem Freiheitskampf gegen den
Kommunismus zur Ignoranz gegenüber dem Freiheitskampf der ukrainischen
Gesellschaft? Ist es nicht auch das gleiche Phänomen, wenn der Kampf um
globale Gerechtigkeit, gegen die Klimaerwärmung oder gegen Rassismus,
Sexismus, Extremismus in signifikanten Teilen der Gesellschaft auf
bestenfalls Gähnen, aber auch auf Ablehnung genau dann stößt, wenn die
Einzelnen irgendwie auch mal was tun sollen und wenn es nur bedeutet, sich
auf der Straße in Geduld zu üben?
## Menschen, die man nicht für das System begeistern kann
Wenn in Ostdeutschland fast die Hälfte der Gesellschaft es für denkbar
hält, [3][die AfD zu wählen], und es aktuell jeder Dritte zu tun
beabsichtigt und auch im Westen aktuell 15 Prozent so ihr Kreuz machen
wollen und nochmals so viele es für möglich erachten, dann hilft es nicht,
weiter herumzueiern und so zu tun, als könnte man die alle für das Projekt
„Demokratie“ und „Freiheit“ zurückgewinnen. Nein, in jeder Gesellschaft
gibt es etwa 20 bis 25 Prozent, die man für das politische System nicht
begeistern kann – egal womit.
Vielleicht sollte aber damit begonnen werden, zu fragen, wie jene, die
Demokratie und Freiheit stärken und verteidigen und ausbauen wollen,
unterstützt und gestärkt werden könnten. Zuweilen kommt es mir vor wie in
solchen Schulklassen, in denen alle anderen so lange warten müssen, bis
auch der Letzte verstanden hat, wie eine Photosynthese funktioniert oder
der Rauminhalt eines beliebigen Körpers errechnet werden kann.
Da fangen so manche, die es längst begriffen hatten, an, sich zu langweilen
und wenden sich ab, machen Krach, suchen nach Alternativen. Beobachten wir
das nicht auch in der freiheitlichen Demokratie?
## Als gäbe es kein Morgen, aber auch kein Gestern
Wäre es nicht zu diskutieren, die Anzahl der möglichen Legislaturperioden
für Wahlämter auf zwei zu begrenzen, schon damit niemand in die
Verlegenheit kommt, nur etwas zu tun, um wiedergewählt zu werden? Oder
könnte man nicht mittels einer lebendigen Gesellschaftsaussprache darüber,
in was für einer Verfassung wir leben wollen, die
Partizipationsmöglichkeiten in der Demokratie erweitern, da doch alle
wissen, nichts stärkt die Demokratie mehr als aktives Mittun, statt immer
nur am Biertisch alles besser zu wissen?
Historisches Wissen über das, wie der Weg bis hierher aussah, welche
Beschwernisse zu überwinden, welche Verbrechen zu bewältigen und welche
Kämpfe zu führen waren, verhindert vielleicht nicht automatisch das
Abgleiten in Extremismus und Demokratiegeringschätzung, könnte aber
argumentativ helfen.
Wenn ich gerade in diesen Tagen wieder von so manchen
Spitzenpolitiker*innen, aber auch anderen höre, wir wüssten noch zu
wenig über den Kommunismus, die DDR, den Volksaufstand vom 17. Juni 1953,
so entgegne ich: Nein, nicht „wir“, sondern „ihr“. Und nein, es fehlt n…
an Wissen. Ihr seid ganz einfach ignorant dem Wissen gegenüber!
## Alles bewerben, als gäbe es kein Morgen
Es liegt vor, wissenschaftlich abgesichert, [4][für die politische Bildung,
den Schulunterricht] oder die mediale Verarbeitung sachgerecht zubereitet.
Ihr seid ignorant, genauso ignorant und arrogant wie jene Buchautorin und
ihr deutscher Verlag, die jetzt behaupten, ihr DDR-Buch sei „bahnbrechend“,
obwohl nichts, wirklich nichts neu ist an diesem Bestseller.
Ist das nur unsere Zeit, in der alles immer so beworben werden muss, als
gäbe es kein Morgen, aber auch kein Gestern? Ich weiß es nicht. Aber es
liegt eben auch daran, konkret bezogen auf die DDR, dass es keine
verstetigten Strukturen gibt. Die meisten künftigen
Geschichtslehrer*innen verlassen heute eine deutsche Universität, ohne
sich annähernd sachgerecht mit der DDR- und Kommunismusgeschichte befasst
zu haben.
Es gib keinen einzigen Lehrstuhl für Kommunismusgeschichte. Dabei müsste
es an jeder deutschen Universität, wo Geschichtslehrer ausgebildet werden,
einen solchen geben. Es gibt auch kaum Kommunismusexpert*innen an
deutschen Hochschulen. Es ist eben kein Zufall, dass es auch keine neueren
Forschungen zum 17. Juni 1953 gibt.
Ich habe mich seit über 30 Jahren mit dem Volksaufstand befasst, mehrere
Bücher darüber veröffentlicht, unzählige öffentliche Aktivitäten dazu
entfaltet. Nein, ich freue mich in diesem Jahr nicht über die
Aufmerksamkeit für den Volkaufstand, weil ich weiß, dass sie morgen schon
wieder verflogen sein wird. Noch bin ich wütend darüber. Ich fürchte, im
nächsten Jahr wird es mir auch egal sein.
17 Jun 2023
## LINKS
[1] /Entschaedigung-von-SED-Opfern/!5941137
[2] /Gedenken-an-17-Juni-1953/!5937717
[3] /Erstarken-der-AfD/!5931844
[4] /Gedenken-an-17-Juni-1953/!5937717
## AUTOREN
Ilko-Sascha Kowalczuk
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