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# taz.de -- 75 Jahre Grundgesetz: Diktatur des Proletariats
> Die Verfassung der DDR musste von Stalin abgenickt werden. Nach der Wende
> wurde die Chance auf ein gemeinsames Grundgesetz vertan.
Stalin ließ 1936 eine neue Verfassung für die Sowjetunion verkünden. Sie
ging als „Stalinsche Verfassung“ in die Geschichte ein. Darin war das Recht
auf Arbeit, die Gleichberechtigung der Frau, die Freiheit der Religion,
Rede-, Versammlungs-, Demonstrations- und Pressefreiheit,
Vereinigungsfreiheit, das Briefgeheimnis oder auch die „Unverletzlichkeit
der Person“ garantiert.
Kein einziger dieser Paragrafen – wie viele andere dieser Verfassung –
hatte einen wirksamen Realitätsbezug. Wer sich darauf berief, galt als
Staatsfeind und wurde entsprechend behandelt. Es existierte keine Instanz,
kein Verfassungsgericht, das hätte angerufen werden können. Über allem
thronte die Kommunistische Partei, die allein, intransparent und nach „Lage
der Dinge“ entschied, was „richtig“ und „falsch“, wer warum und wofür
sanktioniert, verfolgt, bestraft oder erschossen wurde.
In der „Diktatur des Proletariats“ war kein belastbares Rechtssystem
vorgesehen. Oder, wie Stalin es mit Bezug auf Lenin 1924 ausdrückte: „Die
Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte und sich
auf Gewalt stützende Herrschaft …“
Als sich die Kommunisten nach der Befreiung vom Nationalsozialismus im Mai
1945 daranmachten, in ihrem deutschen Machtbereich, der Sowjetischen
Besatzungszone und dem Ostsektor Berlins, ihre Herrschaft zu errichten,
legten sie großen Wert darauf, formale Kriterien eines volksdemokratischen
Systems zu berücksichtigen. Dazu zählte eine Verfassung.
Im September 1946 verabschiedete die SED-Führung „Grundrechte des deutschen
Volkes. Der Weg zur Einheit Deutschlands“, eine Vorarbeit für eine neue
Verfassung. Dieser Grundrechtskatalog mit 20 Artikeln war an einer
parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie orientiert. Die SED müsse sich als
die einzige Partei profilieren, die konsequent für Frieden eintrete. Nur
die restlos überwundene alte Gesellschaftsordnung und die Etablierung einer
„demokratischen Ordnung“ unter Führung der SED garantiere Frieden.
## Vom Kreml abgenickt
Schon im August 1946 überreichte der einflussreichste deutsche Kommunist,
[1][Walter Ulbricht], dem Kreml einen Verfassungsentwurf.
„Verfassungsfragen sind Machtfragen“, betonte er. Der Entwurf spiegelte
einen Kompromiss zwischen bürgerlichen Ansprüchen auf ordnungspolitische
Bewahrung und sozialistischen Zukunftsvorstellungen einer anders
strukturierten Wirtschaft auf der Grundlage staatlicher Vorgaben.
In einem scheindemokratischen Verfahren ist zwischen Ende 1947 und Sommer
1949 eine Verfassung für die „Deutsche Demokratische Republik“
ausgearbeitet worden. Im März 1948 stellte Stalin fest, dass diese
Verfassung nicht besonders demokratisch zu sein brauche, um die Leute nicht
zu verschrecken, doch müsse sie demokratisch genug sein, „um von den besten
Elementen in West und Ost akzeptiert werden zu können“. „Demokratisch“ w…
in der Lesart der Kommunisten nur, was sich in der Sowjetunion und den
Volksdemokratien staatspolitisch entwickelte: Föderalismus,
Gewaltenteilung, ein Rechtsstaat waren nicht vorgesehen, sondern nur ein
Scheinparlament; die KP als führende Kraft.
Im Dezember 1948 ist die künftige Verfassung der DDR von Stalin genehmigt
worden. Verabschiedet wurde sie schließlich am 30. Mai im Folgejahr.
Deutschland wurde in Artikel 1 als unteilbare Republik deklariert, wobei
das Papier – anders als das Grundgesetz – keine Artikel enthielt, die Wege
zur Wiedervereinigung aufzeigten. Am 7. Oktober 1949 erfolgte die
Staatsgründung mit der Inkraftsetzung der Verfassung durch die
Provisorische Volkskammer. Drei Tage zuvor hatte Gerhart Eisler in einer
Sitzung der SED-Führung unmissverständlich verkündet: „Wenn wir eine
Regierung gründen, geben wir sie niemals wieder auf, weder durch Wahlen
noch andere Methoden.“
## Nicht mal das Papier wert
Im Prinzip ist damit die Verfassungsgeschichte der DDR auserzählt. Sie war
zu keinem Zeitpunkt das Papier wert, auf dem sie geschrieben und
millionenfach verbreitet wurde. Mein Vater hat sie als Student 1958
durchgearbeitet. Er war noch nicht SED-Mitglied, aber bereits auf „gutem
Wege“ vom dogmatisch-gläubigen Katholiken zum dogmatisch-gläubigen
Kommunisten. An der Stelle in der Verfassung, in der festgelegt wurde, dass
die Regierung „unparteiisch zum Wohle des Volkes und getreu der Verfassung
und den Gesetzen“ zu arbeiten habe, unterstrich er „unparteiisch“ und fü…
an den Rand ein Fragezeichen ein. Ja, das kollidierte mit der
leninistischen Theorie und auch mit der DDR-Realität.
Das westdeutsche Grundgesetz nannte die SED-Führung ein amerikanisches
Diktat, eine antidemokratische Verfassung, die der DDR-Verfassung diametral
entgegenstehe. Diese Erzählung blieb von der SED unangetastet bis zum
Untergang der DDR. Zehn Tage nach DDR-Gründung im Oktober 1949
verabschiedete die SED-Führung einen Beschluss, der die „führende Rolle“
der Partei festschrieb – gegen die Verfassung. Kein Gesetz, keine
Verordnung, keine Verwaltungsmaßnahme durfte von der Regierung oder
Volkskammer verabschiedet werden, ohne dass zuvor der SED-Parteivorstand
oder die zuständige Abteilung im SED-Apparat diese selbst beschlossen
hatten. Es entstand bei der SED eine Doppelstruktur, die die staatlichen
Verwaltungsstrukturen spiegelte. Zugleich beschloss die SED-Spitze, dass im
Staatsapparat nur Personen arbeiten dürften, die der Partei ergeben waren.
Die erste DDR-Verfassung beinhaltete einen Artikel, der bis 1958 die
Grundlage für politische Verfolgungen abgab. Artikel 6 regelte, dass
„Boykotthetze“ bestraft würde. Darunter konnte alles fallen, was der
parteiischen Justiz einfiel – Zehntausende Urteile, darunter auch
Todesurteile, sind mit dem Verweis „Boykotthetze“ gefällt worden. 1958 kam
ein „Strafergänzungsgesetz“ heraus, das nunmehr „Staatsverrat“, „Spi…
„Hetze“, „Staatsverleumdung“, „Sabotage, „Diversion“ und anderes
konkretisierte, sodass [2][Artikel 6] in der Strafrechtspraxis seine
Bedeutung verlor. Ulbricht brachte auf den Punkt, was ohnehin galt: Gesetze
hätten „der Entfaltung der Macht“ zu nützen. Staat und Recht bilden den
„Hebel der sozialistischen Umwälzung“.
## Eine neue nutzlose Verfassung
Am 1. Dezember 1967 erklärte er, es werde eine Kommission zur Ausarbeitung
einer neuen Verfassung eingesetzt. Die Verfassung von 1949 habe dem
Sozialismus den Weg bereitet. Nun komme es darauf an, die Hauptaufgabe zu
lösen, „den entfalteten Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung.“
Die neue Verfassung sollte weiter suggerieren, in der DDR würden Grund- und
Menschenrechte garantiert. Tatsächlich ging es darum, die „führende Rolle
der SED“ in der Verfassung festzuschreiben und die DDR als souveränes,
selbstständiges, unabhängiges Völkerrechtssubjekt zu behaupten. Ulbricht
zeigte sich stolz, dass in der DDR bereits das „bürgerliche Prinzip der
Gewaltenteilung“ beseitigt worden sei.
Am 6. April 1968 ist die neue Verfassung mit einem Volksentscheid
angenommen worden. Immerhin sind niemals zuvor oder später so viele
Gegenstimmen und Nichtwähler offiziell eingeräumt worden: rund 700.000,
knapp 6 Prozent der Stimmberechtigten. Die Verfassung schrieb die führende
Rolle der SED fest und definierte die DDR als einen „sozialistischen Staat
deutscher Nation“. Insgesamt ähnelte diese Verfassung in vielen Punkten,
zuweilen bis in die Formulierungen, der Stalinschen Verfassung. 1974 kam es
zu einer Veränderung – jeder Bezug auf die deutsche Nation und
Gesamtdeutschland wurde getilgt, zugleich kam es zu einem Bekenntnis,
unlösbarer Bestandteil [3][„der sozialistischen Gemeinschaft“] zu sein. Ein
Passus, der rückwirkend den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag
1968 legitimierte und zugleich präventiv vorsorgte.
## Das Grundgesetz wurde dem Osten übergestülpt
Am 1. Dezember 1989 wurde der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung
gestrichen. Nur eine Woche später begann der Zentrale Runde Tisch zu tagen,
um freie Wahlen in der DDR vorzubereiten. Eine Arbeitsgruppe befasste sich
mit einer neuen DDR-Verfassung. Erst etwa drei Wochen nach den [4][Wahlen
am 18. März 1990] legte sie einen [5][Verfassungsentwurf] vor. Die
Volkskammer befasste sich nicht damit. Die Vereinigung nach Art. 23 des
Grundgesetzes – Beitritt zum Geltungsbereich des GG – stand auf der
Tagesordnung. Der im Grundgesetz immer noch bestehende Art. 146 –
Verabschiedung einer neuen Verfassung über die Einberufung einer
verfassungsgebenden Versammlung – fand keine Mehrheit, weder vor noch nach
dem 3. Oktober 1990.
Eine neue Verfassung hätte die deutsche Einheit auf eine
politisch-kulturell-mental andere Ebene heben, ihr ein Dokument der
Gemeinsamkeit geben können. Auch heute könnte die Anwendung von Art 146 GG
etwas bewirken – nämlich Demokrat*innen in der Gesellschaft das
Selbstbewusstsein zurückgeben, dass sie in einer großen Mehrheit sind und
nicht die linken und rechten Extremisten, die das dauernd für sich
reklamieren. Dafür allerdings braucht es Mut und die Einsicht, dass
Verfassungen nicht allein Angelegenheit von Jurist*innen sind, sondern
der ganzen Gesellschaft gehören.
Heute gibt es keine demokratische Verfassung auf der Welt, die so viele
Veränderungen und Ergänzungen erfuhr wie unser Grundgesetz in den letzten
30 Jahren. In der DDR berief ich mich oft auf die Verfassung, um meine
Kritik am SED-Staat mit dessen eigenen Papieren zu untermauern. Heute hätte
ich gern eine moderne Verfassung, deren Zustandekommen allein ein Schlag
ins Gesicht der Demokratie- und Freiheitsfeinde von links und rechts sein
könnte.
20 May 2024
## LINKS
[1] /Biografie-ueber-Walter-Ulbricht/!6009319
[2] https://www.dokumentationszentrum-schwerin.de/fileadmin/user_upload/Dateien…
[3] https://www.verfassungen.de/ddr/verf74.htm
[4] /Volkskammerwahl-am-18-Maerz-1990/!5016294
[5] https://www.mdr.de/geschichte/ddr/deutsche-einheit/wiedervereinigung/runder…
## AUTOREN
Ilko-Sascha Kowalczuk
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