# taz.de -- Wiedervereinigung und AfD: Demokratie resonant machen | |
> Was tun gegen rechts? Not täte die Erweiterung von Demokratie. In | |
> Ostdeutschland wurde ein grundlegender Fehler bereits am 19. April 1990 | |
> begangen. | |
Manche Fehler rächen sich Jahrzehnte später. Wenn man in der ostdeutschen | |
Geschichte nach Gründen für die starke Zustimmung zur AfD gräbt, stößt man | |
unter anderem auf den 19. April 1990. Damals entstand ein Keim für das, was | |
eine der wichtigsten Ursachen für den heutigen Rechtspopulismus ist: das | |
Gefühl, Opfer der Verhältnisse zu sein, überrollt zu werden, nicht gehört | |
und gesehen zu werden. Zu lange her, nicht erinnerlich? | |
In der Sozialpsychologie ist längst bekannt, dass es „Gefühlserbschaften“ | |
gibt, die von einer zur nächsten Generation weitergegeben werden – oft | |
sogar ohne große Worte, nur mit Gesten, Blicken, Haltungen. Zur Erinnerung: | |
Auf Initiative der DDR-Opposition tagte von Ende 1989 bis zur ersten freien | |
Volkskammerwahl in Berlin ein „runder Tisch“. | |
Eine Arbeitsgruppe aus Vertreter:innen der alten Macht und der | |
[1][neuen Bürgerbewegung entwarf eine Verfassung], die progressiver war als | |
das Grundgesetz der Bundesrepublik: Sie enthielt erweiterte soziale Grund- | |
und Menschenrechte sowie plebiszitäre Elemente. Die Präambel dafür | |
formulierte damals die Schriftstellerin Christa Wolf; diese umfasste „Würde | |
und Freiheit“, „gleiches Recht für alle“, „die Gleichheit der Geschlec… | |
und den Schutz der „natürlichen Umwelt“. | |
Wäre das als neue gemeinsame Verfassung beider „Deutschländer“ | |
verabschiedet worden, dann hätten die Ostdeutschen in der Wendezeit eine | |
stärkere Verhandlungsposition gehabt und wir heute wohl viele Probleme | |
weniger. Doch der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und seine CDU waren | |
nicht daran interessiert. Sie wollten die schnelle umfassende | |
Machtübernahme. | |
## Einheit und Deindustrialisierung | |
Schon bevor die DDR-Bürgerbewegung bei den [2][Volkskammerwahlen am 18. | |
März 1990] sehr schlecht abschnitt, brachte die West-CDU ihre ostdeutsche | |
Schwesterpartei auf Linie. Und als die Autor:innen im April 1990 ihren | |
Verfassungsentwurf mit den neu Gewählten der Volkskammer diskutieren | |
wollten, „wurde so getan, als sei er gar nicht da“, so die daran beteiligte | |
Rechtsprofessorin Rosemarie Will. | |
Der Bürgerrechtler Gerd Poppe berichtete später dem Deutschlandfunk: | |
„Leider sind diese Entwürfe gar nicht verteilt worden, mindestens in der | |
CDU-Fraktion, aber ich glaube, auch nicht in der SPD-Fraktion.“ Poppe | |
konnte nur eine Aktuelle Stunde der Volkskammer am 19. April durchsetzen, | |
und in der fungierte die CDU-Abgeordnete Brigitta-Charlotte Kögler als | |
Sprachrohr Kohls: „Wozu brauchen wir noch eine Verfassung? Wir gehen mit | |
eiligen Schritten […] auf die Einheit zu.“ | |
Die Einheit kam dann sehr schnell und mit ihr auch die Deindustrialisierung | |
der DDR. Abertausende verloren ihren Job, fühlten sich gedemütigt und | |
kämpften mit Existenzängsten. Alles sei neu und fremd gewesen, „bis zur | |
Zahnpastamarke“, beschrieb die Psychoanalytikerin Annette Simon, Tochter | |
von Christa Wolf, die Gefühlslage der Ostdeutschen. Es half dann auch nicht | |
mehr, dass nach der Vereinigung auf Initiative von ost- und westdeutschen | |
Bürgerbewegten nochmals eine Verfassungskommission eingesetzt wurde. | |
Die Regierung Kohl nahm deren Arbeit nicht ernst, alles versandete. Die so | |
erzeugten Gefühle der Wut, des Opfersein und der Fremdbestimmung setzen | |
sich bis heute fort. Das Soziologenteam Oliver Nachtwey und Carolin | |
Amlinger hat für sein Buch „[3][Gekränkte Freiheit]“ mehr als 60 | |
Tiefeninterviews mit Querdenkerinnen und AfD-Anhängern geführt. Sie legen | |
dar, dass diese Menschen – vorwiegend ältere Männer – sich narzisstisch | |
gekränkt und wütend fühlen, weil sie glauben, dass ihnen ihre individuelle | |
Freiheit gestohlen wurde. | |
## Kränkungen sind Nährboden für Rechtspopulismus | |
Die Wendezeit kommt im Buch allerdings kaum vor. Dabei ist unübersehbar: | |
Das 1990 erzeugte Gefühl der Fremdbestimmung wandelte sich in mehreren | |
Wellen immer stärker in Angst vor den Fremden. Migranten und Geflüchtete | |
wurden zur Projektionsfläche von Verdrängtem. Viele wollten sich nicht | |
eingestehen, dass sie selbst die schnelle Wiedervereinigung gewollt hatten | |
– mit dem anschließenden flächendeckenden Bankrott der DDR-Wirtschaft. | |
Kränkung ist ein Kernressentiment der Rechtspopulist:innen, Gekränkte | |
sinnen auf Rache. Unabsichtlich hat etwa der frühere US-Präsident Barack | |
Obama einmal dafür gesorgt, dass die Rache fürchterlich wurde. 2011 machte | |
er nach Beobachtung des Journalisten Adam Gopnik bei einem Dinner im Weißen | |
Haus den anwesenden Donald Trump so lächerlich, dass der völlig | |
versteinerte – und offensichtlich in der Folge beschloss, selbst Präsident | |
zu werden. | |
In Deutschland wäre das politische Klima von heute sicher besser, wenn die | |
Wendezeit zum Anlass genommen worden wäre, unser ganzes politisches und | |
wirtschaftliches System zu demokratisieren, einschließlich | |
Bürgerbeteiligung und betrieblicher Mitbestimmung. Damals gab es eine große | |
Sehnsucht nach echter erfahrbarer Demokratie, die sich nicht durch | |
Zettelabwurf alle vier Jahre in eine Urne (!) erschöpft. Aber sie erfüllte | |
sich nicht. | |
Nur deshalb konnte Raum frei werden für rechtspopulistische und | |
rechtsradikale Führer, die allesamt behaupten: Wir verkörpern das Volk, wir | |
kämpfen gegen die korrupte Elite. In der Demokratie spielt die Stimme eine | |
entscheidende Rolle – sie beinhaltet ein Mindestmaß an Resonanz im Sinne | |
von Widerhall: Regierte sollten sich von Regierenden gehört fühlen. | |
Nichtresonanz produziert Wutbürger:innen, die sich nicht beachtet fühlen. | |
Die rein parlamentarische Form der Demokratie aber erzeugt kaum mehr | |
Resonanz. | |
## Wider den Fraktionszwang | |
Im Bundestag und anderswo setzen sich nicht die besten Argumente durch, | |
sondern es herrschen meist Parteienlogik und Fraktionszwang. Weil die | |
Abstimmungsergebnisse von vornherein feststehen, sind die Debatten oft | |
sterbenslangweilig. Und: So wie Unternehmen konkurrieren, so konkurrieren | |
auch Parteien untereinander – oft mit Slogans, die sogar noch | |
Waschmittelwerbung unterbieten und die meisten Menschen anöden. | |
Der Fraktionszwang – eigentlich grundgesetzwidrig, weil Abgeordnete nur | |
ihrem Gewissen folgen sollen – sorgt dafür, dass die Regierungsmehrheit | |
völlig unabhängig von Argumenten agieren kann. Und kaum kontrollierter | |
Konzernlobbyismus führt zu skandalösen politischen Entscheidungen. Wenn | |
Fraktionszwang und Lobbyismus eingedämmt würden, dann würden | |
Parlamentsdebatten endlich wieder lebendig. Mächtige Interessen würden | |
zugunsten des Gemeinwohls ausgebremst. | |
Es gäbe noch weit mehr Möglichkeiten, Demokratie wieder resonant zu machen. | |
Etwa durch die Einführung einer „Proteststimme“, die eine Person abgeben | |
darf, wenn sie mit dem gegenwärtigen Angebot an Parteien und | |
Kandidat:innen unzufrieden ist. Damit würde zumindest ein Teil der | |
Stimmen für die AfD umgelenkt. | |
Elementar wäre die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch direkte | |
und konsultative Formen, durch Volksbegehren und [4][Bürgerräte], die durch | |
eine repräsentative Zufallsauswahl eine Art Minirepublik bildeten und | |
Empfehlungen oder Bürgergutachten erarbeiteten. Die bisherigen Erfahrungen | |
mit sieben bundesweiten und zahlreichen kommunalen und regionalen | |
Bürgerräten sind durchweg positiv, die meisten Beteiligten äußerten sich | |
hinterher begeistert. | |
## Es braucht mehr Bürgerräte | |
Rechtspopulist:innen konnten sich dort bisher nirgendwo durchsetzen. | |
Denn ganz anders als im Parlament hören sich Menschen in Bürgerräten | |
gegenseitig zu. Wenn sich parlamentarische, konsultative und direkte | |
Demokratie ergänzen, gelingt sogar die Befriedung großer gesellschaftlicher | |
Konflikte. Im Auftrag des irischen Parlaments diskutierte 2013 eine | |
Bürgerversammlung ein ganzes Jahr unter anderem über [5][Homo-Ehe] und | |
Abtreibung. | |
Am Ende stimmten 77 von 100 Angehörigen der Bürgerversammlung für deren | |
Legalisierung. 2015 hielt die Regierung darüber ein Referendum ab. 62 | |
Prozent stimmten einer Verfassungsänderung zu. Und das wohlgemerkt im | |
erzkatholischen Irland. Im ebenfalls katholischen Frankreich führte die | |
Einführung der Homo-Ehe ohne vorherige Bürgerkonsultationen zu | |
[6][Protestdemonstrationen von Hunderttausenden]. | |
Zugegeben, im Wahljahr 2024 sind solche Modelle nicht auf die Schnelle | |
realisierbar. Es würde aber schon ungeheuer helfen, wenn die Regierungen | |
auf Bundes-, Länder und kommunaler Ebene r[7][unde Tische] für alle | |
brennenden Probleme organisieren und Mitbestimmungsmöglichkeiten in | |
Aussicht stellen würden. Rechtspopulistische Anführer sind damit nicht | |
erreichbar, wohl aber ihre potenziellen Wähler:innen. | |
Diese brauchen dringend Räume, in denen sie Resonanz erfahren, in denen | |
ihnen zugehört wird – was nicht gleichbedeutend ist mit Zustimmung. Es gibt | |
inzwischen genügend gute Dialog- und Moderationsformate, die mittels | |
vorheriger klarer Vereinbarungen dafür sorgen, dass Diskussionen | |
konstruktiv bleiben – siehe Bürgerräte. | |
## Grüne strichen Volksentscheide aus dem Programm | |
Viele Politiker:innen haben entweder aus Angst vor AfD und Co oder vor | |
Machtverlust aber inzwischen genau den gegenteiligen Weg eingeschlagen. | |
[8][Die Grünen], lange Befürworter von bundesweiten Volksentscheiden, haben | |
diese aus ihrem Programm gestrichen. Dabei zeigt das Beispiel Schweiz, wo | |
mit der SVP auch eine starke rechtspopulistische Partei existiert: In mehr | |
als 150 Jahren direkter Demokratie gab es bisher nur 20 | |
Volksinitiativen, die sich gegen Minderheitenrechte richteten, und nur | |
vier wurden angenommen. | |
Und obwohl der inzwischen verstorbene [9][CDU-Politiker Wolfgang Schäuble] | |
bundesweite Bürgerräte unterstützte, folgte ihm seine Partei nicht. „Unser | |
Bürgerrat ist der Wahlkreis“, so der CDU-Abgeordnete Steffen Bilger. Damit | |
wiederholt die CDU den Fehler von 1990 und verkennt völlig die Wut auf den | |
übermächtigen Parteienstaat. In Wahlen entsteht genau dieses Gefühl nicht, | |
das viele so dringend brauchen: Mir wird zugehört, ich werde gesehen. | |
Deshalb das Wutkreuz vieler bei der AfD. | |
Am 19. April 1990 begann die Kränkung sich durch Ostdeutschland zu fressen: | |
wisch und weg mit dem mühsam erarbeiteten Verfassungsentwurf. Runde Tische | |
und Bürgerbeteiligungen auf allen Ebenen könnten die Demokratie wieder | |
resonant machen, Kränkungen heilen und den Rechtspopulismus schwächen. | |
23 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.mdr.de/geschichte/ddr/deutsche-einheit/wiedervereinigung/runder… | |
[2] /Volkskammerwahl-am-18-Maerz-1990/!5016294 | |
[3] https://www.suhrkamp.de/buch/gekraenkte-freiheit-t-9783518430712 | |
[4] /Buergerraete/!5990419 | |
[5] /Referendum-in-Irland/!5200302 | |
[6] /Demo-gegen-Homo-Ehe-in-Frankreich/!5066636 | |
[7] /Runde-Tische-statt-Bauerndemo/!5643627 | |
[8] https://www.mehr-demokratie.de/presse/einzelansicht-pms/gruener-parteitag-s… | |
[9] /Nachruf-auf-Wolfgang-Schaeuble/!5981395 | |
## AUTOREN | |
Ute Scheub | |
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