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# taz.de -- Nachruf auf Wolfgang Schäuble: Ein Denker des Status quo
> Wolfgang Schäuble war einer der wenigen Intellektuellen in der Union. Er
> verkörperte Toleranz und Engstirnigkeit der bundesdeutschen Politik.
Bild: Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble 2021 im Bundestag
Seine Krankheit hatte Wolfgang Schäuble geheim gehalten. Er hatte Krebs.
Bloß kein Mitleid. Lerne leiden, ohne zu klagen, das war ihm
selbstverständlich, die Selbstverwirklichungskultur, in der jeder
Semiprominente in den sozialen Medien seinen Burnout präsentiert, fremd.
Ihn umgab eine Härteschicht. Gegen andere, aber auch, vielleicht vor
allem, gegen sich selbst. Der Protestant aus Baden achtete auf Distanz. Er
hatte etwas stählern Preußisches, das durch das weiche südbadische Idiom
gedämpft wurde. Isch over.
Seit 1990 saß er nach einem Attentat im Rollstuhl. [1][Bei unserem letzten
Interview erzählte er von einem Anruf 1991.] Er war Innenminister,
Tarifverhandlungen standen an. Die Gewerkschaftschefin Monika Wulf-Mathies
rief an. Es gebe 24-Stunden-Sitzungen, die er kaum durchhalten werde. Die
Beschäftigten aber dürften nicht denken, dass die Gewerkschaften aus
Rücksicht auf ihn am Ende ein paar Mark weniger bekommen. Man müsse eine
Lösung finden.
Schäuble, wie viele Männer seiner Generation sparsam mit Gefühlen, erzählte
diese Geschichte mehr als 30 Jahre danach noch immer fast lodernd dankbar.
Wulf-Mathies hatte ihm Mitleid erspart und Tatsachen angesprochen. Die Welt
der Tatsachen, der Verhandlungen und Realpolitik, das waren Schäubles
vertraute Spielfelder. Er sprach von sich selbst als Krüppel, nicht als
Behindertem. Bloß kein Mitleid.
[2][Er war mehr als ein halbes Jahrhundert Parlamentarier.] Schäuble war
Fraktionschef und CDU-Vorsitzender, Bundesinnen- und Bundesfinanzminister,
Bundestagspräsident und der Mann, der den Einigungsvertrag verhandelte. Er
war zwei Jahrzehnte lang Helmut Kohls rechte Hand, sein natürlicher
Nachfolger, bis Kohl ihn im Spendenskandal mit in den Abgrund riss.
## Die Spendenaffäre und der Bruch mit Kohl
Die bundesdeutsche Politik ist sachlich, verglichen mit dem Pomp und den
barocken Bestechungsaffären in Paris absurd normal. Die Staatsräson der
Bundesrepublik ist die Fixierung auf die Mitte, ihr Modus das geräuschlose
Funktionieren des Apparats. Sie ist eher untauglich für Dramen. Schäubles
Bruch mit Kohl war eine shakespearehafte Tragödie um Macht, Treue, Lüge,
Verrat. Kohl opferte seinen loyalen Gefolgsmann, so sah Schäuble es. Die
CDU-Spendenaffäre war der Tiefpunkt seiner Karriere. Er hatte etwas getan,
was seinem Pflichtethos widersprach: Er hatte die Loyalität gegenüber Kohl
über die Loyalität zu Staat und Gesetz gestellt.
Schäuble verkörperte das Strahlende und das Finstere bundesdeutscher
Politik wie kaum ein Zweiter – das Provinzielle, Enge, Vernagelte ebenso
wie das Zivile, Tolerante, Tugendhafte. Er hatte gusseisern wirkende
konservative Überzeugungen, die allen braven Linksliberalen einen Schrecken
einjagten. In der recht langen Reihe seiner politischen Fehler stechen zwei
hervor. Beide sind Ergebnisse westdeutscher Blickverengung.
Der Einigungsvertrag, den Schäuble unter extremem Zeitdruck geschickt
aushandelte, hatte zwei Defekte. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“
von in der DDR Enteignetem war Ausdruck des Eigentumsfetischs des
westlichen Bürgertums. Die Folge waren zwei Millionen Rückgabeanträge für
Häuser und Grundstücke – und das Gefühl im Osten, ohnmächtig über den Ti…
gezogen zu werden.
Schäuble hielt auch den Beitritt der DDR für ausreichend und eine neue
Verfassung für überflüssig. Das Ergebnis war, dass viele im Osten meinten,
als Defizitdeutsche zwangsvereinigt worden zu sein. Auf der Habenseite
steht, dass er mit seiner Rede im Bundestag 1991 die Mehrheit Richtung
Berlin als Hauptstadt drehte. Würde der Osten von Bonn aus regiert – es
wäre manches schlimmer.
## Fataler Auftritt als Zuchtmeister in der Eurokrise
Völlig fatal war Schäubles Auftritt als deutscher Zuchtmeister in der
Eurokrise. Schäuble, der Jurist, glaubte felsenfest, dass Verträge
eingehalten und Schulden zurückbezahlt werden müssen. Er trat in der
größten Krise des globalen Kapitalismus seit 80 Jahren als herzloser
Buchhalter auf. Griechenland wollte er am liebsten aus dem Euro werfen.
Merkel unterband am Ende dieses Hasardeurspiel. Es hätte eine
zerstörerische Dynamik in Gang setzen können, die womöglich den Euro
vernichtet hätte. [3][Schäubles Spardiktat wirkte in Griechenland sozial
verheerend.] Ob es im europäischen Interesse ist, dass China der Hafen in
Piräus gehört, ist auch fraglich.
Schäuble redete als Finanzminister wie ein Neoliberaler und wurde als
Neoliberaler bekämpft. Aber er war keiner. Die pseudoreligiöse Überhöhung
des Markts war ihm suspekt. Sein Denken fußte auf drei Überzeugungen,
Marktwirtschaft war eine davon und nicht die wichtigste. Im Zentrum stand
der Schutz der Institutionen der Demokratie. Und daneben die Sorge um die
Gesellschaft, die, bedroht von Egoismus und Individualismus, mehr
Zusammenhalt brauchte. Wie immer bei Konservativen blieb auch bei Schäuble
die Klage um den Mangel an Gemeinsinn und die zerfranste Gesellschaft
hilfloses Händeringen.
Die Frage, die er in Büchern und Reden hellsichtig und mit nüchternem
Juristenverstand bearbeitete, lautete: Wie erhalten wir Wohlstand und
Demokratie? Schäuble war ein Denker des Status quo, immer fixiert auf das
pragmatisch Machbare. Er war kein Visionär wie der Sozialdemokrat Erhard
Eppler, der in den 1970er Jahren, mitten in der Hochzeit westlicher
Wachstumseuphorie, begriff, dass Ökologie alles umstürzen und
revolutionieren würde.
Schäuble wirkte knorrig, bescheiden, ernsthaft. Als wir ihn vor ein paar
Jahren im fast herrschaftlich anmutenden Büro des Bundestagspräsidenten im
Reichstag interviewten, gab es Wasser, kein Gebäck. Das war ungewöhnlich.
Auch in Büros unbekannter Abgeordneter stehen bei Interviews immer ein paar
Kekse vom Discounter auf dem Tisch. Ein Zeichen: Willkommen. Bei Schäuble
gab es keine Kekse. Das war wohl die Botschaft: Wir sind nicht zum Spaß
hier.
## Ein überzeugter Konservativer
Er war ein überzeugter Konservativer, aber immer flexibel genug, sein Image
als Law-and-Order-Mann strategisch einzusetzen und den deutschen
Konservativismus vor innerer Verholzung zu bewahren. In den 1990er Jahren
löste er die Verkrampfung zwischen Union und Grünen, indem er Antje Vollmer
als Vizepräsidentin des Bundestags durchsetzte. Er etablierte als
Innenminister nach 9/11 die Islamkonferenz. 2015 hielt er Angela Merkel in
der Flüchtlingskrise den Rücken frei und verordnete der Union „ein
Rendezvous mit der Globalisierung“. Es ist kein Zufall, dass viele Linke,
von Gregor Gysi bis Fabio de Masi, fast warmherzig über ihn reden.
Schäuble respektierte Demokraten, egal woher sie kamen. AfDler gehörten
nicht dazu.
Schäuble verstand besser als viele in der Union die Bedrohung durch den
Klimawandel, weil sich das in sein Weltbild einfügen ließ. Anders als der
Feminismus. Dem begegnete er halb misstrauisch: Er teilte die konservative
Skepsis gegenüber Gleichheitsansprüchen, ein Feld, dessen Bewirtschaftung
man der politischen Linken überlässt.
Schäuble hatte – mit der spektakulär finsteren Ausnahme der Eurokrise –
meist einen klaren Blick auf das, was der Fall ist. In den letzten Jahren
hat er immer wieder vor dem Populismus gewarnt, den er für einen Angriff
auf alles hielt, woran er glaubte: die Demokratie, die Institutionen, die
CDU. Die Konservativen wirken von Frankreich über Österreich, von
Ostdeutschland bis in die den USA ratlos angesichts der
rechtspopulistischen Attacke. Schäuble hat diese Bedrohung früh und präzise
erkannt. Ob Friedrich Merz und Carsten Linnemann das intellektuelle Format
und den strategischen Weitblick haben, dem Rechtspopulismus zu widerstehen,
ist offen. Schäuble fehlt der Union. Gerade jetzt.
Im Alter ist Schäuble, der als Minister auch mal auf offener Bühne seinen
Pressesprecher demütigen konnte, milder geworden. All die Niederlagen,
Verletzungen, Schicksalsschläge, die sich in dieses Leben eingebrannt
hatten, schienen entschärft, versöhnt, aufgehoben. Ein Abschied ohne
Bitterkeit. Am 26. Dezember ist Wolfgang Schäuble mit 81 Jahren gestorben.
29 Dec 2023
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
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