Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Autobiografie Wolfgang Schäubles: Spitzbübische Selbstdeutung
> Hart, aber humorvoll: Die Erinnerungen von Wolfgang Schäuble machen
> spürbar, warum der Fast-Kanzler auch von Gegnern geschätzt wurde.
Bild: Von den meisten seiner Gegner g'schätzt: Wolfgang Schäuble (1942-2023)
Entschuldigen Sie bitte, dass diese Rezension etwas später als das Buch
erscheint. Aber schneller ging’s nicht. Man muss schon ein ziemlich
enthusiastischer Politknerd mit großem historischen Interesse und viel
Freizeit sein, um [1][die 650-seitigen Erinnerungen von Wolfgang Schäuble]
an „Mein Leben in der Politik“ konstant lustvoll durchzuackern.
In manchen Passagen schwirrt einem schnell der Kopf vor lauter
Fraktionsgeschäftsführern, Finanzministertreffen und nächtelangen
Fiskalpaktberatungen. Doch so war sein Leben eben, und wer sich mit
Schäuble durch die Verästelungen der Parteiendemokratie durchbeißt, wird
reich belohnt, findet echte Perlen, ironische Spitzen, ein bisschen
Selbstkritik und einen roten Faden: extrem leidensfähige Leidenschaft für
Macht.
Der bekannteste Fast-Kanzler macht aus seinem brennenden Ehrgeiz und seiner
Eitelkeit keinen Hehl. Er war sehr gerne wichtig – und er nahm viel dafür
in Kauf. Es ist eindrucksvoll zu lesen, wie sich Schäuble 1990 nach dem
Attentat, das zu seiner schweren Behinderung führte, „zurück ins Leben“ u…
schon im nächsten Kapitel „zurück in die Politik“ kämpfte.
Ungewöhnlich drastisch beschreibt er seine Zweifel, seine Angst, in der
Öffentlichkeit aus dem Rollstuhl und aus seiner Rolle als starker Politiker
zu fallen, und sein Bemühen seine Schwächen zu verbergen – auch als er an
Krebs erkrankte.
## Durchhalten und entscheiden
Doch Schäuble hielt durch und war an vielen zentralen Entscheidungen der
jüngeren Geschichte, von der Einheit bis zur Eurokrise, direkt beteiligt.
Aus dieser zähen Nähe zur Macht beziehen Schäubles Memoiren ihren Reiz und
ihre Spannung.
Ohne seinen Rücktritt als Parteichef nach einer Lüge im CDU-Spendenskandal
wäre die von ihm berufene Generalsekretärin Angela Merkel vielleicht nie
oder erst später Kanzlerin geworden. Das Verhältnis zur Nachfolgerin und
Chefin schwankt zwischen Achtung, auch Sympathie für die Person und Kritik
an ihrem zögerlichen Führungsstil.
Ohne Schäuble wäre auch Olaf Scholz vielleicht nie ins Kanzleramt gekommen.
Seinen Einsatz für den absehbar schwächeren Kandidaten Armin Laschet im
Unionsduell mit [2][Markus Söder] erklärt Schäuble ziemlich unverhohlen
mit purem, sturem CDU-Stolz und seiner Abneigung gegen die kraftmeiernde
CSU, die sich von Strauß bis Söder durch das Buch zieht.
Viel lieber erinnert sich Schäuble an seinen Beitrag zur
Bundestagsabstimmung für Berlin als Hauptstadt. „In dieser Frage sagen
viele, was ich natürlich gerne höre, meine Rede habe eine entscheidende
Rolle gespielt“, schreibt er. Weil er diesen Ruhm so sehr genoss, hätten
seine Kinder später spöttisch vorgeschlagen, „ob wir nicht wieder einmal
die Videokassette mit Papas Berlinrede abspielen sollten“.
## Objekt einer Hassliebe
Dieser spitzbübische Witz blitzt immer wieder auf und macht auch erklärbar,
warum kein anderer CDU-Politiker eine solch inbrünstige Hassliebe von
vielen Linksliberalen erfahren hat.
Der Mann, der die unsägliche Unterschriftensammlung gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft auch im Rückblick noch verteidigt, der ohne erkennbare
Not den Einsatz der Bundeswehr im Inland forderte und ohne erkennbares
Mitgefühl die finanzielle Drangsalierung Griechenlands forcierte („Isch
over“), hatte eben immer auch: Neugier auf die Argumente seiner Gegner und
Freude am demokratischen Disput.
Die braven Jasager in den eigenen Reihen bestraft Schäuble mit Verachtung
oder Nichterwähnung. Auch [3][sein Freund Friedrich Merz] kommt eher am
Rande vor. Richtig persönlich wird es nur, wenn Schäuble den Einfluss
seiner Frau Ingeborg beschreibt, die ihn vor seinem Zerwürfnis mit Helmut
Kohl „Feigling“ nannte. Das wirkt nicht eitel, sondern ehrlich, respekt-
und liebevoll. Schon dafür lohnt sich die Lektüre.
1 Jun 2024
## LINKS
[1] /Zum-Tod-von-Wolfgang-Schaeuble/!5979453
[2] /Soeder-bei-Meloni/!6009683
[3] /Friedrich-Merz-auf-dem-CDU-Parteitag/!6008539
## AUTOREN
Lukas Wallraff
## TAGS
Autobiografie
Wolfgang Schäuble
Deutsche Politik
Bundesrepublik Deutschland
Deutsche Geschichte
Kanzlerkandidatur
CDU
Wolfgang Schäuble
IG
## ARTIKEL ZUM THEMA
Söder und die K-Frage: Bitte, bitte, sagt doch Bitte!
29 bis 41 Prozent der Deutschen glauben, dass Markus Söder ein guter
Kanzler wäre, am meisten er selbst. Und was, wenn er es tatsächlich würde?
CDU-Vize Karin Prien über Parteikurs: „Der Zeitgeist ist konservativer“
CDU-Bundesvize Karin Prien verteidigt das neue Grundsatzprogramm der
Partei. Ein Gespräch über Leitkultur und das Grundrecht auf Asyl.
Nachruf auf Wolfgang Schäuble: Ein Denker des Status quo
Wolfgang Schäuble war einer der wenigen Intellektuellen in der Union. Er
verkörperte Toleranz und Engstirnigkeit der bundesdeutschen Politik.
Zum Tod von Wolfgang Schäuble: Der ewige Parlamentarier
Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ist mit 81 Jahren verstorben. Vier
Perspektiven auf eine politische Karriere.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.