# taz.de -- Zum Tod von Wolfgang Schäuble: Der ewige Parlamentarier | |
> Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ist mit 81 Jahren verstorben. Vier | |
> Perspektiven auf eine politische Karriere. | |
☛ [1][Der Wiedervereiniger] (Klaus Hillenbrand) | |
☛ [2][Die „schwarze Null“] (Ulrike Herrmann) | |
☛ [3][„Ich bin kein besserer Mensch“] (Barbara Dribbusch) | |
☛ [4][Konservativ mit Augenmaß] (Jan Feddersen) | |
Der Wiedervereiniger | |
Er hat sie alle überholt. Selbst August Bebel, der große Sozialdemokrat, | |
kam nicht auf eine so lange Zeit als Parlamentarier, damals im Reichstag | |
von Kaiser Wilhelms Gnaden. Bebel gehörte dem Parlament von 1867 bis 1881 | |
und von 1883 bis 1913 an. Wolfgang Schäuble war 51 Jahre lang Mitglied des | |
Deutschen Bundestags, seit 1972 und bis zu seinem Tod. 1972, das war | |
übrigens das Jahr, als die SPD unter Willy Brandt bei den vorgezogenen | |
Bundestagswahlen sagenhafte 45,8 Prozent erhielt. Also wirklich schon sehr | |
lange her. | |
[5][Wolfgang Schäuble] war da gerade 30 Jahre alt geworden. Ein | |
aufstrebender junger Mann aus gutem Hause, wie man damals so sagte. Der | |
Vater, Prokurist und als evangelischer Konservativer der CDU angehörig, war | |
zeitweise Landtagsabgeordneter. So kam es, dass der junge Jurastudent | |
Wolfgang Schäuble schon 1961 der Jungen Union beitrat und später, als | |
andere gegen den Muff der besudelten bundesdeutschen Elite auf die Straße | |
gingen, den das Land regierenden Christdemokraten. | |
Aber nicht der CDU-Abgeordnete Schäuble ist es, der in der politischen | |
Geschichte in Erinnerung bleiben wird, obwohl der gebürtige Freiburger | |
sogar als Bundestagspräsident – und zuletzt ganz selbstverständlich als | |
Alterspräsident – des deutschen Parlaments fungierte. Sondern der Mann, der | |
die deutsche Wiedervereinigung managte und der mit dafür sorgte, dass Bonn | |
als Hauptstadt des westdeutschen Teilstaats durch Berlin als neues, altes | |
Zentrum des Landes abgelöst wurde. | |
Schäuble arbeitete damals unter Bundeskanzler [6][Helmut Kohl] (CDU) in | |
einer schwarz-gelben Koalition als Bundesinnenminister. Deshalb fiel ihm | |
nach dem Fall der Mauer die Aufgabe zu, zusammen mit dem zu Recht ziemlich | |
vergessenen Günther Krause auf DDR-Seite den Einigungsvertrag zwischen den | |
beiden deutschen Staaten zu verhandeln. Der bestimmte, dass sich die DDR | |
auflöste und zugleich der Bundesrepublik beitrat. Eine für diesen Fall | |
eigentlich vorgesehene Volksabstimmung fand nicht statt. | |
Es hat damals nicht an Kritik an diesem Vertrag gefehlt, gerade von links. | |
Manche Menschen in der DDR hofften auf einen dritten Weg, jenseits von | |
Kapitalismus und Staatssozialismus. Viele Zeitgenossen im Westen wiederum | |
konnten schon mit der Begrifflichkeit der Wiedervereinigung nicht allzu | |
viel anfangen. „Droht die Wiedervereinigung?“, fragte damals der Grüne | |
Joschka Fischer besorgt in der taz. Schäuble hat die Politik der raschen | |
Vereinigung immer verteidigt. Dem Spiegel sagte er 2019: „Kohl hat | |
instinktiv richtig gehandelt, ist in Europa achtsam aufgetreten und hat den | |
Menschen hier viel Hoffnung gemacht. Heute könnte man vielleicht sagen, er | |
hat ihnen zu viel Hoffnung gemacht.“ | |
Die Frage, wo Regierung und Parlament künftig ihren Sitz haben sollten, | |
wurde im Einigungsvertrag wohlweislich ausgeklammert, denn zu zerstritten | |
waren Politik wie Volk. Deshalb musste der Bundestag am 20. Juni 1991 | |
entscheiden. Es war Wolfgang Schäuble, der mit seiner Rede wohl den | |
Ausschlag gegen das ursprünglich favorisierte Bonn gab. „Für mich ist es – | |
bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen | |
Bonn und Berlin. In Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands“, sagte | |
der vehemente Berlin-Befürworter. Am Ende stimmten 320 Abgeordnete für | |
Bonn, aber 338 votierten für Berlin. | |
Im selben Jahr gab Wolfgang Schäuble den Posten des Bundesinnenministers | |
auf und avancierte zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Es ist | |
bis heute der machtvollste Posten, den die Union jenseits einer | |
Regierungsbeteiligung zu bieten hat. Und Schäuble, der seine Karriere bis | |
dahin zuallererst Helmut Kohl zu verdanken hatte, blieb der Mann, auf den | |
sich der 1990 wiedergewählte Bundeskanzler verlassen konnte, in Details wie | |
bei den ganz großen Themen. | |
Kohl wusste, was er dem getreuen Schäuble zu verdanken hatte. Erinnert sei | |
hier nur an die Revolte von Heiner Geißler und Lothar Späth gegen den | |
CDU-Chef im Sommer 1989, als niemand den Fall der Berliner Mauer | |
vorausahnen konnte. Damals hatte Kohl den liberalen und wiederborstigen | |
Geißler als CDU-Generalsekretär abgesägt. Der verschwor sich mit dem | |
Baden-Württemberger Späth, auch eine gewisse Rita Süssmuth soll damals mit | |
von der Partie gewesen sein. Doch Kohl – und sein Verbündeter Schäuble – | |
beendeten den Spuk noch vor dem Bremer Parteitag. | |
So schien die Macht Ende der 1990er Jahre auf Wolfgang Schäuble quasi wie | |
von selbst zuzulaufen, zumal Kohl zunehmend Verschleißerscheinungen bei | |
seiner ewigen Kanzlerschaft zu zeigen begann. „Zu gegebener Zeit“, so Kohl | |
1998, werde Schäuble sein Nachfolger im Kanzleramt werden. Der damalige | |
bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) assistierte, Schäuble sei | |
für „jedes herausragende Amt in der deutschen Politik qualifiziert“. | |
Dummerweise aber wollte Kohl es 1998 noch einmal selbst wissen – und verlor | |
die Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder (SPD). Das war’s mit der | |
Kanzlerschaft für Schäuble. | |
Der nächste Schlag ereilte ihn im Zug der CDU-Parteispendenaffäre. Zwar | |
durfte sich Schäuble nach Kohls Abgang als CDU-Vorsitzender sonnen, doch im | |
Zug der nie aufgeklärten Affäre um die schwarzen Kassen der Union ging | |
seine Autorität verloren. Eine 100.000-Mark-Spende eines bekannten | |
Waffenhändlers, von Schäuble verwaltet, brachte ihn um Amt und Würden. Erst | |
da, als es ihm nichts mehr nützte, brach Schäuble mit Kohl. Von einem | |
„Machtkampf“ bis zur „Vernichtung“ seiner Person sprach Schäuble spät… | |
Seine Nachfolgerin wurde eine aufstrebende Politikerin aus dem Osten, der | |
die alte Garde der West-CDU nicht viel Vertrauen entgegenbrachte: Angela | |
Merkel. | |
Schäubles Karriere war damit nicht beendet. Er wurde erneut Innenminister | |
und von 2009 bis 2017 Finanzminister. Aber die höchsten Staatsämter blieben | |
ihm verschlossen. 2004 sorgte Merkel dafür, dass nicht Schäuble neuer | |
Bundespräsident wurde, sondern [7][der später eher unglücklich agierende | |
Horst Köhler]. Schäuble aber erklärte später, auf den Posten gar keinen | |
großen Wert gelegt zu haben. Das kann man glauben oder auch nicht. | |
In einem seiner letzten Interviews sprach Schäuble im Oktober über seine | |
Partei, die CDU: „Das C im Namen der CDU drückt aus, dass wir Politik für | |
den Menschen machen, so wie er ist, und nicht wie er sein sollte“, sagte | |
er. Am 26. Dezember ist Wolfgang Schäuble im Alter von 81 Jahren im Kreise | |
seiner Familie verstorben. | |
Klaus Hillenbrand | |
Die „schwarze Null“ | |
Wolfgang Schäuble war ein überzeugter Europäer. Auf seiner Homepage hieß es | |
gleich ganz vorn: „Wenn es Europa gut geht, geht es auch Deutschland gut.“ | |
Trotzdem war es ausgerechnet Schäuble, der Europa fast zerstört hätte – | |
durch seine engstirnige Sparpolitik in der Eurokrise. Sie hat einen Schaden | |
von Hunderten Milliarden Euro hinterlassen und zugleich die AfD gestärkt. | |
Schäuble war von 2009 bis 2017 CDU-Finanzminister. Kaum hatte er sein neues | |
Amt angetreten, fiel im Frühjahr 2010 auf, dass die drei Eurostaaten | |
Griechenland, Portugal und Irland völlig überschuldet waren. Vor allem | |
Griechenland war ein Problem: Die Staatsausgaben und die Importe lagen viel | |
zu hoch, während die Steuermoral niedrig und die Finanzstatistik zum Teil | |
gefälscht war. Es gab keinen Zweifel, dass sich der griechische Staat | |
reformieren musste. Aber Schäuble übertrieb es mit seiner Besserwisserei. | |
Im Süden Europas, inklusive Frankreichs, wurde er dadurch zum Inbegriff des | |
arroganten Deutschen. | |
Schäuble war Jurist und mit ökonomischen Problemen überfordert. In der | |
Eurokrise agierte er nach dem Motto: Wer Schulden hat, ist schuld. Also war | |
für ihn klar, dass Griechen, Portugiesen, Spanier und Italiener für ihre | |
Kreditberge bestraft und zur Sparsamkeit gezwungen werden mussten. Doch die | |
permanente Kürzungsorgie brachte nichts: Da die Wirtschaft in den | |
Krisenländern einbrach, wurden die Schulden noch größer und nicht etwa | |
kleiner. | |
Vor allem Griechenland erlebte einen beispiellosen Absturz, sodass am Ende | |
etwa 25 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos waren. Im Januar 2015 kam | |
dann die linkspopulistische Syriza an die Macht, weil sie versprochen | |
hatte, den harten Sparkurs zu beenden. Neuer Finanzminister wurde Yanis | |
Varoufakis, der sich an keinerlei diplomatische Konventionen hielt. | |
Unter anderem schnitt Varoufakis heimlich Sitzungen mit, und diese | |
Aufnahmen belegen eindeutig, dass die heutige EZB-Chefin (damals Direktorin | |
des Internationalen Währungsfonds) Christine Lagarde und Schäuble genau | |
wussten, dass die Sparprogramme für Griechenland ein Desaster sind. So | |
räumte Lagarde beim ersten Treffen mit Varoufakis ein: „Sie haben recht. | |
Die Vorgaben können nicht funktionieren. Aber Sie müssen verstehen, dass | |
wir zu viel in dieses Programm investiert haben. Wir können es nicht | |
aufgeben.“ Auch Schäuble sagte ganz offen, dass das Sparprogramm „schlecht… | |
für Griechenland sei. „Es ist nicht gut fürs Wachstum.“ Aber Schäuble ha… | |
längst andere Pläne. Er wollte die Griechen dazu bringen, vorübergehend die | |
Eurozone zu verlassen. „Sie müssen es nicht als einen Grexit sehen“, | |
erklärte er Varoufakis. „Betrachten Sie es als eine Pause.“ Etwa ein Jahr | |
lang sollten die Griechen ihre eigene Währung haben, um abzuwerten und | |
wieder wettbewerbsfähig zu werden. „Danach kommen Sie wieder zurück.“ | |
Schäuble stellte sich den Euro also wie die Drehtür eines Kaufhauses vor: | |
Man tritt ein, wieder aus, und irgendwann wieder ein. Doch so funktioniert | |
die Gemeinschaftswährung nicht. Wären die Griechen zur Drachme | |
zurückgekehrt, und sei es für kurze Zeit, wären sie sofort zum Spielball | |
der Finanzmärkte geworden. Die Spekulanten hätten gegen die Drachme | |
gewettet, sodass ihr Kurs ins Bodenlose gefallen wäre. Griechenland hätte | |
sich dringend nötige Importe wie Öl oder Medikamente nicht mehr leisten | |
können. | |
Zum Glück kam es nicht zum „Grexit“, aber Schäubles Drohung reichte völl… | |
um europaweit Chaos zu stiften und Milliardenschäden zu hinterlassen. | |
Sobald es nämlich denkbar wurde, dass ein Land die Eurozone verlassen | |
könnte, begannen sich die Anleger zu fragen, ob noch andere Eurostaaten | |
gefährdet sein könnten. Also begannen sie, ihre Papiere aus Italien, | |
Spanien und sogar Frankreich abzustoßen, was wiederum die Zinsen für diese | |
Länder in die Höhe trieb. Vor allem Italien war plötzlich dem Bankrott nah, | |
obwohl es solide gewirtschaftet hatte. | |
Doch Schäuble blieb stur. Dabei war seine Position unlogisch: Er war gern | |
Finanzminister eines „Exportweltmeisters“, aber ein Überschuss im | |
Außenhandel ist nur möglich, wenn anderswo ein Defizit existiert. | |
Deutschland lebte davon, dass andere Länder Schulden machten, aber genau | |
diese Schulden wollte Schäuble bestrafen. | |
Internationale Ökonomen waren entsetzt, wie ahnungslos Schäuble in seinem | |
Grexit-Wahn agierte. Der US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman | |
urteilte damals: „Schäuble lebt in einem Paralleluniversum. Niemand glaubt | |
diesen Unsinn in den internationalen Organisationen.“ Da Schäuble die | |
Eurokrise unablässig verschärfte, drängte sich bei vielen Deutschen der | |
Eindruck auf, dass der Euro nicht funktionierte – was Gratiswerbung für die | |
AfD war. 2013 wurde sie als Anti-Euro-Partei gegründet und zog 2017 | |
erstmals mit 12,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein. | |
Die AfD profitierte zudem davon, dass Schäuble auch im Inland rigide | |
sparte. Schäuble hatte die Schuldenbremse zwar nicht erfunden, sondern sie | |
stand schon im Grundgesetz, als er Finanzminister wurde. Aber er glaubte | |
hingebungsvoll an die „Schwarze Null“. Also erhöhte er den Etat auch nicht, | |
als eine Million syrische Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Damit sendete | |
er das fatale Signal, dass sich Deutschland die Zuwanderer nicht leisten | |
kann. Gratis lieferte er die Scheinargumente, mit denen Rechtspopulisten | |
dann Ängste schüren konnten. | |
Schäuble war beliebt bei den Deutschen, aber er hat dem Land und Europa | |
schwer geschadet. Dabei hätte die SPD die Macht gehabt, seine zweite | |
Amtszeit zu verhindern. 2013 kam es zu einer Großen Koalition, und SPD-Chef | |
Sigmar Gabriel hätte das Finanzministerium beanspruchen können. Aber er | |
traute sich das Amt nicht zu. Und so konnte Schäuble als „schwarze Null“ | |
noch vier weitere Jahre agieren. | |
Ulrike Herrmann | |
„Ich bin kein besserer Mensch“ | |
Sechs Wochen lag das Attentat erst zurück, da rollte Wolfgang Schäuble, | |
Bundesinnenminister, in einem blauen Trainingsanzug zu einer improvisierten | |
Pressekonferenz in der Rehaklinik bei Karlsruhe. Er rollte eigenhändig. „Es | |
geht mir den Umständen entsprechend gut. Ich hoffe, so bald wie möglich in | |
Bonn meine Arbeit wieder aufnehmen zu können“, sagte er. Das war im Herbst | |
1990, Schäuble war damals 48 Jahre alt. Ein verwirrter Mann hatte Schäuble | |
mit zwei Schüssen in Kiefer und Rückenmark schwer verletzt, und Deutschland | |
hatte seinen ersten Bundesminister im Rollstuhl. | |
„Ich wollte keine Sonderkonditionen, gerade im Hinblick auf den politischen | |
Wettbewerb“, sagte er Jahrzehnte später dem Berliner Tagesspiegel. Und | |
Schäuble wurde zum Beweis, dass die Behinderung eines Politikers nicht mehr | |
automatisch bedeutet, dass dem Menschen nur noch Schwäche zugeschrieben | |
wird. Im Gegenteil. Schäuble wurde zum Beispiel für Resilienz. Das war noch | |
anders gewesen, etwa in den 30er Jahren in den USA: Die Beinstützen des | |
stark gehbehinderten US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt wurden unter | |
seinen Hosen verborgen, Fotografen durften keine Bilder von Roosevelt im | |
Rollstuhl machen. | |
Schäuble aber räumte selbst einmal ein, dass ihm das Image des Politikers, | |
der einen schweren Schicksalsschlag erlebt und überlebt hat, womöglich | |
sogar nützte. Seine berühmte Rede vor dem Bundestag 1991, wo er für Berlin | |
als künftige Hauptstadt plädierte, sei vielleicht auch deswegen so gut | |
angekommen, weil er damals „im Rollstuhl noch viel erbarmungswürdiger“ | |
ausgesehen habe als heute, sagte er mal in einem Fernsehinterview. Diesem | |
blassen, schmalen Mann im Rollstuhl traute man nichts Unedles zu, er wirkte | |
visionärer als die Bonn-Verfechter, die an Pendlerstress und Umzugskosten | |
durch eine mögliche Verlagerung der Hauptstadt dachten. Schäuble aber | |
wollte nie einen moralischen Bonus wegen seiner Behinderung. Diese habe ihn | |
„nicht zu einem besseren Menschen“ gemacht, sagte er einmal. Was wohl auch | |
stimmte. | |
Barbara Dribbusch | |
Konservativ mit Augenmaß | |
Was genau das sein soll, „konservativ“, hätte Wolfgang Schäuble auch nicht | |
in mathematischer Präzision sagen können. Die CDU, seine politische Heimat, | |
sei eine Partei, die sich aus christlichen, soziallehreartigen, liberalen | |
und auch wertkonservativen Gehalten speise – und aus den Lehren der | |
nationalsozialistischen Verhältnisse geboren worden sei. Eine politische | |
Formation, die Maß und Mitte, jedenfalls aber keine „Übertreibung“ zu | |
vertreten habe. Die Union, so der seine Partei viele Jahrzehnte mitprägende | |
Politiker, habe den Fortschritt, das Andere, das Neue zu moderieren, nicht | |
das Moderne anzustoßen. Er selbst entstammt besten bürgerlichen | |
Verhältnissen aus Freiburg, Breisgau, hineingewachsen in eine Familie | |
honoratiorenhafter Bürgerlichkeit, fern aller Armut in welcher Hinsicht | |
auch immer, in eine politische Sphäre beruflicher Wege, die auf Aufstieg | |
orientiert sind, auf gediegene Karrieren, die nicht auf Volkstribunalität | |
setzten, auf Charisma und politische Egozentrik. | |
Sondern auf das, was karikaturesk am Baden-Württembergischen gern als | |
„Schaffe, schaffe, Häusle baue“ verstanden wird. Solide Architekturen in | |
jeder Hinsicht, familiär und politisch. Nicht umsonst verstand sich dieser | |
Politiker, sei es gegenüber den früheren Bundeskanzlern Helmut Kohl als | |
auch Angela Merkel, als „loyal“, was nicht als Untertänigkeit | |
missverstanden werden durfte. Schäuble galt in seinem Milieu schon fast als | |
gelegentlich charakterlicher Grenzfall, weil er – der unbedingten Ehrgeiz, | |
intellektuell wie politisch, von seinen Umfeldern verlangte – scharf und | |
schroff werden konnte, wenn da einer nicht auf der Höhe des | |
(beispielsweise: intellektuell) Verlangten sich bewegte. | |
Er war Demokrat durch und durch. Ein bundesdeutscher Demokrat, der kaum | |
mehr fürchtete als das, was aktuell politisch die Sache ist und bleibt: | |
eine Partei wie die AfD, die wesentlich im Trüben des rechten | |
Bevölkerungsspektrums fischte, deren Ressentiments, Vorstellungen und | |
Fantasien noch bis weit in die nuller Jahre von der Union (geringer, aber | |
doch auch von der SPD) programmatisch und politisch mit bewirtschaftet | |
wurde. Schäuble hatte diesen Rechtspopulismus immer für integrierbar | |
gehalten in die, wie man über die Empirien der Soziologen Steffen Mau und | |
Thomas Biebricher weiß, vier Fünftel des bundesdeutschen Mainstreams, der | |
für extremistischen Schutt nichts übrig hat. | |
Schäuble, so musste man ihn verstehen, hielt den Aufstieg der AfD auch | |
(nicht nur) für ein Resultat der asymmetrischen Wahlkämpfe seiner Partei | |
unter Kanzlerin Merkel, auf ihre diskursiv für unnötig gehaltene Erregung | |
im Stile von „Sie kennen mich“! | |
Schäuble mochte Disput, er schätzte den Streit, ob mit den Sozialdemokraten | |
oder den Grünen, weil er demokratiefördernd ist, weil er Standpunkte klärt | |
und eben politische Atmosphären klärt. Er ließ sich auch gern, | |
beispielsweise, zum taz-Kongress einladen, 2009, als er auf dem Podium mit | |
Jürgen Trittin unter anderem zu den ersten schwarz-grünen | |
Koalitionsüberlegungen ausbrachte, am liebsten alliiere seine Union in | |
einer Koalition mit sich selbst – da gäbe es genug Stoff im Dissens. Was | |
auffiel: wie umgänglich Wolfgang Schäuble war, wie sehr er darauf achtete, | |
dass die Helfenden, die ihn, den im Rollstuhl sich Bewegenden, auf jede | |
Unebenheit hinwiesen, von ihm mit mehr als jovialer, mit größter | |
Herzlichkeit behandelt wurden. „Seien Sie vorsichtig“, rief er den Leuten | |
vom Sicherheitsdienst zu, „der Boden kann uneben sein!“ | |
Mit größter Freude sprach er über Parlamentarier, die sich nicht als | |
Abgestellte ihrer Parteien empfanden, sondern als solitäre Akteure etwa auf | |
den Positionen des Bundestagspräsidiums saßen. Petra Pau fand er mehr als | |
respektabel, sowieso Antje Vollmer, deren Partei, die Grünen, ohnehin. Kein | |
„Wunschpartner“, so äußerte der Unionsmann immer wieder, aber eine Partei, | |
mit der sich Politik machen ließ. Sozialdemokraten gehörten für ihn | |
selbstverständlich zum verfassungspatriotischen Setting, Feindschaftliches | |
war ihm politisch fremd – es ging ihm darum, im politischen Gegner zu | |
erkennen, was ihn erfolgreich macht. | |
Er wird fehlen, zumal und im Konkreten besonders, wenn im kommenden Herbst | |
in Thüringen nur eine Koalition aus Linkspartei und Union möglich wäre, um | |
sich dem Gift der AfD zu entziehen: Er hätte vermitteln können, dass Bodo | |
Ramelow ein reschpektabler Mann sei – und seine Partei zwar nicht die Union | |
sei, aber doch demokratisch, also stubenrein. | |
Im Übrigen diskutierte er nicht darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre | |
oder nicht. An Tatsachen lasse sich nicht deuteln, so sein Credo. | |
Rassismus, diese kleine Münze von Engstirnigen, war ihm, ausweislich aller | |
getätigten Äußerungen, fremd. Konservative könnten die Welt nicht anhalten, | |
aber sie können verständlich machen, wie ein gemeinsames Leben in Änderung | |
mit „Augenmaß“ gehen könnte. | |
Von ihm konnten Linke lernen, politisch bei sich zu bleiben, also dem | |
Denken in Freund-Feind-Schemata zu entkommen, aber auf das Eigene zu | |
beharren, um so erst Politik, linkerseits immer mit dem Anspruch, die | |
Verhältnisse mehr als nur in Maß und Mitte zu halten, zu ermöglichen. | |
Jan Feddersen | |
27 Dec 2023 | |
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