# taz.de -- Tag der Deutschen Einheit: Die Unsichtbaren der Einheit | |
> Am Tag der Deutschen Einheit wird die Wiedervereinigung von West- und | |
> Ostdeutschland gefeiert. Migrantenverbände kritisieren eine weiße | |
> Sicht auf die Ereignisse. | |
Bild: Für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund verlief die Wiederverein… | |
Berlin taz | Der 3. Oktober markiert das Ende der deutschen Teilung und die | |
Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. Was dabei oft vergessen | |
wird: Die deutsche Einigung ist nicht nur eine Geschichte von Ost und West, | |
sondern auch eine Geschichte der Migration, der Vielfalt und des | |
kulturellen Austauschs. | |
Denn während [1][der Zeit der Teilung lebten sowohl in der Bundesrepublik | |
Deutschland (BRD) als auch in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)] | |
Millionen von Menschen mit Migrationshintergrund, die einen entscheidenden | |
Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau und Wohlstand beider Staaten leisteten. | |
In der BRD waren es unter anderem die türkischen „Gastarbeiter“, die | |
angeworben wurden, um in der Industrie, vor allem in Fabriken und im | |
Bergbau, zu arbeiten. In der DDR wurden diese Menschen „Vertragsarbeiter“ | |
genannt, sie kamen vor allem aus sozialistischen Bruderländern wie Vietnam | |
oder Mosambik. | |
In der Geschichte des Tags der Deutschen Einheit werden diese Perspektiven | |
häufig vergessen. Um sie zu verstehen, muss zunächst der Tag des Mauerfalls | |
betrachtet werden, der aus migrantischer Perspektive durchaus anders erlebt | |
wurde als von der weißen Mehrheitsgesellschaft. | |
## Einwanderer gehören zur deutschen Geschichte | |
[2][Es ist der 9. November 1989, im leichten Licht der Straßenlaternen | |
sieht man das Brandenburger Tor]. Doch nur zur Hälfte, denn davor steht die | |
Berliner Mauer. Noch. Die 155 km lange und 3,6 Meter hohe Mauer ist | |
umzingelt von Menschen. Sie sind überall. Auf der Mauer, neben der Mauer. | |
Aus Ost- und Westberlin. Die 25 Grenzübergänge, die 186 Überwachungstürme | |
sind nun Geschichte. Sie soll nicht nur 400 Millionen Mark, sondern auch | |
251 Menschenleben gekostet haben. | |
Und jetzt ist sie weg, nach 28 Jahren. Deutschland ist wieder vereint. Zwar | |
noch nicht offiziell, aber die Grenzen sind offen. Die Ostdeutschen fahren | |
in der Nacht und auch noch in den nächsten Tagen mit ihren Trabis nach | |
Westberlin. Hupend, feiernd, aus allen Richtungen: über die Glienicker | |
Brücke kommen sie, die Bornholmer Straße und den Checkpoint Charlie. | |
So beschreibt es der türkische Autor Gökhan Duman in seinem Buch „Die | |
Hauptstadt der Anderen“ (Ötekilerin Başkenti), in dem er vor allem die | |
türkische Diaspora behandelt. Er erzählt auch von einem Slogan, der durch | |
die Straßen von Berlin schallt: „Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!“ | |
Eine Ableitung, die von der DDR-Bürgerrechtsbewegung stammt und | |
ursprünglich „Wir sind das Volk“ lautete. Heute ist der Slogan auf | |
rechtsextremen Demonstrationen zu hören. | |
[3][Die Westberliner heißen die ersten Flüchtlinge der Bundesrepublik | |
mit wehenden Deutschlandfahnen willkommen]. Sie werden bejubelt, beklatscht | |
und umarmt. Auch von den türkischen Gastarbeitern, die seit 1961 in Berlin | |
eine neue Heimat gefunden haben. Auch sie feiern die Wiedervereinigung von | |
Deutschen und eben Deutschen. Von Ost und West. Die neue deutsche Einheit. | |
Auch sie wollen ein Teil dieser Wiedervereinigung sein. Denn wirklich | |
niemand wollte dieses große Ereignis verpassen. | |
## Die türkischen Gastarbeiter bejubeln die Ostdeutschen | |
Duman erzählt von türkischen Mitbürgern, die ihre privaten Autos zu | |
Sammeltaxen umfunktionierten. Es waren vor allem die Kreuzberger Türken, | |
die die Ostberliner kostenlos nach Westberlin fuhren und ihnen eine | |
Straßenführung durch Kreuzberg gaben. Sie waren auf den Straßen, verteilten | |
schwarzen Tee in den traditionellen, kurvigen Teegläsern, um die | |
Ostdeutschen in Westberlin willkommen zu heißen. | |
Einer dieser Kreuzberger Türken erzählte am 14. November 1989 dem | |
türkischen Journalisten Ali Haydar Yurtsever von der Zeitung Milliyet | |
Folgendes: „Diese Menschen haben kaum etwas. Sie haben uns erzählt, was sie | |
alles durchmachen mussten, um ein Auto und ein Haus zu bekommen. Wir haben | |
sie zu uns eingeladen, ihnen Tee angeboten. Und sie erzählten uns, dass sie | |
noch nie in ihrem Leben Bananen gegessen hätten. Stellen Sie sich das vor.“ | |
„Als die Mauer fiel, waren die türkischen Immigranten die größte Minderheit | |
in Berlin und in Deutschland. Die Wiedervereinigung hat vieles verändert, | |
doch es änderte sich nichts an der Tatsache, dass die türkischen | |
Gastarbeiter weiterhin die größte Minderheit in Berlin und Deutschland | |
blieben“, erklärt der Dokumentarfilmemacher Can Candan in seinem Film | |
„Duvarlar“ (Mauern) aus dem Jahr 1991. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung | |
und 30 Jahre nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen. | |
## Ein Tag der deutschen Vielfalt wird gefordert | |
Der Film zeigt die Hoffnungen und Ängste der Menschen, die während und nach | |
der Wiedervereinigung in Deutschland lebten. Und wie sie sich nach Jahren | |
der Unsichtbarkeit in dieser neuen, wiedervereinten Gesellschaft fühlten. | |
Es wurde klar, dass die Wiedervereinigung nicht nur eine Frage der | |
Integration von Ost und West war, sondern auch eine Frage der Anerkennung | |
der Migranten, die schon lange in beiden Teilen des Landes gelebt und | |
gearbeitet hatten. | |
Die Stimmen der Migranten aus dieser Zeit verdeutlichen, dass die „deutsche | |
Einheit“ für viele von ihnen keine Verbesserung ihrer Lebenssituation | |
bedeutete. Viele fühlten sich trotz ihrer langjährigen Präsenz in | |
Deutschland immer noch als Außenseiter. Und wurden auch so behandelt: Eine | |
der im Film Duvarlar interviewten Personen, dessen Name nicht genannt wird, | |
erzählt, wie die türkischen Jugendlichen in Kreuzberg die Wiedervereinigung | |
feiern wollten. Sie waren aufgeregt und freuten sich, wie alle anderen | |
auch, bis ihnen gesagt wurde: „Das ist unser Fest, das wir gerne unter uns | |
feiern möchten. Ihr gehört nicht dazu. Stört uns nicht.“ | |
Am Tag der offiziellen Wiedervereinigung war für die meisten | |
Einwanderfamilien die Zeit des Jubels vorbei. Für sie bedeutete die Einheit | |
Arbeitslosigkeit und zunehmenden Rassismus. Menschen, die gekommen waren, | |
um die deutsche Wirtschaft anzukurbeln und die wenige Monate zuvor ihre | |
neuen Mitbürger freudig begrüßt hatten, wurden zunehmend ausgegrenzt. | |
Ihre Geschichte ist auch die Geschichte Deutschlands. Diese Menschen sind | |
bis heute ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft, doch ihr | |
Beitrag und ihre Existenz wurden lange Zeit marginalisiert. Bereits seit | |
einigen Jahren fordern Migrantenverbände, wie das Netzwerk „neue deutsche | |
Organisationen“, daher neben dem Tag der Deutschen Einheit auch einen Tag | |
der deutschen Vielfalt für die Einwanderungsgesellschaft. Der | |
Zusammenschluss von rund 170 postmigrantischen Organisationen kritisiert, | |
dass dieser Tag bis heute aus einer rein weißen Sicht gefeiert wird – und | |
die Arbeit der Einwanderer unsichtbar gemacht wird. | |
3 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Derya Türkmen | |
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