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# taz.de -- Abschlussbericht der Wende-Kommission: Die Fahnen kamen zuerst
> Die Kommission will mit Deutschlandfahnen das Zusammengehörigkeitsgefühl
> zwischen Ost und West stärken. Dabei gab es daran nie einen Mangel.
Bild: Begrüßung der Westdeutschen mit Fahnen am ersten Weihnachten nach der W…
Es war schon dunkel, als ich nach Hause ging. War noch unterwegs gewesen,
mit Freunden, Bekanntschaften eher. Durch die Innenhöfe der Betonburg in
Rostock, wo ich aufgewachsen bin. Von verschiedenen Ecken war das Gegröle
zu hören. Keine Party, eine Machtergreifung. Fahnen, Fäuste, Feuerwerk.
Die Gruppe, fünf oder sechs Leute, wollte noch weiter, durch irgendeinen
Durchgang in den nächsten Hof zwischen diesen Plattenbauten, und ich wollte
nach Hause. „Würde an deiner Stelle auch gehen“, sagte einer. Gar nicht
unfreundlich, gar nicht drohend, einfach nur feststellend, wie es eben war.
Die Claims abgesteckt, es war deren Nacht, deren Hof. Zugelassene Gäste gab
es jede Menge. Die Zecke aber ging besser nach Haus. Hatte es auch nicht
weit, ist nichts passiert. Dieses Mal. Danach hatten die noch viele Nächte.
[1][Drei Jahrzehnte nach diesem 3. Oktober 1990] legte die Kommission „30
Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ an diesem Montag
[2][ihren Abschlussbericht vor]. 2019 von der Bundesregierung eingesetzt,
sollte das Gremium den Einheitsprozess bilanzieren und
Handlungsempfehlungen für die kommenden Jahre geben. Dem Bundeskabinett war
nämlich ein Problem bewusst geworden: „Trotz der eindrucksvollen Erfolge
stellt der Stand der deutschen Einheit nicht alle Bürgerinnen und Bürger
gleichermaßen zufrieden. Vor allem in Ostdeutschland …“
Ja, da haben sie den Finger tief in der Wunde, direkt am lebenden Puls der
Zeit gewissermaßen. Ostdeutschland. Immerhin ist nicht mehr die Rede von
den „fünf neuen Ländern“, aber fremdeln tun sie doch noch immer ein
bisschen.
Mögliche Gründe nennt der Kommissionsbericht einige. In soziologischer
Schönschrift wird von den „schwierigen Jahren der Transformation“
geschrieben. „Brutale flächendeckende Deindustrialisierung“ hätte
vielleicht zu hart in dieser Festschrift geklungen. Aber wir wissen ja
alle, dass genau das gemeint ist. „Vor allem in Ostdeutschland“, ach ja,
dort, „schmerzen bis heute die Wunden der SED-Diktatur.“ Wie ein Furunkel
tun sie weh. Deshalb soll nach Empfehlung der Kommission auch die
Lebensleistung der Menschen in den letzten 30 Jahren in den Mittelpunkt
gerückt werden. Eine Salbe auf die wunde Stelle. Über die Lebensleistung
der Ostdeutschen vor 1990 haben wir jetzt auch wirklich lange genug
geredet, sollen sie doch in ihren Kleingärten sitzen, die Renten versaufen
und sich Geschichten aus der DDR erzählen.
Die Sichtbarkeit der Ostdeutschen mit Lebenseintritt ab 1990 soll erhöht,
Begabte aus dem Entwicklungsgebiet sollen besonders gefördert und
Begegnungen für ein besseres Verständnis zwischen Ost und West ermöglicht
werden. Ein Rest Sozialdemokratie (der Ex-SPD-Chef und [3][freundliche
Musterossi Matthias Platzeck] steht dem Gremium vor) findet sich in dem
Vorschlag, die Sozialpartnerschaft im Osten in besonderer Weise zu stärken.
Wer Tariflohn verdient, findet sich vielleicht besser aufgehoben in diesem
Land: Durchaus nicht der dümmste Gedanke. Der nämlich ist der Sektion „Die
Symbole der Demokratie leuchten lassen“ vorbehalten.
„Wer am 3. Oktober erkennbar die Nationalfarben trägt, soll kostenlos (oder
zumindest zu stark reduziertem Tarif) öffentliche Verkehrsmittel benutzen
können.“ Ein positiver Bezug zu den Symbolen von Nation und Demokratie, so
zumindest die Theorie, stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Nur: Ein Mangel an schwarz-rot-goldnen Fahnen und der Bereitschaft, sie
auch vorzuzeigen, scheint nicht wirklich zu herrschen. Auf jeden Fall nicht
in Ostdeutschland. Die Fahnen waren schließlich das Erste, was da war,
schon vor der Einheit. Nicht wenige werden selbst den Fetzen aus der Nacht
vom 2. auf den 3.Oktober 1990 noch immer in Ehren halten. Die Fahne, die
mit dem Feuerwerk kam. Und mit den Fäusten. Die waren nie weg, „trotz der
großen Erfolge“ dieser 30 Jahre.
8 Dec 2020
## LINKS
[1] /9-November-1938-und-1989/!5637314
[2] https://deutschland-ist-eins-vieles.de/kommission/
[3] /Platzeck-ueber-die-Wiedervereinigung/!5600448
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
## TAGS
Deutsche Einheit
Flagge
Wende
Tag der Deutschen Einheit
Diaspora
Gedenken
30 Jahre friedliche Revolution
Mesut Özil
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