# taz.de -- Ostdeutsche Perspektiven nach der Wende: Worüber müssen wir reden? | |
> Rassismus, Selbstbild, SED: Wir müssen anders über den Osten sprechen. | |
> Eine Politikerin, ein Filmemacher, eine Autorin – drei Protokolle. | |
Bild: Weg damit? Aber was bleibt? Reste des DDR-Wappens am Gebäude des Rates d… | |
Petra Köpping, SPD, ist seit 2009 Mitglied des Sächsischen Landtags, seit | |
2014 Sächsische Ministerin für Gleichstellung und Integration. | |
Ich möchte, dass wir Menschen fragen: Warum warst du denn damals in der | |
SED? Viele Menschen in der SED haben Schuld auf sich geladen, und jeder, | |
der Menschen ins Gefängnis gebracht, ihnen geschadet hat, muss dafür zur | |
Verantwortung gezogen werden. Aber ich möchte auch über und mit den | |
Menschen sprechen, die sich in den Institutionen der DDR, in der SED, | |
engagiert haben, weil sie etwas verändern wollten. Das haben wir bisher | |
nicht getan. | |
In der Zeit zwischen 1985 und 1995 wurden große Hoffnungen geboren und oft | |
auch kurz danach wieder zerstört. Es geht in dieser Zeit ganz viel um | |
Verantwortung, Schuld und um die Frage, wer heute zu welchem Thema sprechen | |
darf. | |
Ich bin 1985 noch in die SED eingetreten. Ich dachte, wenn ich was | |
verändern will, dann geht das nur innerhalb dieser Partei. Der Niedergang | |
der DDR war seit Mitte der 1980er in den Köpfen schon klar. Niemand wusste, | |
dass da eine Vereinigung kommt, aber man hat gesehen: Es geht so nicht | |
weiter, es herrschte Endzeitstimmung. | |
Die Leute sind zur Arbeit gegangen, es gab keine Produktionsmittel. Viele | |
haben den ganzen Tag da gesessen und Skat gespielt. Ich spürte wie sie, | |
dass etwas grundsätzlich nicht funktionierte. Eine der wenigen Hoffnungen, | |
die wir hatten, war Besuch aus dem Westen, von Westpolitikern wie Franz | |
Josef Strauß. Wie ich haben viele gehofft: Jetzt bringt der Valuta oder | |
Devisen und dann haben auch wir was davon. Nur kam von diesem Geld bei den | |
meisten nie etwas an. | |
Also wollte ich in der SED etwas ändern und musste dann sehr schnell | |
merken, dass das nicht geht. Wegen jedes kleinen Widerspruchs hatte ich | |
sofort ein Parteiverfahren an der Backe. Für eine Jagd mit SED-Größen habe | |
ich die Lunchpakete gepackt. Da sollte ich natürlich was Besonderes | |
hineintun, Delikatessen, an die die meisten Menschen in der DDR nicht | |
herankamen. | |
Aber ich habe Schinkenspeck reintun lassen, einen Apfel und ein Brötchen. | |
Also das, was alle kaufen konnten, und dafür habe ich ein Parteiverfahren | |
bekommen. Ich habe darüber gelacht. Viele SED-Mitglieder, die so alt waren | |
wie ich, haben zu dieser Zeit oft über die Partei gelacht. Wir haben die | |
Parteigrößen nicht mehr ernst genommen. | |
Dabei war ich eigentlich eine, die sich engagiert hat. Mitte der 1980er | |
habe ich eine ganze Truppe solcher Leute mit in die SED genommen. Die haben | |
gesagt: Wenn du reingehst, dann gehen wir auch mit rein, damit wir was | |
verändern. Dann kam die große Ernüchterung. Unser Weg funktionierte nicht. | |
Das endete damit, dass die SED 1989 nicht Hans Modrow die Führung übergeben | |
hat, sondern Egon Krenz. Modrow galt als Reformer, Krenz stand für ein | |
„Weiter so!“. Da war für alle in der SED, die ähnlich dachten wie ich, die | |
letzte Hoffnung gestorben. Darüber möchte ich sprechen. Ich hoffe, dieses | |
Reden bringt uns in Ostdeutschland mehr zusammen und einer Versöhnung | |
näher. | |
Protokoll: Daniel Schulz | |
*** | |
Nhi Le, ist freie Journalistin, Moderatorin und Speakerin zu feministischen | |
und medienkulturellen Themen in Leipzig. | |
Was ich mir wünsche ist, dass wir eine nachhaltige und anhaltende Debatte | |
über Rassismus und Rechtsradikalismus in Ostdeutschland führen. Warum | |
stoßen rechtsradikale Ideen hier auf so viel Resonanz? Inwiefern tragen, | |
gerade in Sachsen, konservative Parteien zur Normalisierung bei? Warum sind | |
Neonazis hier im Osten so gut vernetzt? Was kann dagegen getan werden? Wie | |
können Betroffene vor rechter Gewalt geschützt werden? Wie muss die | |
Stärkung der Zivilgesellschaft aussehen? Welche Ressourcen müssen dafür | |
bereitgestellt werden? | |
Solch eine Diskussion kann nur geführt werden, wenn von Verallgemeinerungen | |
und einfachen Erklärungen wie dem „Protestwähler“ und Pathologisierungen | |
abgesehen und die starre Abwehrhaltung abgelegt wird. Weder bringt es | |
etwas, den Osten als isolierten braunen Sumpf abzustempeln, noch das | |
Problem Rechtsradikalismus als solches zu negieren. Statt sich über das | |
Image des Ostens zu sorgen, sollte eingesehen werden, dass es keinen | |
„plötzlichen Rechtsruck“ gab, sondern sich die Einstellungen jetzt nur | |
lauter äußern. | |
Tatsächlich sprach ich in den letzten Monaten plötzlich wöchentlich | |
darüber, wie es ist, als Viet-Deutsche in Ostdeutschland aufgewachsen zu | |
sein, über Rostock-Lichtenhagen und Vertragsarbeiter*innen, über meine | |
eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung und immer wieder über den | |
Themenkomplex Rassismus und Rechtsradikalismus im Osten. Zwischen den | |
Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg und dem Mauerfalljubiläum wollen | |
es alle auf einmal ganz genau wissen. | |
Ich bin froh um das Interesse und merke doch, wie ich nur noch | |
zähneknirschend auf jede weitere Veranstaltung, jedes weitere Interview | |
blicken kann. Mittlerweile hat sich immer mehr Erschöpfung und Resignation | |
breitgemacht. Einerseits, weil die dauerhafte Thematisierung mir immer | |
wieder meine eigene Betroffenheit vor Augen führt. | |
Andererseits, weil ich das Gefühl habe, dass es sich doch nur um temporäres | |
und oberflächliches Interesse handelt. Vielleicht wird sich an den | |
bestehenden Verhältnissen ja doch nichts ändern. Was bringt es, kurz mal | |
einen Blick auf derart komplexe Themen zu werfen und den Rest des Jahres | |
wieder wegzuschauen? | |
Auch wünsche ich mir, dass wir mehr über jene sprechen, die sich in | |
strukturschwachen Gegenden unermüdlich gegen Rechtsradikalismus engagieren, | |
und wie man sie unterstützen kann. Antifaschistische Gruppen, einzelne | |
Akteur*innen, zivilgesellschaftliche Initiativen brauchen Solidarität und | |
dürfen nicht diffamiert oder kriminalisiert werden. Sie kämpfen aktiv für | |
eine offene Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund macht es fassungslos, dass | |
das Demokratieförderprogramm der Bundesregierung reduziert werden soll. | |
All dies muss im Fokus bleiben, denn Rassismus und Rechtsradikalismus sind | |
jeden Tag ein Problem – unabhängig von Berichterstattungswellen, Wahlen und | |
Jubiläen. | |
*** | |
Christian Schwochow ist Regisseur und Drehbuchautor. Aktuell im Kino: | |
„Deutschstunde“, Verfilmung des Romans von Siegfried Lenz. | |
Ich habe das Gefühl, dass ich 30 Jahre nach der friedlichen Revolution | |
immer noch viel erklären muss. Dass ich einen Vater hatte, der wegen | |
Republikflucht im Gefängnis saß, und eine Mutter, die aus einer Familie | |
kommt, die an die DDR und seine Versprechungen geglaubt hat. Und dass ich | |
trotz dieser ambivalenten Familiengeschichte eine glückliche Kindheit | |
hatte. | |
Ich habe noch immer das Gefühl, gegen Klischees argumentieren zu müssen. | |
Weil man sich auf Begriffe wie „Unrechtsstaat“ geeinigt hat, ist es kaum | |
vorstellbar, dass das Leben in der Diktatur viel subtiler und komplexer | |
war, als es mit den eigenen Bildern zusammenpasst. Ich will damit nicht die | |
Diktatur kleinreden. Ich glaube nur, dass auch 30 Jahre nach der Wende ein | |
großes Problem in Ost und West ist, dass wir immer noch nicht genug | |
übereinander wissen. Das hat sicher auch mit uns Ostlern zu tun, dass wir | |
einen Opfermythos am Leben erhalten haben, der heute gar nicht mehr so | |
stimmt. | |
Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben zu | |
DDR-Zeiten in vielen Familien nie wirklich stattgefunden hat. Und zwar aus | |
der Haltung heraus, die eigene Biografie verteidigen zu müssen. Das hat | |
auch dazu geführt, dass in vielen Familien unangenehme Fragen nicht | |
gestellt wurden. Damit meine ich nicht, dass alle Kinder und Enkel ihre | |
Eltern und Großeltern fragen müssen, ob sie bei der Stasi waren. Sondern | |
Fragen wie: Wie hat dieses Land DDR 40 Jahre lang funktioniert? Wer waren | |
die Leute, die daran geglaubt haben? Woran habt ihr geglaubt? | |
Von den Westdeutschen wünsche ich mir die Offenheit, die eigenen Bilder zu | |
verwerfen. Es gibt nach wie vor so eine Mentalität von: „Wir sind das | |
bessere Deutschland.“ Das ist etwas ganz Tiefes und das vererbt sich. Es | |
ist Teil meines Alltags, die Leute immer wieder zu nerven und ihnen zu | |
sagen, dass das alles doch komplizierter und in anderen Farben und | |
Schattierungen abgelaufen ist, als sie sich das so vorstellen. | |
In Zukunft sollte mehr über Gemeinsamkeiten von Ost und West gesprochen | |
werden. In Gesprächen erlebe ich häufig, dass es um Abgrenzungen geht. Ich | |
würde mir wünschen, dass man Unterschiede anerkennt und neugieriger | |
aufeinander wird, um vielleicht festzustellen, dass Biografien und Themen | |
ähnlich sind. | |
Sprechen sollte man in diesem Land auch über ein massives Rassismusproblem, | |
das wir nach wie vor kleinreden und das als ostdeutsches Phänomen gesehen | |
wird. Wir dürfen es nicht länger übersehen, dass Rassismus ein | |
gesamtdeutsches Problem ist. | |
Die Erfahrungen, die unsere Generation nach der Wende gesammelt hat, | |
eröffnen so viele Möglichkeiten – das wird oft gar nicht begriffen. Ich | |
hoffe, dass unsere Generation und die Generation der heute 30-Jährigen, die | |
so selbstbewusst und unverkrampft ostdeutsch sind, eine noch größere Stimme | |
in diesem Land bekommen. Ich glaube, dass diese Teilung nicht zu überwinden | |
ist, wenn ostdeutsche Stimmen und Geschichten nach wie vor Randnotizen | |
bleiben. | |
Protokoll: Julia Boek | |
2 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
Julia Boek | |
Nhi Le | |
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