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# taz.de -- Ostdeutsche Mentalität: Altes Gemehr
> Manchmal muss man den Osten erst verlassen und zurückkommen, um zu
> verstehen, was der Osten ist. Eine Welt, die auf dem Teppich bleibt.
Bild: Der frühere Osten: das Badeschiff in der Spree in Berlin
Es gab eine Zeit, da graute mir vorm Zugumstieg auf Heimreisen. Von Berlin,
wo ich zum Studium hingezogen war, ging es mit dem ICE nach Leipzig, von
dort aus weiter mit dem Regionalexpress nach Zwickau. Sobald der Zug gen
Westsachsen losrollte, tönten die Ansagen in breitestem Sächsisch: Für mich
der Sound der Ost-Provinz. Und damit ein Horror.
Mit jener Arroganz, wie sie nur junge Menschen auf Nestflucht draufhaben,
fuhr ich dramatisch kopfschüttelnd in die alte Heimat ein. Eine Art
Möchtegern-„Rückkehr-nach-Reims“-Gefühl zwischen Geithain und Werdau. Nur
dass ich, anders als Didier Eribon, der im gleichnamigen Buch in seine
Front-National-verseuchte Heimatstadt zurückkehrt, keine rechtsradikal
wählenden Verwandten habe. Und auch sonst eine liebevolle Familie, vor der
ich nie ausreißen wollte.
Mein Unbehagen galt der Mentalität, die ich mit 350 Kilometer Abstand
ausgemacht zu haben glaubte. Und die ich blöd fand, sobald ich sie benennen
konnte.
Wie viele, die kurz vor oder nach der Wiedervereinigung geboren wurden,
musste ich Ostdeutschland erst verlassen, um zu realisieren, dass ich aus
Ostdeutschland komme. Und um zu verstehen, was es bedeutet, von Menschen
erzogen und geprägt zu werden, die vorgestern noch in der DDR gelebt haben.
Überhaupt in einem Landesteil groß zu werden, das zwar schon Bundesrepublik
hieß, aber im Grunde in einem seltsamen Transitstadium steckte, weil ein
Systemwechsel eben nicht alle Gewohnheiten hinwegfegt.
## Trickreiche Bürger
Auch wenn es keinen Sinn ergibt, Menschen von Schwerin bis Erfurt eine
kollektive Geisteshaltung zu attestieren, erkannte ich im Berliner Exil
eine Eigenheit als Konstante in meiner Erinnerung und den Erzählungen von
Freunden aus den „neuen Bundesländern“: Es ist eine patente
Fantasielosigkeit, die viele Ostdeutsche zu einen scheint.
Nicht die Art von graubrotiger, hasenherziger Verwaltermentalität, die man
Deutschen gemeinhin zuschreibt. Ich würde bedenkenlos jedem aus meiner
Familie zutrauen, mit einer Büroklammer ein Getriebe zu reparieren. Die DDR
hat trickreiche Bürger hinterlassen.
Das, was ich als Ossi-Denken zu erkennen glaubte, ist das Unvermögen,
vielleicht auch nur der Unwille, utopisch zu denken, sich Nicht-Zustände
und -Orte vorzustellen. Unbescheiden zu sein. Erst im Vergleich zu Freunden
aus Westdeutschland, auch jenen vom Land, fiel mir auf, dass das
Understatement von Ostfamilien den auch in der Westprovinz üblichen
Pragmatismus um Längen schlägt.
Ich dachte an Lehrer, die einen genüsslich auflaufen ließen, wenn man sich
bei der Nutzung von Fremdworten verhob, an meinen Opa, der für alles, was
er wahlweise unverständlich, aufgeblasen oder irritierend fand, die Wendung
„altes Gemehr“ etabliert hatte. Und daran, dass ich als Kind nie „Pipi
Langstrumpf“ gelesen habe, weil meine Oma nicht eingesehen hat, warum man
Kindern Geschichten von einem frechen Mädchen erzählen sollte, das – wie
unrealistisch – allein in einem großen Haus wohnt.
Ich hatte den Ostdeutschen als natürlichen Feind des Visionären ausgemacht,
als Machbarkeitsfetischisten und Geradlinigkeitsextremisten.
In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, ist nichts Oberfläche und
Marketing. Und alles schreit: Bleib! Auf! Dem! Teppich!
## Bescheidenheit als Nährboden
Für Nestflüchterinnen mit großen Träumen ist das natürlich eine Zumutung.
Und bis heute hadere ich mit dem Ost-Understatement. Denn im blödesten Fall
führt es zu Kälte und Härte gegenüber Lebensentwürfen, die vom eigenen
abweichen – und wenn es nur darum geht, dass jemand nach dem Schulabschluss
die Welt sehen will („Muss der feine Herr sich erst in Indien selbst
finden?“). Oder dass manche Frauen eben nicht Mutter sein und arbeiten
wollen („Wo ist das Problem? Wir haben das doch auch geschafft“).
Im allerblödesten Fall kann riesige Bescheidenheit, die das eigene
Anspruchsdenken als Norm setzt, ein Nährboden für viele hässliche Ismen
sein.
Es brauchte einige Zugfahrten, bis ich meinen Frieden mit dem
Ostpragmatismus schließen konnte. Bis ich verstanden habe, dass der Gedanke
an Ungewissheiten und Nicht-Orte vielleicht wenig reizvoll ist, wenn man
das Gefühl kennt oder hat, an einem zu leben. Aber auch: dass die Attitüde
von Auf-dem-Teppich-Bleibern wahnsinnig heilsam sein kann.
## Detektoren für Bullshit
Meine ostdeutschen Verwandten sind Detektoren für Bullshit. Alles Eitle und
Affektierte läuft bei ihnen ins Leere. Sie haben einen siebten Sinn dafür,
Großsprecher zu enttarnen, und keine Scheu, wohlklingenden Unfug als
solchen zu benennen. Manchmal ist das schade, weil Unfug so toll sein kann.
Oft ist es gut.
Wenn ich heute im Zug die erste Ansage auf Sächsisch höre, seufzt da
jedenfalls keine affektierte Stimme mehr in meinem Kopf. Und wenn doch,
meldet sich sofort eine weitere – und blafft: altes Gemehr.
10 Nov 2019
## AUTOREN
Julia Lorenz
## TAGS
30 Jahre friedliche Revolution
DDR
30 Jahre friedliche Revolution
Schwerpunkt Rassismus
30 Jahre friedliche Revolution
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