Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: „Ajde“ heißt „Auf geht’s“
> Aufgewachsen in Nordmazedonien, lebt Andrea Joveski heute in
> Berlin-Lichtenberg. Dort kämpft sie gegen Rechts – und bringt ein Magazin
> heraus.
Bild: Andrea Joveski in ihrem Wohn- und Arbeitszimmer
Andrea Joveski, 30, ist in Berlin geboren, [1][in Nordmazedonien]
aufgewachsen, dann nach Berlin zurückgekehrt. Seitdem kämpft sie. Auch für
ihren Kiez.
Draußen: Aufmärsche und Straßenkämpfe: In den neunziger Jahren war der
Berliner Bezirk Lichtenberg besonders wegen seiner Neonaziszene verrufen.
Aktiv ist diese bis heute. Die bunten Fassaden der Häuser wirken heute aber
freundlich, der Bezirk hat sich gewandelt. Neue Bewohner sind gekommen.
Leute wie Andrea Joveski. Vor zwei Jahren ist sie in ihre Wohnung gezogen.
Später findet sie zufällig heraus, dass sie nur zwei Straßen von dem Ort
entfernt lebt, wo ihre Mutter zu DDR-Zeiten wohnte.
Drinnen: „Frisch gestrichen!“, warnt ein Zettel an der Haustür. Farben, ein
Roller und eine Mini-Soundbox liegen auf der Treppe verteilt bis hoch zu
Joveskis Wohnungstür im obersten Stock. In ihrer Wohnung riecht es nach
frisch gebackenem Brot. An den Wänden hängen Bücherregale aus Obstkisten.
Die alte Holzwerkbank ihres Großvaters, eines Tischlers, ist über und über
mit Papierkram und bunten Stiften bedeckt. Joveski trägt eine Jogginghose.
„Ajde, lass uns auf der Dachterrasse eine rauchen“, sagt sie.
„Ajde“: Wie „Vamos“ auf Spanisch und „Yalla“ auf Arabisch sagen
Mazedonierinnen und Mazedonier „Ajde“ – es bedeutet so viel wie „Auf
geht’s“, „Los“ oder „Vorwärts“. Als Tochter eines jugoslawischen V…
benutzt Joveski „Ajde“ gerne und häufig. „Weil es ein aktives Wort ist�…
sagt sie.
Die Zeitschrift: Ajde heißt auch ihre Zeitschrift, ein Heft, das sie aus
drei einfachen DIN-A4-Blättern faltet, mittig zusammentackert, illustriert
und mit Texten versieht – handschriftlich. Seit Februar bringt Joveski ihre
Zeitschrift monatlich heraus. Es ist ein Heft über ihre Träume und Ziele,
ihre Probleme und ihren Optimismus, aber auch über ihre Jugend. Ein Heft,
in dem sie ihrem Wunsch zu malen nachgeht. Eigentlich ist es ihr Tagebuch
für alles.
Akzeptanz: Durch das Zeichnen will Joveski sich Freiräume schaffen. Räume,
in denen sie nicht beherrscht wird, vor allem nicht von ihrem Vater, über
den sie sagt, er hänge patriarchalen Normen an und halte „den Kapitalismus
für die beste Lebensweise aller Zeiten“. Aufgegeben hat Joveski die
Beziehung zu ihren Eltern allerdings nicht – im Gegenteil: „Über
Entscheidungen zu meinem Privatleben, Beziehungen und Sex diskutieren wir
aber nicht mehr. Wir schweigen oft, aber ignorieren uns nicht.“
Umgebungen: Andrea Joveski ist in Berlin geboren. Als sie drei Jahre alt
ist, zieht sie mit ihrer Familie in die nordmazedonische Hauptstadt Skopje.
Dort geht sie in die Schule, als Jugendliche wird sie Punkerin, besonders
die Musik gefällt ihr. Später macht sie ihren Bachelor als Dolmetscherin
für Deutsch, Englisch und Mazedonisch. „Das, was ich jetzt bin, haben nicht
Schule und Jobs aus mir gemacht, sondern meine Freunde und meine Umgebung“,
sagt sie. Als sie 22 ist, kommt sie mit einem Stipendium des Deutschen
Bundestages wieder nach Berlin.
„Ich hätte meine Hospitanz im Bundestag aber ernster nehmen können“, sagt
sie heute über diese Zeit. Danach zieht sie für ihr Masterstudium in
European Studies nach [2][Magdeburg]. „Ich war geschockt. Eine düstere
Stadt, in der viele Rechte unterwegs sind“, sagt Joveski. Sie erzählt, dass
Mitbewohner und Kommilitonen verbal und körperlich von Rechten angegriffen
wurden. „An der Ecke von meiner WG, direkt im Stadtzentrum, haben sich die
Rechten immer in einem Späti getroffen.“ Sie wollte zurück nach Berlin.
Dableiben: Doch auch in Berlin wohnt sie in einem Bezirk, in dem es
Rechtsextreme gibt. Nicht selten wird Joveski verbal angegriffen, wenn sie
mit ihrem T-Shirt mit dem Schriftzug „Refugees welcome“ oder mit
Antifa-Tasche durch ihren Kiez läuft. „Verpiss dich aus meinem Kiez“, sagt
einer zu ihr – sie widerspricht. Er: „Du Zecke.“ Sie: „Du Scheißnazi.�…
Joveski will sich auf keinen Fall zurückziehen. Sie glaubt zwar nicht, dass
sie mit ihrem T-Shirt ein Umdenken erreicht. Aber sie will die
Willkommensbotschaft in der Öffentlichkeit verbreiten. Ihren Protest bringt
sie auch in ihre Zeitschrift. So zeichnet sie dort ein großes Bierglas mit
einer Brezel. Auf den Bierschaum malt sie einen kleinen Mann, der mit
seiner Waffe sein Bier und seine Brezel verteidigt – „genauso wie rechte
Parteien in Deutschland ihre sogenannte Leitkultur“, sagt Joveski.
Held:innen: „Helden sind meistens Menschen, die durchs Feuer laufen und
Babys retten“, sagt sie. Es gebe aber auch Menschen, die jeden Tag den Mut
aufbringen, das Haus zu verlassen, obwohl sie rassistisch oder sexistisch
beleidigt werden. „Zurzeit sind die Leute Heldinnen und Helden für mich,
die während der Coronakrise rund um die Uhr in den Krankenhäusern
arbeiten“, sagt sie.
Solidarität: Am Frauenkampftag am 8. März war Joveski am Robert-Koch-Platz
an der Berliner Charité. Sie hatte den Ort ausgesucht, weil die Charité als
zweitgrößter Arbeitgeber Berlins das beste Beispiel für das patriarchale
Wirtschaftssystem sei. „Ajde, lass uns solidarisch sein.“ Und jetzt,
während der Coronakrise, seien Pflegekräfte und Krankenschwestern einem
noch größeren Risiko ausgesetzt. „Um feministisch zu sein, reicht deshalb
keine bloße Aktion zum Frauenkampftag. Wir müssen uns ständig für das Wohl
der ganzen Gesellschaft einsetzen, wie auch jetzt in dieser
Krisensituation.“
Arbeit: Zurzeit engagiert sich Jovesk ehrenamtlich bei einem Berliner
Gesundheitsamt. Außerdem will sie sich selbständig machen und einen Verein
gründen, weil sie „Diversität von weißen Deutschen nicht mehr diktiert
bekommen will“. In einem ihrer Hefte zitiert sie die Zeilen des Dichters
und kommunistischen Partisanen Kočo Racin: „Wie ein Tier arbeite dein
ganzes Leben lang, für andere, fremde Eigentümer, für fremde, weiße Gärten,
schaufele dein eigenes Grab.“
Toxische Männlichkeit: Viele Männer sehen nicht ein, dass sie unter ihrer
Geschlechterrolle leiden, glaubt Joveski. Mit ihren Illustrationen will sie
an traditionellen Männlichkeitsbildern rütteln: Eine Zeichnung zeigt einen
Mann, der einen Blumenstrauß im Mund hat, darüber steht: „Zeige deine
Gefühle.“ Eine anderer zeigt eine Blume vor einem Spiegel: „Reflektiere
deine Gefühle offen.“ Sie empfiehlt Männern, Bündnisse und Freundschaften
mit Frauen und queeren Personen zu schließen.
Kaktus: Auf ein Titelblatt der Ajde hat sie einen dicken Kaktus gezeichnet.
Auf der letzten Seite der Zeitschrift erklärt sie, der Kaktus sei das
Symbol für eine Frau mit behaarten Beinen. Warum? „Weil sie der
Gesellschaft ins Auge sticht“, ergänzt sie. Verschiedene Kakteen stehen
auch in ihrem Wohnzimmer, in der Nähe der halb geöffneten Balkontür.
Weitergeben: Ihre Texte schreibt Andrea Joveski überwiegend auf Englisch,
selten kommen auch mazedonische und deutsche Sprüche hinzu. 40 Exemplare
der Zeitschrift gibt es. Ihre Idee ist, dass Menschen sich die sechs
Blätter selbst kopieren und sie dann weitergeben. Ob das funktioniert,
weiß sie noch nicht. „Die Menschen sollen sich bei der Lektüre nicht
amüsieren, sondern sich mit ihren Problemen auseinandersetzen“, sagt sie.
Probleme gäbe es schließlich nicht nur bei den Rechten, sondern auch in der
linken Szene – ihrer potenziellen Leserschaft also.
8 Jun 2020
## LINKS
[1] /Nordmazedonien-nach-EU-Gipfel/!5634642
[2] https://bgrmagdeburg.wordpress.com/
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Rechtsextremismus
Magdeburg
Berlin-Lichtenberg
Nordmazedonien
Schauspielerin
Aussteigerprogramm
30 Jahre friedliche Revolution
Schwerpunkt Landtagswahlen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Politik in Nordmazedonien: Mann mit großen Plänen
Ali Ahmeti will Ministerpräsident Nordmazedoniens werden – mit elf Prozent
der Stimmen. Schon sein Leben lang ist er ein kompromissloser Kämpfer.
Der Hausbesuch: Alles ist Momentaufnahme
Bianca Künzel tanzt, schreibt, gärtnert, spielt auf der Bühne.
Schauspielerin will sie sich aber nicht nennen. Zu Besuch bei ihr in
Düsseldorf.
Exit-Gründer über Neonazis in der DDR: „Niemand wollte das damals hören“
Bernd Wagner von der Aussteiger-Organisation hatte schon in der DDR als
Kriminalbeamter mit Neonazis zu tun. Offiziell gab es die aber gar nicht.
Ostdeutsche Perspektiven nach der Wende: Worüber müssen wir reden?
Rassismus, Selbstbild, SED: Wir müssen anders über den Osten sprechen. Eine
Politikerin, ein Filmemacher, eine Autorin – drei Protokolle.
Freitalerin gegen Rechts: Ja zu Roland Kaiser, Nein zu Pegida
Steffi Brachtel wurde für ihr Engagement gegen rechts ausgezeichnet. Seit
knapp fünf Jahren geht sie fast jede Woche gegen Pegida auf die Straße.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.