# taz.de -- Stereotype über Ostdeutsche: Gegen das Klischee | |
> 30 Jahre nach dem Mauerfall existieren noch immer Vorurteile. Die | |
> Plattform „Wir sind der Osten“ hält mit Porträts dagegen. | |
Bild: Kein vollständiger Durchbruch von Ost nach West | |
Auf den ersten Blick kommt [1][www.wirsindderosten.de] fast wie ein | |
Karriereportal daher. Das schlicht-moderne Layout fasst Steckbriefe mit | |
Foto, Herkunft und Links zu Social Media – und Xing-Profilen. Etwas | |
startupig klingt auch der Slogan „Wir gestalten die Zukunft“. Das wäre | |
nicht verwerflich, bedenkt man, dass noch immer nur 1,7 Prozent der | |
Führungspositionen des Landes Ostdeutsche innehaben. Ein Treffpunkt für | |
Wendegewinner*innen und ostdeutsche Liberalos? Die kürzlich | |
veröffentlichte Plattform ist weitaus mehr. | |
Sie stellt Fragen, für die es bisher kaum Raum gab. Nach dem Einfluss der | |
Herkunft auf das eigene Leben, nach Gefühlen und Wünschen. Sie redet nicht | |
„über“ den Osten, sondern bietet Raum für ostdeutsche Stimmen. Dafür wur… | |
200 möglichst vielfältige Menschen aus dem eigenen Netzwerk befragt, | |
erzählt Christian Bollert. Der Geschäftsführer vom Internetradio und | |
Podcastlabel [2][detektor.fm] ist einer der Köpfe von „Wir sind der Osten“. | |
Er fühlt sich ostdeutsch. | |
Das gilt aber weniger für das ganze Initiator*innen-Team wie für die | |
Befragten. Die Ergebnisse seien erstaunlich ausgewogen ambivalent, erzählt | |
Bollert. Es gibt verschiedene Motive dafür, sich ostdeutsch zu fühlen. | |
Manch eine Person mag sich ihrer Herkunft, andere ihrer kulturellen Praxen | |
verbunden fühlen. Doch auch: „Die, die sich nicht ostdeutsch fühlen, wurden | |
in den letzten Jahren häufig auf ihre Identität angesprochen. Und dann | |
fängst du an, dich damit auseinanderzusetzen. Du wirst in eine Gruppe | |
gesteckt.“ | |
So richtig los werden wir es nicht, das Ostdeutsche. Um die Zukunft zu | |
gestalten, fragt die Initiative nicht nach dem Zugehörigkeitsgefühl zur | |
Bundesrepublik oder Europa, sondern nach einer Auseinandersetzung mit dem | |
Ostdeutschsein. „Das ist vielleicht jetzt im Moment die entscheidende | |
Frage“, sagt Bollert. | |
## Muss der Ossi zufrieden lächeln? | |
Das mag vorerst widersprüchlich klingen – ist es aber nicht. Das lehrt zum | |
Beispiel Fiete Aleksander, der sich laut Steckbrief für die Zukunft | |
wünscht, „dass wir nicht mehr zwischen Ost und West unterscheiden müssen“. | |
Er fühlt sich nicht ostdeutsch, sieht aber durchaus eine anhaltende | |
Chancenungleichheit. | |
Die individuellen Geschichten brechen mit dem Bild des „Jammer-Ossi“, des | |
Passiven, des Ewiggestrigen, des Rechten, des Unmündigen. Sie zeigen nicht | |
nur die viel besprochene „Seele“ des Ossis, sondern auch seinen Kopf. | |
Zeigen ihn in seiner Pluralität, sozialstrukturell wie auch in seinen | |
Ansichten. | |
Das Ziel sei es gewesen, ein „seriöses Abbild der Gesellschaft“ zu | |
schaffen, sagt Bollert. Ein Abbild der ostdeutschen Gesellschaft, das gab | |
es bisher weniger und wirft tatsächlich die Frage auf, wer dazu zählte. Zur | |
Gesellschaft gehören bisher drei Kategorien: Gebliebene, Gegangene, | |
Zurückgekehrte. | |
Im Diskurs um dreißig Jahre Mauerfall geht es nicht mehr nur um die DDR, | |
die Vergangenheit, sondern auch um das Heute, um Ostdeutschland. Das liegt | |
nicht zuletzt daran, dass Wende- und Nachwendekindern lange abgesprochen | |
wurde, sich zu dieser Geschichte zu äußern. | |
Doch sind nicht auch Menschen aus Westdeutschland Teil vom | |
Post-DDR-Ostdeutschland? „Ich kenne Menschen, die 91/92 nach Leipzig kamen. | |
Die haben auch von Nazis auf die Fresse bekommen. Denen würde ich das nicht | |
absprechen“, sagt Bollert. Das Potenzial, auch diese zu Wort kommen zu | |
lassen, hat „Wir sind der Osten“ allemal. | |
Denn mit Veröffentlichung der Website wird auch der Kreis der dargestellten | |
Personen geöffnet. Alle können Teil von dem Projekt werden. Zum Fragebogen | |
können auch Fotos hochgeladen werden. „Zeig uns deine Zähne, wir wollen | |
dich lächeln sehen“, heißt es dort. Auch dreißig Jahren nach der Wende ist | |
nicht allen zum Lächeln zumute. Muss der Ossi zufrieden lächeln oder nicht | |
auch ernsthaft fordern? Auch diese Antwort kann nun mitgestaltet werden. | |
16 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://wirsindderosten.de/vorschau/?avia_forced_reroute=1 | |
[2] https://detektor.fm/ | |
## AUTOREN | |
Pia Stendera | |
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