# taz.de -- Thüringen als „China Deutschlands“: Keine Kolonie im nahen Ost… | |
> Immer häufiger wird Ostdeutschland als Kolonie bezeichnet. Trotz | |
> Machtgefälle zwischen Ost und West ist der Vergleich gefährlich. | |
Bild: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow in einem Autozulieferunterneh… | |
„Wir sind sehr, sehr gute Teilelieferanten, quasi das China des Westens“, | |
erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) am | |
Donnerstag gegenüber der Abendzeitung München. Mit „Wir“ meint Ramelow den | |
Osten und [1][die ostdeutschen Bundesländer]. Jeder dritte Daimler kriege | |
seinen Motor aus Thüringen, sagte Ramelow weiter. Die Unternehmensteuer | |
fließe jedoch nach Stuttgart. „Wenn man den Osten wie eine Kolonie | |
betrachtet, baut sich ein risikoreiches Spannungsfeld auf“. | |
Da ist er, der Vorwurf, der sich rund um die Landtagswahlen in Brandenburg, | |
Sachsen und Thüringen wachsender Beliebtheit erfreut: Ostdeutschland als | |
Kolonie der Bundesrepublik Deutschland. Ostdeutschland als koloniales | |
Opfer. | |
Zugegeben, so ganz unähnlich sind sich der deutsche Osten und der fernere | |
Osten nicht. Die DDR und China, das waren mal [2][sozialistische | |
Bruderstaaten]. Hier teilten viele Ideen von einer gerechten Welt abseits | |
des Kapitalismus und vor allem hatte man gleiche Feinde. Und doch ist der | |
eine, der fernere Osten heute rot, während der ganz nahe Osten sich leider | |
zunehmend braun verfärbt. | |
Klar, Ramelows Bild hängt schief. Wegen der holprigen China-Referenz und | |
weil der Politiker zu Recht kritisiert, dass die wenigen Westdeutschen, die | |
in den Osten kämen, in Führungspositionen landen würden – er aber selbst | |
aus Niedersachsen stammt. Deutlich gefährlicher ist aber der | |
Kolonie-Vergleich. | |
[3][Beim ersten Blick nicht völlig abwegig]: Befremdlich, wie oft an | |
westdeutschen Küchentischen noch 30 Jahre nach der Wende über „die Ossis“ | |
der Kopf geschüttelt wird, als spräche man von pubertierenden Teenagern. | |
„Die Ossis“, das sind innerhalb Deutschlands noch zu oft „die Anderen“,… | |
weniger Klugen, die weniger Wohlhabenden. Stigmen, mit denen oft auch | |
Menschen aus ehemaligen Kolonien konfrontiert sind. | |
Der Begriff der Kolonie ist ein Machtbegriff, der untrennbar mit Rassismus | |
verbunden ist. Die meist weißen Stimmen, die Parallelen zwischen | |
Ostdeutschen und Migrant*innen oder PoC in Deutschland aufzeigen, scheinen | |
selten auf der Suche nach einem solidarischen Bündnis mit | |
Mehrfachdiskriminierten zu sein. Genau deshalb ist das Bild vom Osten als | |
Kolonie gefährlich. Weil es die Erfahrungen derer in den Hintergrund rückt, | |
die tagtäglich unter den Folgen von kolonialer Herrschaft und Gewalt | |
leiden. | |
Einfacher: Wenn Ostdeutschland den Koloniebegriff für sich beansprucht, | |
dann wird in diesem Land eben zuerst über die weißen Ostdeutschen geredet. | |
Danach, mit Glück, sprechen wir vielleicht über nicht-weiße Ostdeutsche. | |
Und am Ende der Mitleidskette stehen die Menschen in den ehemaligen | |
Kolonien des Westens, die sich in Fabriken für „uns Deutsche“ (da sind wir | |
dann wiedervereinigt) die Finger wund nähen. Wenn Ostdeutschland zur | |
Kolonie herbeidiskutiert wird, werden Kolonisierte noch unsichtbarer. | |
Die Frage nach dem kolonialen Charakter der innerdeutschen | |
Ost-West-Beziehung ist also eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Es geht | |
nicht um einen Wettbewerb, wessen Schicksal nun das Schlimmste von allen | |
ist. Es geht um die Reflexion der eigenen Privilegien und um die | |
Anerkennung von Intersektionalität in Identitätsdebatten. | |
Das bedeutet nicht, dass es kein Machtgefälle zwischen West- und | |
Ostdeutschland gibt. Bis heute läuft vieles schief, was | |
Einkommensgerechtigkeit, gläserne Decken und Stigmatisierung betrifft. | |
Diese Probleme müssen benannt werden. Aber bitte mit den richtigen Worten | |
und nicht auf Kosten der Sichtbarkeit anderer Marginalisierter. Auch | |
innerhalb Ostdeutschlands gibt es Unterschiede, wie stark Menschen | |
Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind. Ganz besonders vor dem | |
Hintergrund der Erfolge der AfD muss hier eine Linie verlaufen. | |
Westdeutsche mögen Ostdeutschen gegenüber zwar koloniales Verhalten an den | |
Tag legen. Aber das macht Ostdeutschland nicht zur Kolonie und die Leiden | |
der Ostdeutschen nicht zu den Leiden Kolonialisierter. | |
5 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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