| # taz.de -- Ein Jahr Chemnitzer Ausschreitungen: Debatte ohne Migranten | |
| > Ost und West sind in Paartherapie – das merkt man gerade wieder beim | |
| > Thema Chemnitz. Nur Migranten sind nach wie vor nicht eingeladen, sich zu | |
| > äußern. | |
| Bild: Wie geschlossen ist der Kreis derer, die in Deutschland den Diskurs besti… | |
| Seit Monaten sitzt die Republik mal wieder gemeinsam auf der Couch: | |
| Deutschland Ost und Deutschland West sind in Paartherapie. Nach dreißig | |
| Jahren fühlt es sich an wie eine Zwangsehe. Symptom des Auseinanderlebens: | |
| Die Ostdeutschen wollen einfach nicht so wählen, wie es den Westdeutschen | |
| gefällt. | |
| Außer dem Paar selbst interessiert sich kaum einer für das Thema. Die | |
| Migranten im Land nicht, die Weltgemeinschaft nicht. Aber die Ost- und | |
| Westdeutschen wühlen unbeirrt in ihren Kränkungen. „Aufarbeiten“ heißt so | |
| ein Verhalten hierzulande. [1][Ein Spiegel-Titel mit „So isser, der Ossi“ | |
| ist da schon die nächste Re-Traumatisierung]. „Geht gar nicht“, wie es hier | |
| zu so vielem heißt. | |
| Für so manchen Migranten wäre ein Spiegel-Titel, der sich seitenlang mit | |
| ihrer „Identität“ befassen will, eine Freude. Den Anspruch, | |
| Migrantenklischees hinter sich zu lassen, haben die meisten nicht mehr. Man | |
| ist schon froh, wenn man nicht als kriminell oder bildungsbehindert | |
| dargestellt wird. Mehr Analyse ist nicht. | |
| Die Ost- und Westdeutschen hingegen porträtieren sich gegenseitig zu Tode. | |
| Wechselwähler im Osten? Nein, so was? Bitte sofort den Reporter schicken! | |
| Alle sprechen von schwacher Infrastruktur im Osten. | |
| ## Jahrzehnte von fremden Hintern abgesessen | |
| Ich bin mein ganzes deutsches Leben lang nicht in so modernen Bahnen | |
| gesessen wie in Leipzig, Dresden und Weimar. Im Westen fahren diese | |
| verbrauchten Dinger, in denen man im Sommer freiwillig steht, weil die | |
| Sitzpolster abgesessen sind von Jahrzehnten fremder Hintern. Es ist nicht | |
| alles zurückgeblieben im Osten. So wie es im Westen Infrastrukturhöllen | |
| gibt. | |
| Unsäglich wurde die Paartherapie Ost und West allerdings erst diese Woche, | |
| Rund um das Thema Chemnitz. Endlich liegen Beweise vor: [2][Rechtsextreme | |
| verabredeten sich in Chats, um Migranten zu „jagen“]. Man höre und staune: | |
| Weder andere Ossis, noch andere Wessis wollten sie jagen, sondern jene, die | |
| Rechtsextreme nun einmal als Ausländer bezeichnen, weil sie nicht aussehen, | |
| wie Rechtsextreme sich Deutsche vorstellen. | |
| Erst ein Jahr später liegen die Chats vor. Warum? Ist das bei all dem | |
| Überwachungsspielraum, den sich Sicherheitsbehörden inzwischen erkämpft | |
| haben, hinnehmbar? Einschlägig bekannte Rechtsextreme verabreden sich zum | |
| „boxen“ von „Kanacken“, und die Öffentlichkeit wartet ein Jahr auf Bew… | |
| Jetzt müsste es Interviews, Reportagen und Titelseiten mit People of Color | |
| geben, die gefragt werden: Wie lebt ihr in diesem euren Land, in dem ihr | |
| trotz NSU und der gelobten Besserung noch immer nicht sicher auf die Straße | |
| könnt? Gleich, ob Ost oder West – der NSU tötete auch in Nürnberg und Köl… | |
| Doch was geschieht? Man diskutiert, ob „Jagd“ wirklich „Hetzjagd“ meint. | |
| Befragt werden linksliberale Deutsche (die natürlich „Hetzjagd“ sagen) und | |
| rechtsnationale Deutsche (die natürlich „Jagd“ sagen). | |
| Nur einer wird wieder nicht befragt, als gäbe es eine Art Gesetz, das | |
| lautet: Betroffene befragt man nicht, wenn sie Teil einer migrantischen | |
| Minderheit sind. Vielfalt gefährdet schließlich den Zusammenhalt. Kein | |
| Witz. | |
| ## In Deutschland ist Ignoranz Alltag | |
| In Deutschland braucht der brennende Amazonas zwei Wochen, um wahrgenommen | |
| zu werden. Verhandlungen über das Bauen von Atombomben im Iran gehen so gut | |
| wie unter; Ignoranz ist Alltag, vor allem für internationale Themen. Lieber | |
| wird krampfhaft über Identität, Kultur und Zusammenhalt diskutiert. Und | |
| doch leistet man sich gerade im Inland blinde Flecken dieses Ausmaßes. Die | |
| Zukunft ist mit Debatten über Ost und West allein nicht zu gestalten. | |
| Das „deutsche Wir“ von heute und morgen ist keines zwischen Ost und West, | |
| Linksliberalen und Rechtsnationalen. | |
| Migrant*innen sind nicht stumme Opfer. Sie sind nicht Objekte, über die | |
| sich linke oder der rechte Deutsche ohne Migrationshintergrund profilieren | |
| können. Linksliberale sprechen wohlmeinend für Minderheiten, aber als Teil | |
| einer bürgerlichen Elite, die – wenn man ehrlich ist – selten auf Augenhö… | |
| mit Migranten verkehrt. Rechtsnationale missbrauchen derweil die | |
| Eingewanderten, um sich als Retter „des Volkes“ zu inszenieren. | |
| Beide versagen gleichermaßen, weil sie nach wie vor so tun, als wären sie | |
| „das Volk“. | |
| Ost und West sollten jetzt mal ihre Paartherapie beenden und sich der | |
| Gegenwart widmen. Sie beißt nicht. Migranten beißen auch nicht. Während das | |
| alte deutsche Paar selbsttrunken analysiert, stopfen wieder einmal zig | |
| Einwanderer die schlecht bezahlten Löcher auf dem deutschen Arbeitsmarkt – | |
| nur hören und lesen tut man von ihnen fast nichts. | |
| Jagoda Marinić ist als @jagodamarinic bei Twitter unterwegs | |
| 28 Aug 2019 | |
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