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# taz.de -- Kulturszene in Chemnitz: Keine politische Streitkultur mehr
> Die Wirtschaft wird’s richten, der Feind steht links. Die Probleme in
> Sachsen haben mit der CDU zu tun, sagen Chemnitzer Musiker und
> KünstlerInnen.
Bild: Rote Ampeln für Sachsen? Die Stadt Chemnitz tut etwas gegen Sachsens sch…
Chemnitz taz | Chemnitz wirkt auf interessante Weise unfertig, zersiedelt.
Man fühlt sich an nordenglische Stahlstädte erinnert. Ruß und Dreck sind
allerdings längst verschwunden aus „Sächsisch-Manchester“. In der
Innenstadt, auf der zentralen Straße der Nationen, reihen sich Betonkästen
und Verwaltungsgebäude im Zuckerbäckerstil an das neogotische Rathaus und
eine Mall, die in den nuller Jahren eingeweiht wurde. „Die Straßen sind
Landebahnen, für Urbanität eigentlich kontraproduktiv“, sagt der Galerist
Ulf Kallscheidt. Der gebürtige Hesse kam 1994 nach Chemnitz. Seine Galerie
Am Borssenanger liegt inmitten der Altstadt unweit des Nischel genannten
Karl-Marx-Denkmals.
Dort versammelten sich nach dem Mord an Daniel H. und tagelangen
Naziausschreitungen Ende August 2018 montags die Rechten. „Erst hieß es:
‚Merkel muss weg‘, dann brüllten sie: ‚Wir sind das Volk‘, schließlic…
‚Wir sind die Wende‘ “, erzählt Kallscheidt. Mittlerweile sind die von d…
Nazipartei Pro Chemnitz initiierten Protestmärsche eingeschlafen, die AfD
hat deren bizarres Gerede von der finalen Wende im Wahlkampf zur
Landtagswahl übernommen.
Kallscheidt, bis vor Kurzem für die SPD im Chemnitzer Stadtrat, sagt: „Wir
machen uns wegen den Rechten zu viel in die Hosen.“ Gleichwohl gibt er zu,
dass es ein ungelöstes Problem mit Rechtsradikalismus im Freistaat gibt.
„Materiell geht es den Menschen gut. Aber die regierende CDU hat es nie
vermocht, kleinbürgerlichen Mief zu überdecken. Die wollten beim Verwalten
nicht gestört werden und haben Sachsen in einen christlich-konservativen
Wattebausch getaucht. Die Fehler der Wende wurden bislang nicht
aufgearbeitet.“
[1][Aufarbeitung] ist nötig, aber als Rechtfertigung für Rassismus taugen
die Versäumnisse nicht. Als die AfD-Ergebnisse bei der Europawahl
eingeblendet wurden, wurde der in Chemnitz geborene 30-jährige Musiker
Felix Kummer wütend. „Heute noch zu behaupten, man wähle AfD, weil die
Treuhand den Leuten übel mitgespielt hat – ich kann es nicht mehr hören!“
Probleme mit Nazis hatte Kummer schon in der Jugend. Immer wieder seien
Autos mit abgeklebten Nummernschildern an Clubs gefahren, in denen er mit
Freunden abhing. „Insassen stürmten raus, haben auf alles eingeschlagen,
was rumstand, und sind wieder verschwunden.“ Die Polizei schritt nicht ein.
Und die CDU-Landesregierung setzte stumpf rechts mit links gleich.
## Da soll man differenzieren
Akzeptanz aus der Mitte der Gesellschaft für die Nazis kam schleichend.
„Wenn Bürger heute bei den [2][Rechtsradikalen] mitlaufen, wollen sie nicht
mit Leuten in einen Topf geworfen werden, die ‚Adolf-Hitler-Hooligans‘
skandieren. Da soll man bitte differenzieren. Aber umgekehrt finden sie
dann schon, dass alle Ausländer kriminell sind“, kritisiert Kummer.
Der Mitbegründer der Band Kraftklub handelte [3][letztes Jahr] schnell. Mit
Freunden stellte er wenige Tage nach dem Mord an Daniel H. das Konzert
„#Wirsindmehr“ in Chemnitz auf die Beine, um der rechten Randale die Stirn
zu bieten. Rund 60.000 Leute kamen dafür in die Stadt. „Für uns war
wichtig, den Leuten zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Es gibt hier
viele, die sich nicht von Nazis einschüchtern lassen.“
Kummer fühlt sich in Chemnitz weiterhin wohl, er ist Teil einer
subkulturellen Szene. Nun hat er einen temporären Plattenladen in einem
leer stehenden Geschäft in Bahnhofsnähe eröffnet, um sein Soloalbum „Kiox�…
zu promoten. Bei einer Demo lief der sächsische Ministerpräsident nur so
lange mit, bis Kraftklub aufgetreten sind: „Wenn wir für Herrn Kretschmer
die linkeste Position in der Debatte vertreten: Gute Nacht!“ Die CDU trage
Mitverantwortung dafür, dass sich Rechte so gut etablieren konnten.
Per definitionem war die DDR ein antifaschistischer Staat, in dem es keine
Nazis gab. Dies machte sich der erste CDU-Ministerpräsident, Kurt
Biedenkopf, nach der Wende zu eigen: Der Sachse sei immun gegen
Rechtsradikalismus, behauptete Biedenkopf. Darüber kann der 77-jährige
bildende Künstler Michael Morgner nur lachen. Aufgewachsen im Chemnitzer
Vorort Einsiedel, erlebte er in den fünfziger Jahren, wie Jugendliche sich
beim Volleyball weigerten, mit ungarischen Vertragsarbeitern zu spielen.
Irrationale Angst vor Fremden, sie war damals in Sachsen ausgeprägt, obwohl
es kaum Migranten gab.
Richtig wuschig macht Morgner, wie die Rechten heute davon faseln, die
Wende zu vollenden. „Die, die sie jetzt damit ansprechen, haben damals
nichts gesagt. In der DDR haben 99 Prozent der Menschen die Klappe
gehalten, deswegen haben heute alle ein schlechtes Gewissen.“
Morgner bildete zusammen mit zwei Kollegen die Künstlergruppe Clara Mosch
(1977–1982). Sie geriet ins Visier der Stasi, die Beteiligten wurden
ausgespäht und fertiggemacht. „Ich habe gegen meinen Vater rebelliert,
gegen meine Lehrer, gegen die DDR. Jetzt rebelliere ich gegen die AfD.“ Im
brandenburgischen Premnitz steht im Garten des Kunsthauses Villa am See ein
eindrucksvoller, „Codex Morgner“ genannter Bilderzyklus des Künstlers. Er
besteht aus vierzehn je 3 x 15 Meter großen Bildern und ist ein Mahnmal
gegen die Irrwege des kriegerischen 20. Jahrhunderts, das in die Gegenwart
strahlt.
## Populisten wollen nur recht haben
Auch Beate Düber und Jan Kummer sind bildende Künstler, eine Generation
jünger als Michael Morgner. Beide lebten in Chemnitz, als es noch
Karl-Marx-Stadt hieß und eine agile Kunst- und Musikszene hatte. Jan
Kummer, Vater von Felix Kummer, spielte damals in der Undergroundband AG
Geige. Düber arbeitete am Theater, an dem namhafte, aus Ostberlin in die
Provinz verbannte Regisseure und SchauspielerInnen engagiert waren. Nach
1989 führte Kummer einen Plattenladen, später arbeitete er als Booker für
den Club Atomino. „Ich stehe auf, sobald ich sehe, dass Freiheit von rechts
unterminiert wird, wenn es keine demokratische Streitkultur mehr gibt. Ich
bin durchaus in der Lage, in Diskussionen verlieren zu können. Die
Populisten von rechts wollen aber nur recht haben, mit ihnen lässt sich
nicht argumentieren.“
Kummer bemängelt, dass es in der DDR keine 68er-Rebellion wie im Westen
gab, was dann später zu einem aufgeklärten, liberalen Bildungsbürgertum
hätte führen können: „Bestimmt waren die 68er Nervensägen, aber sie haben
im Streitgespräch auch eine Art von basisdemokratischer Mitbestimmung
initiiert.“ Dieses Erbe fehle in Sachsen. Stattdessen inszenierten sich in
Dresden Schriftsteller wie Uwe Tellkamp und die rechte Buchhandlung
Buchhaus Loschwitz als selbstgefällige Puppenstuben-Bildungsbürger, die der
alten Residenzstadt hinterhertrauern, sagt Beate Düber. Wichtig sei, gerade
auch im Hinblick auf eine drohende Regierungsbeteiligung der AfD, Formen
von direkter Bürgerbeteiligung zu stärken und Kulturvereine besser zu
fördern. Etwas, was in Chemnitz erst seit Kurzem greift.
Auffällig im Stadtbild sind Spruchbänder wie an einem VW-Autohaus im
Stadtteil Küchwald. „Chemnitz ist nicht braun und nicht grau“ ist da zu
lesen. Auch am Haus der IHK Chemnitz prangt ein großes Banner, auf dem das
Bekenntnis steht: „Für Demokratie, Weltoffenheit, Toleranz und
Rechtsstaatlichkeit.“ Die Gewerbetreibenden sind aufgewacht.
Jan Kummer, der sich als linksliberal bezeichnet, spricht trotz allem
Unverständnis differenziert über die CDU. Die habe sich Mühe gegeben, die
Wirtschaft aufzubauen und am Laufen zu halten, aber politische Bildung sei
unter den Christdemokraten viel zu kurz gekommen. Möglicherweise, weil man
der Meinung war, über erfolgreiche Wirtschaftsförderung und industrielle
Leuchttürme würde sich alles andere von selbst ergeben. „Dass es in
Chemnitz zu den rechten Ausschreitungen kam, genau wie anderswo, liegt an
dieser verfehlten Politik: Widerstand gegen rechts wurde kriminalisiert,
die Zivilgesellschaft in ihrem Tun behindert.“
## Die Polizei war überfordert
Unmittelbar nach 1989 lebte man in Chemnitz in einem Vakuum, die
Sicherheitsbehörden waren überfordert, aber auch in den Tagen nach dem 26.
August 2018 war die Polizei kaum zu sehen, ließ die Nazis zunächst
gewähren. Antifas aus Leipzig haben Gegendemonstranten beschützt.
Düster, trostlos, trist. So sah Chemnitz aus, als Nancy Gibson 1992 Sachsen
erstmals besucht hat. Die Entwicklung seither sei enorm, sagt die gebürtige
Kanadierin, die gern hier lebt. Als Opernsängerin war sie 15 Jahre am
Theater Chemnitz engagiert. Anfangs merkte sie, dass die Sachsen den Umgang
mit Fremden nicht gewöhnt waren. „Es stockte.“ Gibson ließ sich nicht
beirren, blieb. Seit 2009 leitet sie die Städtische Musikschule,
untergebracht in der ehemaligen Schule für die Kinder von Sowjetoffizieren
im Stadtteil Kaßberg.
Heute arbeiten unter ihrer Leitung mehr als hundert LehrerInnen, etwa 2.500
SchülerInnen werden an ihrem Haus musisch ausgebildet. In den Tagen nach
dem 26. August 2018 kümmerte sich Nancy Gibson um eine Gruppe britischer
MusikerInnen, die in Chemnitz zu Gast war und schockiert über die Gewalt
auf den Straßen. „Die Rechten wollen die Uhr zurückdrehen, das macht keinen
Sinn. Die Welt dreht sich, und wir müssen die veränderte Realität
akzeptieren. Völkerwanderungen gab es zu allen Zeiten, jetzt gibt es eine
große, die ist auch durch den Klimawandel bedingt. Wie kann man den
Klimawandel leugnen, das begreife ich nicht.“
Froh ist Nancy Gibson, dass endlich Bundespolitiker in Chemnitz
vorbeischauen. „Frau Merkel kam zweimal, und der Grüne Robert Habeck war
hier. Sie haben kapiert, dass sie die Menschen nicht alleinelassen dürfen.“
Alle, mit denen man spricht, wünschen sich einen ICE-Anschluss für
Chemnitz. Die einzige Partei, die darauf im Wahlkampf Bezug nimmt, sind die
Grünen. Die AfD wirbt mit dem Slogan „Trau Dich, Sachsen!“. Lisa Gautsch,
eine junge Frau, die eigentlich anders heißt und vor der Balboa-Bar
abhängt, einem alternativen Lokal in der Innenstadt, sagt, die mutmaßlich
25 Prozent AfD-WählerInnen habe sie ohnehin abgeschrieben. Oft sehe sie,
wie Chemnitzer in der Trambahn Migranten aus nichtigen Anlässen anbrüllen.
Sie appelliert an die Demokraten, endlich lauter zu werden: „Zeigt, dass
ihr dagegen seid!“
30 Aug 2019
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-Chemnitzer-Ausschreitungen/!5619087
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[3] /Konfrontation-in-Chemnitz/!5529513
## AUTOREN
Julian Weber
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