Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Album von Kraftklub: Aufbruchstimmung allerorten
> Das Quintett Kraftklub meldet sich mit dem Album „Kargo“ zurück. Wieder
> gebührt dem hassgeliebten Chemnitz eine tragende Rolle in den Songtexten.
Bild: Wie einst The Stranglers: Kraftklub in „Black&White“
Für die eine ist es „Single Ladies“ von Beyoncé, für den anderen „Don�…
Stop Believin’“ von Journey. Songs, die die Erinnerung an eine bestimmte
Phase im eigenen, den Popstars fernen Leben wachrufen. Den Schulabschluss
feiern, den ersten großen Liebeskummer überstehen, in eine neue Stadt
ziehen.
Mit einer Ode an diese Soundtracks des Alltags tauchte die Chemnitzer Band
Kraftklub diesen Frühling wieder aus der Versenkung auf. Im ersten neuen
Track, „Ein Song reicht“, besingen sie eine zerbrochene Beziehung, wie
bestimmte Musik die vermeintlich gut verdrängten Emotionen wieder
hervorholt, und zählen dann auf: „Verdammter Mike Skinner, Kate Nash, Lykke
Li …“
Für viele Fans gehört Kraftklub selbst in diese Reihe: Einzelne Zeilen
ihrer Songs wie „Ich will nicht nach Berlin“ oder „Und wenn du mich küss…
dann ist die Welt ein bisschen weniger scheiße“ funktionieren wie Slogans.
An ihnen vorbeizukommen – zwecklos, selbst wenn man die Musik der Band
eigentlich gar nicht hört.
## Moshpit ist gesetzt
Der Sound von Kraftklub ist der gleiche wie vor zehn Jahren – nach vorne
treibende Gitarren, der Moshpit auf den Konzerten ist gesetzt, egal, ob sie
incognito auf einem Gehweg in Leipzig oder in der Berliner Wuhlheide bei
einem großen Open-Air-Konzert auftreten. Der charakteristische Wechsel von
Rappen und Singen und die Songtexte, die zum Mitskandieren, aber auch
Sinnieren einladen, funktionieren heute vielleicht sogar noch besser als je
zuvor.
Fünf Jahre sind seit dem letzten Lebenszeichen vergangen. Kraftklub legten
eine Pause ein: Von der steilen Karriere. Und Sänger [1][Felix Kummer
brauchte Zeit] für sein Solo-Projekt. Die Pandemie erledigte den Rest.
Jetzt sind sie zurück mit ihrem vierten Album „Kargo“ und der alten Wucht.
Warum ausgerechnet sie so erfolgreich geworden sind, wundert sich Felix
Kummer im Auftaktsong „Teil dieser Band“ des neuen Albums: „Es ist nicht
verdient und es ist nicht fair / Wenn’s das war, dann war’s das wert / Ich
mach weiter bis jemand merkt: / Ich kann nicht sing’n / Ich spiel kein
Instrument/ Aber alle am spring’n/ Und ich schrei den Refrain.“
## Wie ein Hochstapler
Dazu erklärt der 1989 geborene Kummer im Gespräch mit der taz: „Ich fühle
mich oft wie ein Hochstapler. Ich muss auch zugeben, dass ich nicht wüsste,
was ich sonst kann oder wer ich wäre, ohne diese Band.“ Eine Antwort muss
der Popstar auf diese Frage erst mal nicht finden, denn die vorab
veröffentlichten Songs kommen bei den Fans bestens an.
In vielen Punkten halten sie an der bewährten Kraftklub-Rezeptur fest –
beziehungsweise ist Felix Kummer nach dem Versuch auf dem Vorgängeralbum
(„Keine Nacht für Niemand“), aus der Sicht von fiktiven Protagonisten zu
texten, wieder zu Narrativen aus seiner eigenen Erlebniswelt zurückgekehrt.
Er hat sich zudem den Mut, Verletzlichkeit zuzugeben, aus seinem
Solo-Projekt bewahrt. Für die Band fühlt es sich weniger wie ein Comeback
und mehr wie ein erneutes Debütalbum an. Sie spürten keinen
Erwartungsdruck, eher war es ansteckende Euphorie, denn, Kraftklub haben
erstmals mit einem neuen Produzenten, Flo August statt Philipp Hoppen,
gearbeitet. Viele Mitglieder ihrer Roadcrew haben durch die Zwangspause in
der Pandemie inzwischen andere Jobs – es ist auch das erste Album nach
diesem Einschnitt.
## Erinnerungen an 2018
Es ist zudem das erste Werk seit den rassistischen Ausschreitungen in
Chemnitz 2018, den Tagen, als vermeintlich normale Bürger:innen ihre
faschistische Meinung nicht mehr hinter vorgehaltener Hand kundtaten,
sondern sie in der sächsischen Stadt mit Nazi-Shirts zur Schau stellten und
gewaltsam durch die Straßen zogen.
Um dem Mob etwas entgegenzusetzen, organisierten Kraftklub damals innerhalb
weniger Tage das kostenlose #wirsindmehr-Konzert, zu dem mehr als 60.000
Menschen nach Chemnitz kamen. [2][Über den Kater am Tag] danach gibt es auf
dem neuen Album das beeindruckende Stück „4. September“. Sein Text
vermittelt vor allem ein Gefühl von Ohnmacht, die Leere, die nach der
krassen positiven Energie am Konzerttag zurückbleibt, die Angst, nicht
nachhaltig etwas an den Verhältnissen verändern zu können.
„Ich denke, wir konnten den Leuten das Gefühl geben, nicht allein zu sein,
aber die Probleme löst man damit nicht und deswegen war ich sehr
frustriert. Genau über solche Momente schreibe ich dann Songs.“ Kummer
erklärt weiter, er habe kein Bedürfnis, über die glücklichen Phasen in
seinem Leben Songs zu komponieren.
## Eben doch aushaltbar
„Deswegen gibt es auch kein Lied, das so geht: (singt) ‚Hey yeah, 2025,
wuhu, wir werden Kulturhauptstadt!‘ Auch wenn ich mich natürlich mega
darüber freue, dass Chemnitz europäische Kulturhauptstadt wird. Wir würden
ja nicht hier wohnen bleiben, wenn es unaushaltbar wäre.“ Das sei ein
Widerspruch, mit dem die Band im Prinzip lebt, seit die Musiker Abi gemacht
haben. Damals sind die meisten ihrer Freund:innen weggezogen, aber
Kraftklub sind geblieben. Natürlich waren sie meist 200 Tage im Jahr
unterwegs und konnten auf Tour viele Eindrücke sammeln.
Auch früher verhandelten Kraftklub-Songs ost- und westdeutsche
Lebensrealitäten mit speziellem Augenmerk auf Chemnitz – jetzt ist es das
bestimmende Thema auf „Kargo“. Es sind definitiv keine schlagerhaften
Jammer-Ossi-Texte. „Wenn wir aufhören würden, uns an den Sachen, die in
Chemnitz scheiße laufen, abzuarbeiten, dann würde was schieflaufen“,
erklärt Kummer.
Und changiert zwischen Frustration und Verantwortungsgefühl, oder, wie es
im Lied „Wittenberg ist nicht Paris“ heißt: „Nazis raus ruft es sich
leichter, da wo es keine Nazis gibt.“ Der Albumtitel „Kargo“, was für
Frachtgut steht, spielt mit dem Bild von Bewegung und der Sehnsucht nach
der weiten Welt. Er referiert aber damit auf ein Gefühl des Abgehängtseins.
## Provinziell und verkehrstechnisch abgeschnitten
„Chemnitz ist, glaube ich, die größte Stadt Deutschlands, ohne
ICE-Anbindung. Man fühlt sich nicht nur provinziell, sondern auch
buchstäblich von der Welt abgeschnitten“, moniert Kummer. So ist es auch
kein Zufall, dass Kraftklub in den aktuellen Musikvideos entweder vor einer
verlassenen Bushaltestelle stehen oder mit verschiedenen Vehikeln wie dem
Zug, einem Hubschrauber oder einem Lada-Niva-Geländewagen unterwegs sind –
auf der Reise oder auf der Flucht.
In Letzterem sitzen sie übrigens mit den Zwillingsbrüdern Bill und Tom
Kaulitz (Tokio Hotel), die ebenfalls aus der ostdeutschen Provinz kommen.
Die beiden Stars haben sie extra aus dem Boulevard-Todesstreifen
herausgeholt, damit sie gemeinsam über das Zurücklassen der ehemals
ostdeutschen Heimat singen.
Ebenbürtig als Gast auf „Kargo“ ist die Synthie-Popperin Mia Morgan aus
Kassel, die einst als Vorband von Kraftklub mit ihrer One-Woman-Show mit
Laptop und Gitarre begeisterte. Auch mit im Boot sitzt [3][das Chemnitzer
Trio Blond], das zu zwei Dritteln aus den Kummer-Schwestern Nina und Lotta
besteht. In der hiesigen Indie-Szene sind beide Projekte inzwischen
etabliert, im Mainstream noch unbekannt. Kraftklub haben also nicht große
Idole wie Farin Urlaub ehrfürchtig dazugebeten, sondern sind nun selbst
Mentoren – und haben erstmals Kolleginnen dabei.
Daran ist auch zu merken, dass die Band an sich und ihrer Karriere
gewachsen ist. Das zeigt auch der Umgang mit „Dein Lied“ vom Album „Keine
Nacht für Niemand“ (2017): Irritation und Entsetzen waren damals groß, als
die lausbübischen Lieblinge von Publikum und Presse die Ära mit
theatralischem Livestream einläuteten und im Refrain von „Dein Lied“ eine
Verflossene als „verdammte Hure“ besungen wurde.
Auch wenn Kraftklub-Fans der Band diesen misogynen Schnitzer verziehen
haben, gehört das Lied für Felix Kummer zu den Dingen, die er retrospektiv
gerne anders gemacht hätte. Beim neuen Song „Der Zeit bist du egal“
entschuldigt er sich ausdrücklich dafür. Kraftklub haben den Song
inzwischen von allen Plattformen entfernt. Ein Lied, das lieber keine
Erinnerungen mehr wecken soll.
Zur Veröffentlichung von „Kargo“ ist nichts von Frustration zu spüren,
Aufbruchstimmung allerorten. Kraftklub tingeln im Zug (!) durchs Land und
beglücken Fans bei Spontankonzerten auf Bahnsteigen und WG-Partys. Neues
Album, neues Glück, neue Erinnerungen.
6 Oct 2022
## LINKS
[1] /Soloalbum-des-Kraftklub-Saengers/!5637434
[2] /Kulturszene-in-Chemnitz/!5619232
[3] /Debuetalbum-des-Chemnitzer-Trios-Blond/!5660668
## AUTOREN
Naomi Webster-Grundl
## TAGS
Kraftklub
Chemnitz
Neues Album
Musik
Bildende Kunst
Polizei Sachsen
Blond
Blond
Schwerpunkt Landtagswahlen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Synthie-Punk von Baumarkt: Fast so cool wie Bauhaus
Improvisation ist ihre Party. „Kellerduell“ heißt das neue, sensationell
schräge Album des Chemnitzer Duos Baumarkt.
Künstler reagieren auf Absage in Chemnitz: Bloß keine Apfelbäume pflanzen
Das Projekt "We Parapom!" für Chemnitz 2025 wurde abgesagt. Bürgerwille?
Oder weicht man da Unbequemlichkeiten der Kunst aus?
Tokio Hotels Besuch bei Sachsens Polizei: Liebschaft mit den Cops
Ein PR-Stunt der anderen Art, als sich Band und Organ treffen. Was Anlass
für kritische Nachfragen hätte sein können, hinterlässt nur seltsame
Bilder.
Neues Album der Chemnitzer Band Blond: Schnörkellose Klatsche
Das zweite Album des sächsischen Poptrios Blond liefert der
männerzentrierten Musikindustrie tolle Ohrwürmer. Die knackigen Beats
braucht man dringend.
Debütalbum des Chemnitzer Trios Blond: Blutrünstig für den Moshpit
Hier performen die Künstler:innen noch selbst: Das Poptrio Blond
veröffentlicht sein Debütalbum „Martini Sprite“ und geht auf Tour.
Kulturszene in Chemnitz: Keine politische Streitkultur mehr
Die Wirtschaft wird’s richten, der Feind steht links. Die Probleme in
Sachsen haben mit der CDU zu tun, sagen Chemnitzer Musiker und
KünstlerInnen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.