# taz.de -- Album und Film von Carsten Nicolai: Gestrandete Utopie | |
> Carsten Nicolai veröffentlicht das Album „HYbr:ID Volume 2“ und den Film | |
> „Betonschiff ohne Namen“. Beim Festival „Axis“ in Rostock führt er b… | |
> auf. | |
Bild: Ein bisschen wie ein Geisterschiff: Szene aus „Betonschiff ohne Namen“ | |
„Es gibt ein Wort im Deutschen, das ist sehr schön, das Wort nennt sich | |
Stillleben“, sagt Carsten Nicolai im Gespräch mit der taz über seinen | |
Kurzfilm „Betonschiff ohne Namen“. „Der Film ist wie ein Stillleben | |
aufgebaut“, fügt der Künstler an, „was Sie sehen, ist ein stilles Leben.�… | |
Unter seinem Aliasnamen Alva Noto ist Nicolai als Elektronikproduzent der | |
Reduktion und des Minimalismus weltbekannt geworden. | |
Geboren 1965 [1][in Karl-Marx-Stadt, dem vormaligen und jetzigen Chemnitz], | |
hat Nicolai Ende der Achtzigerjahre als bildender Künstler begonnen – ein | |
Zusammenspiel, das noch eine Rolle spielen sollte – und in [2][Gerd Harry | |
Lybkes Leipziger Galerie EIGEN + Art] ausgestellt. In dieser Zeit wirkte | |
Nicolai an der Künstlerschallplatte „6 aus 49“ mit. 1995 entstand das | |
„archiv für ton und nicht-ton“, daraus erwuchs in Fusion mit dem aus dem | |
Kreis der Karl-Marx-Städter Band AG. Geige heraus initiiertem Label raster | |
music das von 1999 bis 2017 aktive Label raster-noton. | |
## Stimme der elektronischen Musik | |
Unter diesem Dach wurde Nicolai eine der Stimmen elektronischer Musik in | |
Deutschland. Er hat mit Blixa Bargeld und [3][dem japanischen Popstar | |
Ryuichi Sakamoto] zusammengearbeitet. Nicolais neues Album „HYbr:ID Volume | |
2“, das dritte Werk in diesem Jahr, erscheint Mitte Oktober auf seinem | |
Label Noton. Die Musik klingt meditativ ruhig und wirkt so synthetisch wie | |
organisch. Sie hat eine starke, individuell-visuelle Komponente. | |
Klang und Stimmung sind ähnlich der von Nicolais Film. Auch „Betonschiff | |
ohne Namen“ beginnt mit dräuender Elektronik, während der Held des | |
Streifens, ein imposantes Betonschiff, wie ein steinerner Wal im flachen | |
Wasser in der Wismarer Bucht bei Redentin auf einer Sandbank in der Ostsee | |
festsitzt, Moos ansetzt und Heimat für Schilf und Vögel ist. | |
In einer Einstellung erinnert die Betonoberfläche an eine Karte der | |
Mondkrater. [4][Das Schiff könnte auch ein verunglücktes Ufo] sein, das da | |
langsam von einer Drohne angeflogen und umkreist wird, während sich auf der | |
Tonspur allmählich Sounds aufbauen. An Deck haben zwei Möwen Posten | |
bezogen; sie sind, was ein Graffito an der Außenwand unmissverständlich | |
klarstellt, „Baltic Vandals“, baltische Vandalen. | |
Was für eine Ansage, angesichts des 300 Tonnen schweren, schmutzig-grauen | |
Stillstands. Der Bewehrungsstahl des Betons ist freigelegt, die Ordnung | |
wird in ihrer Auflösung sichtbar. Carsten Nicolais Film wird heute am | |
Freitag und morgen am Sonnabend auf dem Axis-Festival im Volkstheater | |
Rostock zu sehen sein, für das er als Auftragsarbeit entstanden ist. | |
Anfänglich wollte Nicolai einen Film über das Theater drehen, ein Haus mit | |
drei Spielstätten und einer generationenschweren Geschichte und | |
herausfordernden Gegenwart. | |
## Legendärer Ruf | |
Ein erster Standort eröffnete Ende des 19. Jahrhunderts und wurde 1942 | |
während des Zweiten Weltkriegs bei britischen Luftangriffen zerstört. In | |
der DDR hatte das Volkstheater einen legendären Ruf und fungierte als Tor | |
für Stücke aus Lateinamerika und dem Westen. | |
Am bekanntesten dürfte die DDR-Erstaufführung von Peter Weiss’ Stück „Die | |
Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die | |
Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de | |
Sade“ 1965 sein, von der das DDR-Label LITERA ein Doppelalbum | |
veröffentlichte. Nach dem faschistischen Putsch in Chile 1973 beherbergte | |
das Volkstheater die aus politischen Emigranten bestehende Schauspielgruppe | |
Teatro Lautaro. | |
Nicolai, der die Geschichte nicht eins zu eins erzählen wollte, war auf der | |
Suche nach einer Metapher. Er fand sie auf dem Meer. In Rostock ist das | |
Museumsschiff „Capella“ zu besichtigen, vor Wismar das Schiff gleichen Typs | |
aus Nicolais Film. | |
## Parallelität der Geschichte | |
Dass es keinen Namen trägt, ist Nicolai wichtig, wie das Bild, das es | |
aussendet, ein stummer, schwerer Zeuge, der nicht einfach wegzukriegen ist. | |
Nicolai spricht von einer „Parallelität der Geschichte“ des Wracks und des | |
Volkstheaters, er sagt: „Manchmal weiß man gar nicht, ob man in einem | |
Schiff oder einem Haus ist.“ Nicolai bezieht sich auf einen Text, der auf | |
der Internetseite der Wismarer Ferienwohnung „Zum Steuermann“ nachzulesen | |
und von Reinhild Bremer und Thomas Keßler nach Informationen des Autors | |
Detlef Schmidt geschrieben worden ist. | |
Lokalgeschichte ist hier umfassende Geschichte: Dass es überhaupt ein | |
Betonschiff ist, das bei Redentin liegt, hat mit dem im Zweiten Weltkrieg | |
raren Rohstoff Stahl zu tun, der vor allem in der Rüstungsindustrie | |
benötigt wurde. Die Nazis hatten großes vor mit dem Schiff, das vermutlich | |
1944 im Swinemünder Ostwine gebaut wurde: Es war als Teil der | |
„Transportflotte Speer“ gedacht, mit der Granitsteine für den Umbau Berlins | |
zur Welthauptstadt Germania transportiert werden sollten. | |
Damit war ein Jahr später Schluss. Im Frühling 1945 gelangte das Schiff | |
nach Wismar, in der DDR fungierte es als Lager für Schiffsausrüster und als | |
Lager für die GST: die Gesellschaft für Sport und Technik, eine | |
paramilitärische Massenorganisation der DDR. Wer nicht hinmusste, hatte es | |
gut. | |
## Dahintreibend im Sturm | |
Im Jahr 1962 wurde das Betonschiff in die Bucht von Redentin geschleppt und | |
zehn Jahre als Wellenbrecher eingesetzt. Im November 1972 machte ein Sturm | |
das Schiff los und trieb es dorthin, wo es noch heute wartet. Das Wrack zu | |
beseitigen, stellte sich als zu kostspielig heraus. 1975 wollte es die | |
Schauspielerin Christine Laszar als Partyboot nutzen und scheiterte. Dem | |
Betonschiff ist es gelungen, sich den ihm zugedachten Bestimmungen stets zu | |
entziehen. | |
Nicolai sieht in ihm eine „Metapher für eine gestrandete Utopie“. Sein | |
kurzer und langsamer Film ist ein Plädoyer für die Ruinen, dafür, sie nicht | |
abzuräumen. Der Gartenbaumeister Carl von Linné und der | |
Landschaftsarchitekt Hermann von Pückler-Muskau wussten sehr genau, warum | |
sie historische Artefakte in ihre kunstvollen Terrains einbauten, wirft | |
Nicolai ein. | |
Er verweist im Gespräch auf die Faszination verlorener Orte, auf | |
Fotografien und Videos aufgelassener Fabriken, Paläste und Sanatorien, die | |
in den letzten Jahrzehnten verstärkt in das visuelle Gedächtnis gerückt | |
sind. Warum, wäre eine Untersuchung wert. Nicolais auch ästhetisch | |
frappierender Film gehört unbedingt dazu. | |
## Biografische Komponente | |
Er hat eine biografische Komponente: „Je länger ich recherchierte, umso | |
klarer wurde mir, dass die Geschichte auch mit mir selbst zu tun hat“, sagt | |
Nicolai. Die seit 1942 im Schiffbau verwendete Schalenbauweise, nach der | |
das Betonschiff gefertigt wurde, hat Ulrich Finsterwalder entwickelt. Dass | |
der deutsche Bauingenieur der Onkel seines guten Freundes Rudolf | |
Finsterwalder ist, hat Nicolai erst im Zuge der Dreharbeiten erfahren. Dann | |
wurde ihm klar, das Betonschiff hat das ungefähre Alter seines Vaters; der | |
Sohn Carsten Nicolai wiederum ist mit der Geschichte ab den Sechzigerjahren | |
verbunden. | |
Wie eigentlich kommt der auf dem Festland sozialisierte Carsten Nicolai zum | |
Meer? Nicolais Familie hat, wie viele DDR-Erfahrene, den jährlichen | |
Sommerurlaub an der Ostsee verbracht. Er erinnert an die | |
Künstlertreffpunkte und ihre Rückzugsorte und sagt: „Ich bin am Fuße des | |
Erzgebirges in einer Industriestadt aufgewachsen. Wenn du aus einer | |
abgeschlossenen Landschaft, aus einer Zeit mit begrenztem Zugang zur Welt | |
kommst, dann ist das Meer und sind die Schiffe sehr wichtig.“ | |
Wie wichtig, davon mag eine kurze Einstellung des Films eine Ahnung | |
vermitteln, wenn die Kamera frontal am Schiffsrumpf nach unten fährt und | |
ihn damit langsam in die Lüfte steigen lässt. In diesem Moment wechselt | |
Nicolais Filmmusik vom Meditativen ins Sakrale. Eine Version davon wird auf | |
der fünften Folge der „Xerrox“-Reihe, in der Carsten Nicolai unter dem | |
Aliasnamen Alva Noto seit 2007 filmisch gedachte Musik veröffentlicht, zu | |
hören sein. Musik für „gefilmte Fotos“, ein Begriff, der Carsten Nicolai … | |
Gespräch einfällt, oder „gefilmte Stills“, wie er dann noch sagt. | |
14 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Roman-ueber-Alltag-in-der-DDR/!5770632 | |
[2] /Judy-Lybke-ueber-40-Jahre-Kunsthandel/!5923240 | |
[3] /Komponist-Ryichi-Sakamoto/!5909845 | |
[4] /Biografie-ueber-B-Traven/!5558428 | |
## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
## TAGS | |
elektronische Musik | |
Film | |
Neues Album | |
Rostock | |
Festival | |
Musik | |
Iran | |
taz Plan | |
Japan | |
Chemnitz | |
Schwerpunkt Landtagswahlen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neues Album von Moritz von Oswald: Chorparts wie Regenbögen | |
Hoch verdichtet und sakral klingt „Silencio“ von Moritz von Oswald. | |
Emotionen spricht es bei allem konzeptuellen Ansatz ebenfalls an. | |
Iranische Underground-Musik: Singen in finsteren Zeiten | |
Das Festival „Tehran Contemporary Sound“ im Bethanien war geprägt vom | |
Kriegsgetöse in Nahost. So fielen vielen Konzerte nachdenklicher aus. | |
Neue Musik aus Berlin: Trip zum fernen Ufer | |
Michael Lapuks veröffentlicht mit „Distant Shore“ ein auf 200 Exemplare | |
limitiertes Album mit geradezu optischer Musik – auf vielen Ebenen. | |
Komponist Ryūichi Sakamoto: Blick auf den nahenden Tod | |
Ryūichi Sakamoto ist gestorben. Aus diesem Anlass unsere Besprechung seines | |
letzten Albums, auf dem er sich noch gegen seine Krankheit stemmte. | |
Roman über Alltag in der DDR: Leben in subtilen Abweichungen | |
Unaufgeregt, aber unbarmherzig im Detail: Autorin Patricia Holland Moritz | |
umkreist in ihrem Roman „Kaßbergen“ so packend wie genau den DDR-Alltag. | |
Kulturszene in Chemnitz: Keine politische Streitkultur mehr | |
Die Wirtschaft wird’s richten, der Feind steht links. Die Probleme in | |
Sachsen haben mit der CDU zu tun, sagen Chemnitzer Musiker und | |
KünstlerInnen. |