| # taz.de -- Roman über Alltag in der DDR: Leben in subtilen Abweichungen | |
| > Unaufgeregt, aber unbarmherzig im Detail: Autorin Patricia Holland Moritz | |
| > umkreist in ihrem Roman „Kaßbergen“ so packend wie genau den DDR-Alltag. | |
| Bild: Miefige Welt des real existierenden Sozialismus: vorm Nischel im Zentrum … | |
| Eine Feier aus Anlass des ersten Schulzeugnisses in der 26. Etage im | |
| „Interhotel Kongreß“: Die Bar bietet einen Panoramablick über | |
| Karl-Marx-Stadt und das Erzgebirge. Oma, Opa, Mutter und Kind sind die | |
| einzigen Gäste, beeindruckt vom eigens aus Stockholm importierten | |
| „Schwedenputz“ an den Wänden des Hochhauses, nehmen sie den Aufzug. | |
| Oben bestellen sie beim überkorrekten und zugleich abweisend wirkenden | |
| Kellner „drei Sektschalen, drei Schweden-Eisbecher mit Apfelmus und ein | |
| Kalbsmaststeak au Four“. Die Damen genehmigen sich „Rotkäppchen süß“ u… | |
| Eierlikör aufs Eis, der Herr will zum Fleisch auch ein Bier, das Kind | |
| bekommt keine Limonade, es hat schließlich schon Eis. Radebrechend liest es | |
| die Einträge aus dem Zeugnis vor: „Ha-t ei-ne gu-te Auf-fass-uh-ngs-ga-be.“ | |
| Seine Mutter flirtet mit dem Kellner. „Kaßbergen“, der Roman von Patricia | |
| Holland Moritz steckt voller banaler Alltagsszenen wie dieser. | |
| Dabei verklärt die Autorin die triste und miefige Welt des real | |
| existierenden Sozialismus nicht, sie entdeckt in den Nischen allerhand | |
| Skurriles und extrahiert aus dem Unspektakulären magischen Realismus. | |
| Unaufgeregt, aber unbarmherzig im Detail schildert Holland Moritz eine | |
| Familie und ihr Leben in subtilen Abweichungen von (sprachlichen) Normen. | |
| ## Schroffes Antlitz | |
| Das Kind merkt sich den Begriff Osmose aus dem Biologieunterricht: | |
| Teppichstangen im Hinterhof des Wohnhauses verschwimmen mit dem Erdbeerbeet | |
| des Nachbarn zum Abenteuerspielplatz. Die Puppenstubenatmosphäre mag | |
| surreal anmuten, sie verkitscht nie die Wesenszüge des Sozialismus, sein | |
| schroffes Antlitz und seinen Machtpol. | |
| „Mangelwirtschaft“ erklärt die Oma ihrer Enkelin anhand des stotternden | |
| Motors der Heißmangel. Oma heißt in der Familie nur „der Minister“, Opa | |
| „Häuptling“. Die Mutter verschwindet allmählich aus der Handlung, will zum | |
| Liebhaber in den Westen und ist auch sonst eine selbstbestimmte Frau mit | |
| Stil. Das Kind zieht zum Vater, der in einer Gießerei schuftet und mit | |
| „Pfuschen“ (Schwarzarbeit) sein Gehalt aufbessert. Neben seiner Freundin | |
| sitzt er auf dem Sofa, blättert einen West-Autoatlas durch, während sie in | |
| einem alten Katalog vom Versandhaus Quelle versinkt – Reiserouten, die | |
| nicht möglich sind, Waren, die es nicht zu kaufen gibt. | |
| Andere Gegenstände sind dagegen im Überfluss vorhanden, Bücher zieren wie | |
| eine Tapete die Regale aller Wohnungen, gelesen werden sie nicht. Ein | |
| Schminktisch verwaist bei der Oma im Schlafzimmer, seine Schubladen dienen | |
| zur Aufbewahrung von Wollresten und ausgesonderten Lockenwicklern. „Die | |
| ganze Stadt und das Leben in ihr war ein einziges Lecken von Wunden, ein | |
| Reparieren und Übertünchen und das alles so freudlos, als wäre den Menschen | |
| jeglicher Sinn für Ästhetik und Schwelgen abhandengekommen“, heißt es an | |
| einer Stelle. | |
| ## Opfer des Stalinismus | |
| Benannt nach einem Stadtviertel von Chemnitz, entwickelt „Kaßbergen“ | |
| zunächst als Familienroman seinen Sog, im Kern steht das Coming-of-Age der | |
| Protagonistin: Das namenlose, teils vernachlässigte Kind wird zu Ulrike | |
| Uhlig, einem aufbegehrenden Teenager, der in der Schule aneckt, etwa, als | |
| er im Geschichtsunterricht nach Hinweisen der Oma, deren Bruder ein Opfer | |
| des Stalinismus war, das Tabu Stalin anspricht. | |
| Schließlich ist Ulrike eine junge Frau, die erste Schreibversuche | |
| unternimmt und im Club „Pablo Neruda“ als Autorin reüssieren möchte, da | |
| liegt die DDR schon am Boden, aber zuckt noch. Von den bereits etablierten | |
| Alphatierchen wird die junge Frau bei den Leseabenden herablassend | |
| behandelt. Daher erkennt sie im anderen Außenseiter des Clubs, dem Punk | |
| „Gonzo“, einen Seelenverwandten, den die Stasi im Visier hat. | |
| Ulrikes Aufwachsen in den 1970er und 1980er Jahren ist zugleich eine | |
| Geschichte der Industriestadt mit den beiden Bindestrichen „in der Mitte | |
| Sachsens“. Die hat im 20. Jahrhundert zweimal ihren Namen geändert: von | |
| Chemnitz zu Karl-Marx-Stadt, wieder zurück zu Chemnitz. Dementsprechend | |
| haben die historischen Umbrüche an der Stadt und ihren Bewohner:innen | |
| tiefe Spuren hinterlassen: Straßen wurden mehrmals umbenannt, alte Häuser | |
| verfallen, aber die Umgestaltung zur sozialistischen Modellstadt kommt | |
| außer dem Errichten einer Schneise durchs Zentrum nicht wirklich voran. | |
| ## Schlechter Radioempfang | |
| Menschen sind durch die Kriege traumatisiert und gequält, verschwinden im | |
| Knast, wandern aus oder werden gar umgebracht. Wie die Trambahn sich die | |
| Steigungen zum Viertel Kaßbergen hinauf und wieder hinunter quält, dabei | |
| quietscht und ächzt, so mäandert die Handlung durch die Historie, man folgt | |
| ihr dennoch gebannt. „Abends wird es finster. Morgens wird es hell und dazu | |
| schlechter Empfang im Radio.“ | |
| Bis heute ist Chemnitz auch durch seine geografische Lage [1][Terra | |
| incognita] geblieben, aus dem Westen zieht es nur wenige dahin. Meist wird | |
| die Stadt [2][mit den rechtsradikalen Riots von 2018 assoziiert] und nicht | |
| als Wiege der Textilindustrie und Stadt mit einem bis 1933 jüdisch | |
| geprägten und kunstaffinen Bürgertum. | |
| Zuletzt bei der Debatte über die unselige #allesdichtmachen-Aktion wurde | |
| wieder deutlich, wie unerledigt die Aufarbeitung der deutsch-deutschen | |
| Vergangenheit doch ist; wie Menschen, die einst in der DDR aufgewachsen | |
| sind und angesichts von Coronapandemie heute von Meinungsdiktatur faseln, | |
| ihre eigene Geschichte verklären. Wohingegen auch BRD-Linke nicht gegen | |
| Geschichtsklitterung gefeit sind, wenn sie reflexhaft das Klischee bemühen, | |
| wonach ja nicht alles schlecht gewesen sei in der DDR. | |
| Patricia Holland Moritz ist geboren und aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt und | |
| lebt heute in Berlin. Bis sie nach Jahren des Suchens das | |
| „Schriftsteller-Gen“ angezapft hat, arbeitete sie als Buchhändlerin, | |
| verbrachte die Jahre nach der Wende in Paris und wurde Bookerin für Bands. | |
| Heute sitzt sie für die SPD im Stadtrat des Berliner Bezirks Lichtenberg. | |
| Bisher hat Holland Moritz einige wohlwollend aufgenommene Kriminalromane | |
| veröffentlicht, trotzdem fühlt sich „Kaßbergen“ wie ein Debütroman an. … | |
| sie darin scheinbar nebenbei in kleinen Ellipsen die großen historischen | |
| und gesellschaftlichen Bögen umkurvt, die als Klammern für die | |
| Familiengeschichte dienen, aber auch Raum für Rückblenden und | |
| Abschweifungen zu realen Figuren der Zeitgeschichte zulässt, das ist | |
| packend: So taucht der [3][in Chemnitz aufgewachsene Schriftsteller Stefan | |
| Heym] auf. Er musste mit seiner jüdischen Familie vor den Nazis 1938 in | |
| höchster Not aus Sachsen fliehen. Ulrikes Großeltern sind ihm begegnet. Sie | |
| erleben den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und die Machtergreifung | |
| der Nazis. Ihr Heranwachsen mit dem Ballast der Erinnerungen und | |
| Auslassungen wirft viele Fragen auf, die sich Ulrike – je nach Reife – zu | |
| erklären versucht. | |
| „Kaßbergen“ steht ein Diktum des verfemten [4][DDR- Arbeiterschriftstellers | |
| Werner Bäunig] voran: „Man hat schon wirklich daneben gegriffen auf der | |
| Sitzbrille des Lebens, ganz schön in die Röhre hat man, das kann man wohl | |
| sagen.“ Im Roman lässt sich Ulrike bei einem Interview die Erlebnisse eines | |
| Bergarbeiters aus der Wismut-Uranförderung erzählen. Späte poetische | |
| Gerechtigkeit für ein weiteres vergessenes Kapitel deutscher Geschichte. | |
| 27 May 2021 | |
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| Julian Weber | |
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