# taz.de -- Erzählband „Langsame Entfernung“: Ungerührte Erinnerungen | |
> In ihrem Erzählband denkt die Schriftstellerin Gisela Steineckert an die | |
> DDR zurück. Ihre Bereitschaft zur Verklärung ist erschreckend. | |
Bild: Gisela Steineckert bei Dreharbeiten eines Films von Hermann Zschoche, 1967 | |
Die Schriftstellerin Gisela Steineckert, vor einigen Wochen 90 Jahre alt | |
geworden, hat den ersten Lockdown zum Erinnern und Schreiben genutzt. | |
„Langsame Entfernung“ lautet der Titel ihres aktuellen Buches. Zweifellos | |
bietet ihr Leben genug Material für Erinnerungsarbeit. 1931 in Berlin | |
geboren, war sie nach diversen beruflichen Stationen ab 1957 in der DDR | |
freischaffend tätig. | |
Von 1965 bis 1973 war sie im Oktoberklub aktiv, konnte die Singebewegung | |
als „Mentorin“ auch ideologisch prägen. Ab 1979 gehörte sie dem Komitee f… | |
Unterhaltungskunst an, fungierte von 1984 bis 1990 als dessen Präsidentin. | |
Mit 38 Jahren trat sie der SED bei, die sie Mitte 1989 verließ. | |
Sie verfasste zahlreiche Liedtexte, veröffentlichte Lyrik, Prosa und | |
Essays. Bekannt ist ihr 1986 entstandenes Lied „Als ich fortging“ – ein | |
etwas unklares Liebeslied, in dem es um eine Trennung oder eine Rückkehr | |
geht, wer weiß. Heute wird es oft als ein „Lied zur Wende“ gehört; | |
vielleicht verrät diese Rezeption mehr über ambivalente Gefühle, die manche | |
Menschen gegenüber der Deutschen Einheit haben, sagt eher etwas über | |
unerfüllte Sehnsucht als über das, was Steineckert mit diesen kryptischen | |
Zeilen tatsächlich intendiert haben will. Doch [1][die Sehnsucht des | |
Publikums] nach in irgendeiner Weise versöhnter Geschichte spiegelt auch | |
die Bereitschaft der Schriftstellerin, Dinge ins Verklärte zu entrücken. | |
Steineckert sei immer der Utopie treu geblieben, voller Optimismus, nicht | |
verbittert wie andere, die die DDR verließen – so deutet es die | |
Journalistin des Neuen Deutschland, Irmtraud Gutschke, in einem von | |
Deutschlandfunk Kultur gesendeten Beitrag zum 90. Geburtstag der Dichterin. | |
Eine romantische Optimistin also? Bei der Lektüre von „Langsame Entfernung“ | |
kann man den Eindruck gewinnen, dass dieser „Optimismus“ aus hart zu | |
verteidigenden Dogmen besteht. | |
## Ungeklärtes Verhältnis zur Zeugenschaft | |
Etwa in der Mitte des Buches findet sich ein mit „Grundsätzlich“ | |
überschriebenes Kapitel. Formuliert eine Schriftstellerin Grundsätze, | |
stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich für die Literatur insgesamt | |
ergeben, wie ihr [2][Verhältnis zur Zeugenschaft] ist. Das Kapitel beginnt | |
mit: „Ich würde niemals sagen: ‚Die DDR war ein Unrechtsstaat.‘ Weil es … | |
mich nicht zutrifft, nicht passt.“ | |
Eine solche Aussage ist erstaunlich. Nicht, dass der Begriff | |
„Unrechtsstaat“ auf ihre Erfahrungen nicht passt – im Folgenden schildert | |
sie, was die DDR ihr ermöglichte –, sondern dass sie als Schriftstellerin | |
einen Begriff ablehnt, weil er nicht mit ihrem Erleben korreliert, denn es | |
gibt ja Stimmen, die etwas anderes bezeugen können. | |
Ist es denn nicht auch ein Selbstverständnis von Literatur, solchen Stimmen | |
Gehör zu verschaffen, die für sich selbst nicht sprechen können? | |
Konstituiert sich nicht auch im Konflikt zwischen Ideologie und Individuum | |
die Sprache von Dichtung? | |
## Vermaledeite Selbstbeschneidung | |
Die Verwendung des Begriffs Unrechtsstaat grundsätzlich auszuschließen, | |
weil er die eigene Erfahrung nicht spiegelt, reduziert literarisches | |
Sprechen auf Selbstbezeugung. Doch es geht Steineckert dabei nicht nur um | |
Persönliches. Sie fährt „grundsätzlich“ fort: „Ich bin in der DDR nie … | |
einer politischen Lüge gezwungen worden.“ | |
Auch das wirft Fragen auf: Zunächst kann man feststellen, dass hier Ebenen | |
verknüpft werden, für die eine gesonderte Betrachtung lohnt: die Ebene der | |
„politischen Lüge“ und die des „staatlichen Zwangs“. Sie müssen nicht | |
zusammengehören, denn es ist vorstellbar, dass jemand mit einer politischen | |
Lüge einverstanden ist und nicht gezwungen werden muss, sie zu verbreiten. | |
Möglich ist auch, dass jemand eine staatliche Lüge nicht durchschaut und | |
dann in zwangloser Unwissenheit zu ihrem Komplizen wird. | |
Steineckerts Satz kann nur dann aufschlussreich sein, wenn das Verhältnis | |
der DDR zur Wahrheit geklärt ist. Erst mit einem übergeordneten ethischen | |
Wahrheitsbegriff ließe sich sagen, inwiefern in der DDR Zwang zur Lüge | |
bestand. Dass Steineckert einen solchen Zwang verneint, beantwortet die | |
Frage nach Wahrheit nicht, suggeriert aber eine Wahrhaftigkeit der DDR. | |
## Das Leiden der Anderen | |
Ähnlich bezeichnend ist auch ihr Satz: „Ich habe eine andere DDR erlebt, | |
als sie mir von genervten Bürgern der DDR geschildert wurde.“ Das wird für | |
sie zutreffen, doch über die DDR sagt es zunächst nur, dass man sie auf | |
verschiedene Weise erleben konnte. Ob anderes Erleben mit „genervt“ | |
hinreichend beschrieben ist, ist fraglich, wenn man an die Opfer denkt, | |
deren Geschichten nicht „genervt“ klingen, sondern Leidensgeschichten sind. | |
Die zerstörten Lebensgeschichten der Menschen, die als „Mauertote“ gelten, | |
erinnern daran. Die Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen erinnert daran. | |
Auch die Literatur hat immer wieder und eindringlich die Erinnerung an | |
solche Geschichten bewahrt. | |
Das Bezeichnende an Steineckerts „Grundsätzen“ ist, dass sie vorgeben, | |
private Erfahrungen zu sein, doch sie wollen über das Private hinaus, nur | |
das kann solche Sätze überhaupt zu „Grundsätzen“ machen. Steineckert | |
suggeriert, dass das Politische privat ist – und drängt dann mit ihren | |
Privatheiten ins grundsätzlich Politische zurück. | |
Dem Mauerfall widmet sie nur wenige Zeilen, bindet auch hier die Geschichte | |
zunächst in Privatgeschichte ein. Sie erzählt von einem Offizier am | |
Checkpoint Charlie, ein Freund ihres Mannes, der den Befehl ausgab, keine | |
Schusswaffe zu verwenden. Er habe so die Möglichkeit eröffnet, „dass | |
Menschen ihre eigenen Entscheidungen für oder gegen alles bisher Gelebte | |
treffen können“. | |
## Unmögliche Zukunft | |
Eine pointierte Drehung des Politischen ins Private, ins Politische zurück | |
– als wäre es überhaupt möglich, sich „für oder gegen das bisher Gelebt… | |
zu entscheiden, als sei das ein Ansinnen der Menschen gewesen, die die DDR | |
verlassen wollten, als wäre ihre Abwendung nicht eine Hinwendung zu einer | |
anderen möglichen Zukunft gewesen, deswegen, weil eine solche Zukunft in | |
der DDR unmöglich schien. | |
Beim Betrachten eines Bronzekopf von Hermann Kant konstatiert sie, in | |
diesem bildhauerischen Werk „so viel Wahrheit“ zu erkennen, die sich dann | |
in der Erkenntnis zuspitzt: „Wie unendlich traurig. So lange zu leben und | |
niemals wirklich geliebt zu werden.“ Jahrzehntelange germanistische | |
Forschung darf staunen, dass „die Wahrheit“, die über Kant – von einer | |
Schriftstellerin – erinnert wird, in erster Linie im Herzbruch des Autors | |
zu suchen ist, als sei er Protagonist eines Kitschfilms gewesen. Der von | |
Steineckert betrachtete Bronzekopf ist ästhetische Doppelung von Fassade – | |
einen Blick dahinter riskiert sie nicht. | |
Wolf Biermann erwähnt sie nur flüchtig, die Ausbürgerung gar nicht. In | |
einem 2014 erschienenen Beitrag für das kommunistische Magazin RotFuchs ist | |
ihre Erinnerung klarer: „Biermann hat es geschafft“, so resümiert sie dort, | |
„dass der DDR nichts anderes blieb, als den Sohn eines ermordeten | |
Widerstandskämpfers, Jude noch dazu, entweder ein- oder auszusperren“. | |
## Gefilterte Erlebnisse | |
Das also hat Biermann, Sohn eines „Juden noch dazu“, der DDR angetan: Sie | |
so gequält, dass ihr nichts anderes zu tun blieb. Mit 90 bleibt dann die | |
gefilterte Erinnerung an eine DDR, die es im Großen und Ganzen gut gemeint | |
haben will, denn „Ausgrenzung und tatsächlichen Schaden“, so erzählt uns | |
Steineckert, habe sie erst nach 1989 erlebt. | |
Es ist ein Erinnern, das sich nicht hinauswagt, Selbstvergewisserung von in | |
Bronze geschlagenen Grundsätzlichkeiten – und damit ist es die Kapitulation | |
der Schriftstellerin vor jeder Geschichte, der es gelingen könnte, ihre als | |
Privatheiten getarnte Dogmen zu irritieren. So verstummen die Erinnerungen | |
der Dichterin an genau solchen Punkten, an denen eine solidarische | |
Literatur erst um Worte zu ringen beginnt, um für den Anderen ihre Stimme | |
zu erheben. | |
Gisela Steineckert hat sich ohne Frage gar nicht verändert in wechselnden | |
Zeiten – das kann auch, so hat es uns Bertolt Brecht mal erzählt, ein Grund | |
sein, um erschreckt zu erbleichen. | |
8 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Miriam N. Reinhard | |
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