| # taz.de -- Paris-Roman von Patricia Holland Moritz: Ankunft im Kapitalismus | |
| > Patricia Holland Moritz schickt in „Drei Sommer lang Paris“ ihre | |
| > sächsische Protagonistin im vorletzten Sommer der DDR in die französische | |
| > Hauptstadt. | |
| Bild: Straßenszene im August 1989, mitten in Paris | |
| Ich hänge nicht an diesem Land, aber es ist verdammt schwer, es | |
| loszuwerden“, hat [1][der Schriftsteller Eugen Ruge] mal über seine | |
| DDR-Herkunft geschrieben und dabei auch die mutmaßlich schmerzhaft | |
| verlaufene gesellschaftliche Transformation hin zum Westen unmittelbar nach | |
| 1989 mitbenannt. | |
| Ruges Kollegin Patricia Holland Moritz knüpft mit „Drei Sommer lang Paris“ | |
| in Romanform an diesen schwierigen Prozess an. Sie beschreibt darin sehr | |
| anschaulich eine komplizierte Entwurzelung und Neuverortung, und das auf | |
| kautzige, aber auch spezifisch weibliche Sichtweise. | |
| Ihr Roman handelt von einer jungen Frau, Ulrike, die über den Umweg eines | |
| Ortswechsels von Karl-Marx-Stadt nach Paris ihre DDR-Herkunft abzustreifen | |
| versucht. „Drei Sommer lang Paris“ gehört in die Kategorie Wende-Roman. | |
| Vielleicht bildet es auch eine eigene Kategorie, den Vor-Nach-Wende-Roman. | |
| ## Penible Kontrolle | |
| Denn Ulrike, 21-jährig, reist bereits im Sommer 1989 von Karl-Marx-Stadt | |
| (dem heutigen Chemnitz) kommend nach Paris, einige Monate vor der Wende. | |
| Die penible Kontrolle und die Angst beim Verlassen der DDR gehen durch die | |
| peinsam-exakte Protokollierung des Grenzübertritts unter die Haut. | |
| Die Protagonistin folgt ihrer geschiedenen Mutter, die bereits in der | |
| französischen Hauptstadt mit einem neuen Partner lebt. Über die Dinge in | |
| der „ideologisch abgewirtschafteten DDR“ [2][(Steffen Mau)] bleibt Ulrike | |
| durch Briefe eines oppositionellen Punkfreunds im Bilde. Dessen | |
| Wasserstandsmeldungen aus Karl-Marx-Stadt zeugen von dem langsam sinkenden | |
| realsozialistischen Wrack und der gesellschaftlichen Erosion, die der | |
| Untergang mit sich bringt. | |
| Die Handlung von „Drei Sommer lang Paris“ ist raffiniert aufgefächert: Viel | |
| Zeit verbringt Ulrike mit dem Entdecken von Paris, inklusive Spurensuche | |
| nach Wohnhäusern von Dichter:innen, Sprachverwirrung und | |
| Missverständnissen bei der gesellschaftlichen Etikette im ihr unbekannten | |
| Frankreich. | |
| ## Französisch in Lautschrift | |
| Holland Moritz stellt dies teils dar, indem ihre die Fremdsprache gerade | |
| erlernende Protagonistin in Lautschrift Französisch spricht, somit auch den | |
| preußisch-sächsischen Zungenschlag einer Person enthaltend, die | |
| radebrechend sich zu verständigen sucht: „Ong se feh la biese?“ Hier liegt | |
| eine irre komische, aber auch autonome Ebene einer Frau, die die | |
| Reisefreiheit wörtlich nimmt, ihr Deutschsein infrage stellt und zugleich | |
| keine gesteigerte Lust hat, als Opfer im Westen zu enden. | |
| Im Erkunden von Paris, „der Stadt, die nie richtig wach wurde“, liegt als | |
| Subplot die Ankunft von Ulrike im Kapitalismus und ihr Umgang mit den | |
| Härten der Marktwirtschaft, die in der französischen Metropole der 1980er | |
| schon fortgeschrittener waren als etwa in der behüteten BRD jener Zeit. | |
| „Ich beachtete Ampeln. Und war damit ziemlich oft alleine.“ | |
| Zudem beschreibt Patricia Holland Moritz eine Coming-of-Age-Situation: | |
| Weil Ulrike jung ist und emanzipiert, löst sie sich rasch von der Mutter, | |
| und auch von deren altmodisch-bildungsbürgerlichem Parisbild. Sie entdeckt | |
| an der Seine – auch beim Abgleichen mit vorhandener deutscher | |
| Parisliteratur – eine eigene Stadt, jenseits der Ringautobahn Péripherique, | |
| viel migrantischer und stärker von den Verwerfungen des französischen | |
| Kolonialismus geprägt. | |
| ## Schlagfertig und rastlos | |
| Hier entlarvt die Autorin auch das hohle DDR-Gehabe von der | |
| Völkerfreundschaft und denkt zurück an die Segregation von mosambikanischen | |
| Vertragsarbeitern in Karl-Marx-Stadt. Holland Moritz zeichnet ihre | |
| Protagonistin als quirlige, schlagfertige und neugierige Person, deren | |
| Erfahrungen in der „mobilitätsblockierten DDR-Gesellschaft“ (Steffen Mau) | |
| sie im Westen rastlos hat werden lassen. | |
| Ulrike beginnt im Büro einer Lkw-Spedition zu jobben, wohin sie täglich per | |
| RER-Vorortbahn und Bus fährt. Die Details über die Alltagskommunikation | |
| im Pariser Nahverkehr und die Modalitäten bei der | |
| Fern-Schnell-Gut-Transport-Logistik gehören zu den Höhepunkten, dieses | |
| vorzüglich recherchierten Romans. | |
| Gut gefällt an „Drei Sommer lang Paris“ zudem, wie die erzählte Gegenwart | |
| der Wendezeit mit Geschichte verknüpft wird, wenn Ulrike diese | |
| unterschiedlichen Perspektiven abgleicht: „Ich fühlte mich am wohlsten, | |
| wenn ich durch die Vergangenheit gehen konnte, beim Laufen durch die Stadt, | |
| beim Lesen meiner Bücher.“ Schließlich schildert die Protagonistin eine | |
| Liebesgeschichte, die tragisch und ultralakonisch endet (gespoilert wird | |
| nicht). | |
| Holland Moritz [3][schließt mit ihrem zweiten Roman an ihr Debüt | |
| „Kaßbergen“ an], in dem sie die relativ behütete DDR-Kindheit von Ulrike | |
| beim Vater und der Großmutter in Karl-Marx-Stadt geschildert hatte. | |
| Autobiografische Bezüge fließen wieder mit ein, und so würde es nicht | |
| verwundern, wenn in dem dritten Roman dann auch die Vergangenheit der | |
| Autorin als Bookerin für Bands auftauchen würde. | |
| 13 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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