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# taz.de -- Eröffnung Chemnitz Kulturhauptstadt 2025: Einfach mal ausprobieren
> DIY, Ostmoderne, Apfelbäume: In Chemnitz kommt Unterschätztes zur
> Geltung. Ein Bericht von der Eröffnung des Europäischen
> Kulturhauptstadtjahres.
Bild: Wo die Silberminen Reichtum und Aufstände brachten: „Coin Stack 2“, …
In seinem Roman „Die unsichtbaren Städte“, in dem er in 55 Kapiteln
verschiedene Charakterzüge des Urbanen entwickelt, lässt Italo Calvino
reale Figuren der Geschichte über den Mythos von Großstädten nachdenken. An
einer prägnanten Stelle erklärt der Handlungsreisende Marco Polo seinem
Gegenüber, dem Herrscher Kublai Khan, es gebe zwei Möglichkeiten, den
Zerfall von Städten aufzuhalten, eine sei, „die Hölle zu akzeptieren und so
sehr Teil von ihr zu werden, dass man sie nicht mehr sieht“. Auf die
sächsische Industriestadt Chemnitz und ihre bewegte Geschichte gemünzt,
trifft Marco Polos zweite Idee zu, sie „verlangt ständige Aufmerksamkeit
und Lernbereitschaft: zu suchen und erkennen zu lernen“, dem Guten „Dauer
und Raum zu geben“. Ganz besonders, wo Chemnitz nun Europäische
Kulturhauptstadt ist und diese Auszeichnung als einmalige Chance begriffen
hat, an ihrer Identität zu arbeiten. Nicht nur als Schaufenster für
BesucherInnen, sondern als Bereicherung für die Menschen vor Ort.
„C_the_Unseen“, so das Motto dieses Europäischen-Kulturhauptstadtjahres
2025, bringt die unterschätzte Stadt besser zur Geltung und stärkt sie.
„Miteinander, Vielfalt und Geschichte sind in der DNA der Stadt“, sagt Sven
Schulze. Der Chemnitzer Oberbürgermeister von der SPD, flankiert von der
grünen Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der sächsischen
Kulturministerin Barbara Klepsch von der CDU und dem sozialdemokratischen
EU-Kommissar für Jugend, Generationengerechtigkeit und Kultur, Glenn
Micaleff, bestätigt Italo Calvino indirekt bei der Pressekonferenz am
Samstag, wenige Stunden vor Beginn der Eröffnungsfeier. Die Chemnitzer
seien von Natur aus skeptisch, das Glas sei für sie eher halb leer. Wenn am
Ende des Kulturhauptstadtjahres herauskäme, das Glas sei halbvoll, wäre
viel gewonnen, hofft Schulze.
Damals, 2020, als man sich um die Auszeichnung beworben hatte, war das
Image der Stadt ramponiert, 2018 kam es zu rechtsradikalen Ausschreitungen
und Chemnitz landete in der Folge sogar auf dem Titelblatt der New York
Times.
## Henry van de Veldes Kunstnetzwerk
In den fünf Jahren seither ist viel geschehen. An verschiedenen Stellen im
Stadtgebiet ist zu erkennen, dass das Hässliche von markanten Baudenkmälern
wieder zurückgedrängt wurde. Ein Leuchtturmprojekt etwa ist die Villa
Esche. Auf einem Hügel oberhalb des Zentrums liegt das vollständig
renovierte Wohnhaus des Chemnitzer Textilunternehmers Max Esche, erbaut
und ausgestattet vom belgischen Architekten [1][Henry van de Velde, der
hier die Basis für die Philosophie von Werkbund und Bauhaus] legte. Die
1902–03 erbaute Jugendstilvilla mit ihren fließenden Räumen und bis in
kleinste Detail abgestimmten Designs von Treppen, Türen, Lampen und
Mobiliar ist eine Mischung aus Museum und Veranstaltungsort. Ergänzt um die
Originalbibliothek der Familie Esche sowie Baupläne, Fotografien und Werke
Henry van de Veldes ist hier ein frühes Beispiel für ein Netzwerken
zwischen Kunst und (Textil-)Industrie anschaulich gemacht.
Der Auszeichnung „Europäische Kulturhauptstadt“ wird insgesamt mit einem
erweiterten Kulturbegriff begegnet. Den historisch einmaligen Anlass hat
man nicht nur mit Hochkultur ausgefüllt, mithilfe von staatlichen,
regionalen und städtischen Förderprogrammen wurde die Infrastruktur an
vielen Stellen verbessert, zum Beispiel wurde für rund 15 Millionen Euro
ein Park mit Fahrradweg an einem freigelegten Bach errichtet, der das von
einer Bahnlinie zerschnittene Viertel am Pleißenbach wieder zusammenführt.
An anderen Stellen wird der Zusammenhalt der Stadtgesellschaft durch
[2][das gemeinsame Pflanzen von Apfelbäumen] gefördert.
Brücken bauen zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten, das wollen
auch Fenja (20), Emma (20), Samira (21) und Selma (25), die am Samstag in
der Stadthalle von ihrem Projekt berichten. Im Rahmen von Chemnitz 25
werden sie über das Jahr verteilt vier anfängerfreundliche Workshops zum
Thema „Fashion und Nachhaltigkeit“ bestreiten, mit Gästen dabei jeweils
einen besonderen Blick auf die osteuropäische Mode werfen. Selma berichtet,
dass ihre Mutter sich zu DDR-Zeiten Nähen und Sticken selbst beigebracht
hatte und für Freunde Mode entwarf, die ihrem Geschmack entsprach. Das
erzwungene Improvisieren von damals soll ins Heute transferiert werden.
Dabei lernen die jungen Frauen auch die Planung und Organisation ihrer
Vorhaben im Crashkurs.
In Chemnitz sei eine Ost-do-it-yourself-Mentalität in der Subkultur
ausgeprägt, man probiere viel Neues aus, erklärt die gebürtige Chemnitzerin
Selma. Fenja, die erst vor wenigen Monaten zum Studium aus NRW nach Sachsen
kam, sagt, wie sie sich bald heimisch fühlte, die Stadt als offen und bunt
empfinde. Ihr als Neuankömmling werde es in den Clubs leicht gemacht, die
Atmosphäre sei aufregend und doch überschaubar.
## Zehntausende Zuschauer und dann noch 200 Nazis
Zur Eröffnung am Samstag sind Zehntausende auf den Straßen, die Stimmung
ist fröhlich, wobei die großen Sicherheitsvorkehrungen ins Auge fallen und
die massive Polizeipräsenz. Poller sperren Fußgängerbereiche ab. Dahinter
versammeln sich Menschenmassen, trinken und essen an den Fressbuden. Auf
mehreren Livebühnen finden Konzerte statt.
Am Johannisplatz legt der junge DJ Med Tosby Trapsound von Lil Yachty auf.
Junge und Alte stehen rings ums Pult, tanzen und trinken Glühwein. Auf die
Frage, ob der Beginn des Kulturhauptstadtjahres ihn glücklich stimme,
entgegnet Falk, 52, „ja, denn wir dürfen das Lachen nicht verlernen“. Ihm
gefalle zwar nicht alles, manche Entscheidungen zu „C_the_Unseen“ im
Vorfeld habe er als intransparent wahrgenommen, aber er sei froh, wenn nun
die Menschen durch den Veranstaltungsreigen besser zusammenfinden.
Wenige Meter daneben, [3][im ehemaligen Kaufhaus Schocken], erbaut vom
Architekten der Stromlinien-Moderne, Erich Mendelsohn, der aus
Nazideutschland flüchten musste, befindet sich heute das staatliche
sächsische Archäologiemuseum SMAC. „Multikulti in Sachsen. Seit 7000
Jahren“ ist sein Werbespruch. Im ersten Stock sind Fundstücke aus
Markkleeberg ausgestellt, wo vor circa 280.000 Jahren Neanderthaler lebten.
Um die Ecke vom SMAC startet am Nachmittag eine Nazidemo der Freien Sachsen
mit vielleicht 200 Teilnehmern. Sie trommeln unrhythmisch, schwenken
russische Fahnen und brüllen „Ohne Polizeischutz wärt ihr gar nicht hier“.
Die Gegendemo ist bunter, lauter, größer. Etwas später wird Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier in seiner feierlichen Rede zum Festakt in der Oper
sagen, mit Blick auf 2018 komme es jetzt darauf an, „in den Dialog zu
treten, aus Unterschieden zu lernen und gemeinsam etwas Zukunftsweisendes
zu entwickeln“.
In Chemnitz gibt es viele Lücken im Stadtbild, Ruinen und Brachflächen,
hervorgerufen durch Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg, [4][die
historischen Umbrüche in der DDR, als Chemnitz Karl-Marx-Stadt hieß,] und
nach 1989, als viele Tausende Menschen die nun wieder Chemnitz genannte
Stadt verließen. „Maschinenbetriebene Stadt“ hat die Autorin Patricia
Holland Moritz in ihrem Roman „Kaßbergen“ Chemnitz genannt. Der Umgang mit
diesem Erbe fällt schwer, die Transformation ist ein noch immer andauernder
Prozess.
## Vieles noch ein „offener Prozess“, nicht der Kunstparcours
Die Präsentation einiger Programmpunkte findet in der „fabrik“ statt, einer
ehemaligen Textilmaschinenfabrik, die nun zum schicken Co-Working-Space
umgerüstet ist, mit vollverglaster Bar, Basketballplatz auf dem Dach und
eigener Fitnessetage. Beeindruckend gewiss, aber es wirkt, als müssten die
Menschen das Projekt erst noch mit Sinn füllen. Auch Khaldun Al Saadi, der
den Programmteil „Offener Prozess“ bei Chemnitz 2025 verantwortet, an
dessen Ende ein [5][Pilot-Dokumentationszentrum zum Wirken der
Rechtsterroristen NSU in der Stadt] entstehen wird, berichtet, dass
momentan erst mal nur ein Wandgemälde in der Stadt an die Mörderbande
erinnert, die eine Zeit lang in Chemnitz untertauchen konnte. Al Saadi ist
sich sicher, dass Ende des Jahres ein Archiv mit Dauerausstellung und
Veranstaltungsmöglichkeiten existieren wird.
Andere Projekte sind schon weiter vorangeschritten. Teil der Europäischen
Kulturhauptstadt ist der Kunst- und Skulpturenpfad Purple Path. Kuratiert
von Alexander Ochs haben mehr als 60 Künstler:Innen an 38 Stationen im
Umland von Chemnitz Kunst im öffentlichen Raum geschaffen. „Coin Stack 2“
des Iren Sean Scully steht neben der prächtigen spätgotischen Kirche St.
Wolfgang im Erzgebirgsstädtchen Schneeberg. Direkt neben dem Kirchturm und
eingerahmt zwischen Bürgerhäusern hat Scully in Erinnerung an seinen Vater,
der einen Friseursalon führte und abends zu Hause auf dem Esstisch aus dem
Trinkgeld Münzstapel errichtete, einen Stapel mit 40 runden Metallscheiben
auf 2,40 Meter Höhe aufgebaut. Schneeberg wurde, wie viele Orte im
Erzgebirge, durch den Bergbau reich. Hier gab es Silberminen und im 15.
Jahrhundert kam es zu Arbeitskämpfen. Vom Reichtum zeugen nicht zuletzt die
Kirche und ihr Altargemälde von dem [6][Renaissance-Maler Lucas Cranach dem
Älteren.]
Es gibt viel zu entdecken in Chemnitz und um die Stadt herum, jetzt müssen
nur noch die Leute kommen.
19 Jan 2025
## LINKS
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[4] /Revival-der-DDR-Moderne-und-Staedtebau/!6045314
[5] /12-Jahre-nach-NSU-Enttarnung/!5966977
[6] /Ausstellung-ueber-Zeit-der-Bauernkriege/!6048132
## AUTOREN
Julian Weber
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