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# taz.de -- Chemnitzer Arbeitsbiografien: Braucht vielleicht jemand eine Tasse?
> „Der Bus ist abgefahren“ ist eine theatrale Busfahrt durch Chemnitz.
> Bewohnerinnen der sächsischen Stadt erzählen darin von ihrer
> Lebensrealität.
Bild: Die Chemnitzerin Karin Kramer singt im Sächsischen Textilforschungsinsti…
Durchsagen sind am Chemnitzer Busbahnhof keine zu hören. Er wirkt wie
leergefegt, die Fahrkartenschalter sind geschlossen, vereinzelt warten
Fahrgäste. Dann kommt Leben in die Bude: Nahe einer Haltebucht sind zwei
Lautsprecher angebracht, aus denen elektronische Musik erklingt. Dazu
machen drei Frauen, einheitlich in Schwarz und Lila gekleidet, synchrone
tentakelartige Tanzbewegungen, umspielen die Wartenden.
Am Treffpunkt für „Der Bus ist abgefahren“, einer „theatralen Busfahrt“
durch die sächsische Industriestadt, fährt tatsächlich ein Gelenkbus wie in
Zeitlupe vorbei, während die drei Tänzerinnen ihre fließend-staksigen
Tintenfischbewegungen intensivieren.
Es ist ein ungarischer „Ikarus“, Baujahr 1989, 16,5 Meter lang, 2,5 Meter
breit, zu DDR-Zeiten noch im Nahverkehr im Einsatz. Dann kehrt der Oldtimer
mit einem weiten U-Turn zurück an die Haltebucht, seine Türen öffnen laut
scheppernd, „Sonderfahrt“ steht im Fahrtzielanzeiger.
Der Ikarus-Motor surrt so stark, dass auch der Fahrgastraum vibriert, trotz
der braunen Kunstledersitze wird man durchgeschüttelt. Im Fahrgastraum
riecht es penetrant nach Diesel. Er ist frisch renoviert, weiß und
leuchtend blau lackiert, dennoch verspricht „Der Bus ist abgefahren“ keine
Fahrt ins Blaue zu werden.
„Es gibt 19 Kotztüten und zwei Toilettenpausen“, erklärt eine junge Frau
ohne Umschweife. Sie ist in Schwarz gekleidet, mit einem gezackten
cremefarbenen Drachenschweif aus Kunststoff, der wie eine Stola über die
Schulter geworfen ist.
VoPo-Imperativ und Butterfahrtanimation
Die junge Frau stellt sich als „Reiseleiterin Caroline Loren“ vor. „Merken
Sie sich einfach Doreen, wir sind in Ostdeutschland.“ Mal im zackigen
VoPo-Imperativ, mal im latent übergriffigen (West-)Ankumpel-Habitus der
Butterfahrtanimateurin, erklärt und kommentiert Doreen Verhaltensmaßregeln
im Bus. „Einsteigen!“, „Aussteigen!“ Nach dem Kommando spielt Doreen
gefühlvoll auf einer Mundharmonika.
Die Recherchereise für „Der Bus ist abgefahren“ ist nach einer Idee der
Regisseurin Gabi Reinhardt über einen fünfmonatigen Zeitraum in Workshops
und Schreibseminaren entwickelt worden. Aus Gesprächen mit 40
Teilnehmerinnen und Interviews mit weiteren Chemnitzer Bürgerinnen, die
über ihre eigenen Biografien geforscht haben.
Laien zwischen 17 und 85 Jahren spielen an der Seite von Schauspielerinnen.
Situativ denken sie über Lebenswirklichkeiten nach, schildern
Arbeitserfahrungen und die spezifische weibliche Perspektive von
Chemnitzerinnen auf [1][ihre Heimatstadt]. Wobei die unterschiedlichen
Lebensalter Geschichte automatisch mit Gegenwart mischen, Blicke in die
Zukunft ausdrücklich mit einschließen.
Erste Station ist der „Nischel“, das riesige Karl-Marx-Monument [2][im
Zentrum von Chemnitz]. Zu DDR-Zeiten, als Chemnitz Karl-Marx-Stadt hieß,
sollte es eine „sozialistische Modellstadt“ sein. Mit Plattenbauvierteln
und zweispurigen Ausfallstraßen. Das Marx-Monument war an der zentralen
Schneise im Stadtzentrum eingeweiht worden.
Ausschreitungen 2018
Dort sammelten sich 2018 auch die Nazis, als die Stadt von mehrtägigen
rechtsradikalen Ausschreitungen erschüttert wurde. Genau an jener Stelle
sprach im Januar auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur
feierlichen Eröffnung des Europäischen Kulturhauptstadtjahres.
[3][„Der Bus ist abgefahren“] ist Teil des offiziellen Programms. „C_The
Unseen“ ist [4][das Motto des Kulturhauptstadtjahres] und jene unbekannten
Seiten und verborgenen Potenziale von Chemnitz sichtbar zu machen, dem
entspricht „Der Bus ist abgefahren“. Die Beteiligung von Einwohnerinnen
wirkt in keiner Sekunde bemüht oder aufgesetzt.
Die Fahrgäste werden aus dem Bus zunächst zur Rückseite des Marx-Monuments
bugsiert. Dort steht ein zehnköpfiger Frauenchor auf einem Podest bereit
und singt feierlich: „Egal, was ich mache, ich bin immer zuerst eine Frau“.
Für Chor und Zuhörer:Innen besteht erhöhter Schwierigkeitsgrad.
Zeitgleich findet in Chemnitz der „Firmenlauf“ statt. Unternehmens-Teams
aus der ganzen Republik messen sich in einer Stadtrallye, ein Moderator
feuert die Sportler per Lautsprecher an. „Welches Unternehmen hat den
schnellsten Chef“ steht als Schlagzeile auf Seite 1 in der Chemnitzer
Freien Presse.
Tätigkeiten im Alltag werden aufgezählt
Die Frauen im Chor wechseln einander ab. Beharrlich und konzentriert
übernehmen einzelne Sängerinnen die Leadstimme, treten nach vorne und
wieder zurück ins Glied. Zählen jeweils Tätigkeiten im Alltag auf: „Essen
kochen ist Arbeit“, „Eltern pflegen ist Arbeit“, „Erreichbar sein ist
Arbeit“… Zum Schluss nehmen alle Frauen ihre Handtaschen hoch und leeren
sie aus: Wasser ergießt sich dabei synchron auf dem Trottoir. Doreen spielt
Mundharmonika.
Der Bus fährt weiter zum Sächsischen Textilforschungsinstitut, Station
Nummer zwei. Schon vor der Wende war es für seine wissenschaftlichen
Forschungen auf dem Gebiet von Hochleistungstextilien (wie sie in
Sicherheitsgurten verwendet werden) führend, schickt Doreen voraus.
Trotzdem wurde die Belegschaft 1992 massiv verkleinert. Es gab
Entlassungen, Karrieren endeten. Fünf Frauen in Kittelschürzen singen und
tanzen über Stühle, Tische und an Maschinen vorbei im Takt der Stechuhr.
„Arbeiten und umfallen, arbeiten und umfallen.“ Abwechselnd treten sie vor,
um über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu berichten. Eine der
Frauen, Karin Kramer, alleinerziehend, erzählt, wie ihr Nina Hagen mit
einer selbstbewussten Inszenierung bei einem TV-Auftritt Mut gespendet
habe. Die Kittelschürze erinnere sie an ihre Oma, die als Herrenschneiderin
gearbeitet habe. Wieder kommen Handtaschen zum Einsatz, die reihum
aufgehoben und wieder abgelegt werden.
Plätze tauschen, Gedanken austauschen
Unterwegs zur nächsten Station im Bus müssen die Fahrgäste wie bei einem
Gesellschaftsspiel Plätze tauschen, Gedankenaustausch als simple Idee mit
maximaler Wirkung. Wir halten in einem Wohngebiet im Stadtteil Gablenz vor
einem vierstöckigen Mietshaus, Baujahr 1958. Die Nachbarn schauen von den
Balkonen zu, führen ihre Hunde Gassi oder fahren mit BMX-Rädern Pirouetten.
Im ersten Stock faltet eine Frau (Wiete Schirmer) auf einem Balkon Wäsche
und zählt auf: „Ich bin die Tochter der elendigen [5][vietnamesischen
Vertragsarbeiterin], mit der niemand spricht. Ich bin alle Frauen.“ Ein
zweite, jüngere Frau (Sabine Meier) tritt hinzu: „Ich bin erschöpft.“ Die
beiden setzen kampfeslustig ihre Punchlines; Rhythmus und Flow bestechen,
dabei beschreiben sie nur die alltägliche mühselige Auseinandersetzung um
Würde und Anerkennung, die Wut darüber, dass Gleichberechtigung immer noch
nicht vollständig erreicht ist.
Das Diktum von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1946, wonach ein Mann nie
damit beginnt, sich als Individuum eines bestimmten Geschlechts
darzustellen, hier wird es von zwei Laiendarstellerinnen anschaulich
gemacht und aktualisiert.
Kaffeepötte mit dem Bild von Jenny Marx
Auf der Fahrt zur nächsten Station raunt meine Sitznachbarin, in der Nähe
befinde sich das Gefängnis, in dem [6][Beate Zschäpe] einsitzt. „Vielleicht
jemand eine Tasse?“ Doreen tanzt durch den Gang des Ikarus-Busses und
vertickt Kaffeepötte, Kühlschrankmagneten und T-Shirts mit dem Bild von
Jenny Marx – „Der Frau, die Karl Marx den Rücken freigehalten hat,
Manuskripte und Druckvorlagen für ihn geschrieben hat, ihn schließlich
gepflegt hat.“ Unter Jennys Konterfei steht „Marx-Stadt“.
Dann halten wir am leeren Stadion an der Gellertstraße, Spielstätte des
Chemnitzer Fußballvereins CFC und werden durch ein Tor ins Innere zur
Tartanbahn geleitet. Auf den Rängen steht in der Fankurve ein riesiges
Graffiti mit dem Spruch „Tradition stirbt nie“.
Sechs Schauspieler:Innen nehmen ein schwarz-gelbes Band und bringen es
symbolisch über dem Spruch an. Landnahme gegen die Rechten, die die
Fanszene des CFC dominieren. Rechte greifen in Sachsen auch CSD-Paraden an.
Zu einer Rede der afroamerikanischen Feministin Audre Lorde werden einzelne
Gliedmaßen eines Tintenfischs zusammengefügt, bis die Tentakeln
wellenartige Bewegungen ergeben. Die Mundharmonika ertönt.
Doreen fängt plötzlich an, durch den Bus zu tanzen. Im drehbaren Gelenkteil
des Ikarus singt sie Karaoke zu Dolly Partons Hit „9 to 5“, bricht ab und
erzählt von Minna Simon, die 1883 als Streikführerin in der Chemnitzer
Aktienspinnerei einen Ausstand gegen miese Arbeitsbedingungen angeführt
hat. 2023 wurde in Chemnitz eine Straße nach Minna Simon benannt, trotzdem
ist sie unbekannt.
Die letzte Station der Busreise ist eine Notlösung: Wir halten am
Luxor-Palast, dem ehemaligen Puppentheater und Lichtspielhaus. Eigentlich
war geplant gewesen, das „Grande Finale“ im Ratssaal des Stadtparlaments
stattfinden zu lassen. Doch ein Drittel des Stadtrates sind Rechtsextreme.
Im Saal wird nach Wahlen regelmäßig gefeiert. Für das Theaterstück gab es
dagegen keine Erlaubnis. Also versammeln sich die Frauen in einem
heruntergekommenen Theatersaal und singen eine Art gregorianischen Gesang
in verschiedenen Tonlagen: „Ich schulde Dir nichts!“ Das sitzt.
8 Sep 2025
## LINKS
[1] /Kulturkuerzungen-in-Chemnitz/!6087439
[2] /Ausstellung-ueber-Klimawandel-in-Chemnitz/!6016134
[3] https://weltecho.eu/projekte
[4] /Eroeffnung-Chemnitz-Kulturhauptstadt-2025/!6059860
[5] /Vietnamesische-Vertragsarbeiter-in-DDR/!6010154
[6] /NSU-Dokumentationszentrum-in-Chemnitz/!6005197
## AUTOREN
Julian Weber
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