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# taz.de -- Kulturkürzungen in Chemnitz: Prekäre Demokratie
> Chemnitz ist Europäische Kulturhauptstadt. Trotzdem wurden massive
> Sparmaßnahmen in der Kultur laut. Aus Protest wurde das Schauspielhaus
> besetzt.
Bild: Geschlossen doch nicht ungesehen: am Freitag wurde das leerstehende Schau…
Raik Drechsler hat zwei Leben. Ein Leben zu DDR-Zeiten, in dem der gelernte
Werkzeugmacher aus Karl-Marx-Stadt bei der Staatsgewalt aneckte. Als
jugendlicher Besitzer eines Mopeds wurde ihm der Führerschein entzogen,
weil er zu schnell unterwegs gewesen war. Jahrelang durfte er wegen
„Rowdytums“ nicht mehr aufs Moped steigen. Wenige Jahre vor der Wende
geriet er unter Beobachtung der Stasi, weil er einen Fahrradclub gegründet
hatte. Der war zwar nicht sehr politisch, aber als „staatsferne“
Organisation verdächtig genug, um observiert zu werden.
Heute, im Alter von 62, ist er längst im zweiten Leben, schwärmt über
Fernreisen, die er nach 1989 mit einem alten Diesel-Benz unternommen hat.
Den hat er gebraucht gekauft und in seiner Schraubergarage selbst
hergerichtet. Die Garage am Schützenplatz im Stadtteil Altendorf hatte
schon sein Vater Anfang der 1970er bezogen. In einem riesigen Areal stehen
sie noch heute, 1.200 Garagen mit Wellblech gedeckt, von schwarzer
Teerpappe ummantelt und mit hölzernen Flügeltoren.
Stolz zeigt Drechsler seine restaurierte „Schwalbe“, ein Moped der Firma
Simson in Hellgrau und blitzendem Chrom. Der Chemnitzer kann über sein
erstes Leben lachen, erklärt lakonisch, was ihm an der DDR missfiel, wie
schwer ihm die Transformation in die Bundesrepublik fiel, aber spricht
deutlich aus, was er gegenwärtig im Alltag vermisst: Den sozialen
Zusammenhalt, den es vor 1989 gab, beim florierenden Tauschhandel, der
Mangelwirtschaft zum Trotz.
Drechsler ist Teil von „#3000 Garagen“, einem partizipativen
Alltagskunstprojekt [1][im Rahmen von „C_the_Unseen_“, dem offiziellen
Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz]. Die vielen alten
Garagen(höfe) in der Stadt werden zur Besichtigung geöffnet oder aufgepimpt
als kleine Ateliers und Werkstätten. Drechslers mit grünem Teppich
ausgelegte im Stadtteil Altendorf, findet er, sei mehr als eine Garage,
„ein Domizil“, auch wenn es eigentlich nur eine etwas aus der Zeit
gefallene Errungenschaft ist: „Ein Unterstand für Kraftfahrzeuge.“
## „C_the_Unseen_“ klingt nach einer Erfolgsgeschichte
Am Freitag ist Drechsler, wie viele andere Chemnitzer:Innen, bei der
Eröffnung im Garagencampus in einer alten Fabrikhalle an der
Zwickauerstraße. Trauben von Menschen stehen zusammen und schnacken. Die
Fotografin Maria Sturm erzählt über ihre Fotoserie „Mitgliederversammlung�…
in der sie 164 Garagisten vor ihren Pkw-Behausungen abgebildet hat. Man hat
das Gefühl, die Stadtgesellschaft rückt dadurch wieder etwas näher
zusammen.
Noch ist es zu früh für eine Zwischenbilanz, aber was einem lokale
Kulturproduzent:innen und Hoteliers an Eindrücken vermitteln, zeugt
davon, dass „C_the_Unseen_“ eine Erfolgsgeschichte wird: Tickets seien
stark nachgefragt, Ausstellungen und Konzerte bestens besucht, auch die
Zahl der Übernachtungen in Chemnitz hat seit Januar zugenommen, und die
Presse, auch aus dem Ausland, sei überwiegend positiv.
Die Finanzierung des Europäischen Kulturhauptstadtjahres ist vertraglich
gesichert. Kosten werden mischfinanziert aus Fördergeldern von EU, Bund und
Land. Ein Grund, warum Chemnitz den Zuschlag zur „Europäischen
Kulturhauptstadt“ überhaupt bekommen hat, war die Nazirandale von 2018.
Chemnitz hat diese proaktiv in ihrer Bewerbung aufgenommen und erhofft
sich, mit der Kultur ein Fest der Vielfalt auszurichten, das rechte
Umtriebe zurückdrängt. [2][Nun sind auch 2025 die Nazis weiterhin in der
Stadt aktiv und gewalttätig], wie ein Überfall auf die beliebte Bar
„Balboa“ im Januar bestätigt. Die AfD mit Alexander Gauland als ältestem
Abgeordneten im Bundestag, der sich nicht die Bohne um Chemnitz kümmert,
hat in der Stadt irrational viele Wahlstimmen erhalten.
## Hiobsbotschaften für die Kultur
Wer sich über den gelungenen Auftakt zur Kulturhauptstadt Chemnitz freut,
bekommt eine Hiobsbotschaft. Während die Stadt im Großen mit dem
Europäischen Kulturhauptstadtjahr als Aushängeschild beschenkt wird, muss
sie in den Feldern Bildung, Soziales, Kultur und Jugend erheblich sparen.
Eine Haushaltssperre wurde verkündet, 25 Prozent weniger Geld stehen 2025
zur Verfügung.
Was das konkret bedeutet, wird am Chemnitzer Club „Weltecho“ deutlich.
Dessen Gebäude gehört eigentlich der Stadt, aber ein Verein hält es am
Leben mit viel ehrenamtlichem Engagement. Seine Leiterin Julia Vogt
erzählt, dass nun 15 bis 20 Prozent an Kosten eingespart werden müssen.
Wahrscheinlich wird deshalb der Betrieb des clubeigenen, äußerst beliebten
Kinos eingestellt. Es steht sogar im Raum, dass jemand der acht
Angestellten entlassen wird.
Sparzwänge gehen selbst an den großen Institutionen nicht vorbei. Anja
Richter, Kuratorin am Museum Gunzenhauser, wo vor kurzem die hochgelobte
Ausstellung „European Realities“ mit vielen unbekannten Werken zur Neuen
Sachlichkeit eröffnet hat, berichtet, dass das Museum einen zweiten
wöchentlichen Schließtag einführen soll, der nicht nur Mitarbeitenden
Lohnkürzungen beschert, sondern auch die Cafeteria und den Museumsshop an
Umsätzen hindert.
Fünf Jahre hat Richter ihre Ausstellung konzipiert, die bisherigen
Besucherzahlen bestätigen die Mühen, ein zweiter Schließtag ergibt absolut
keinen Sinn. Die gesamte Chemnitzer Kulturszene hat sich schon vor geraumer
Zeit zum Bündnis „Hand in Hand“ zusammengeschlossen, um kommerzielle,
staatlich geförderte und ehrenamtliche Initiativen besser miteinander zu
verzahnen, um sich gemeinsam im Kampf gegen rechts zu wappnen.
## Das Engagement der Kultur wird nicht geschätzt
Die freien Kulturschaffenden darunter fühlen sich für ihr Engagement zu
wenig wertgeschätzt. „Man arbeitet mehr für die Stadt, als man
rausbekommt“, sagt ein Dramaturg, der seit Langem Jugendtheater macht. Bei
einer Umfrage (2023) unter der jungen Chemnitzer Bevölkerung steht „Kultur“
an zweiter Stelle, bei dem, was die Stadt für sie überhaupt lebenswert
macht und zum Bleiben bewegt.
Als Zeichen gegen die Kürzungen besetzt am Freitag gegen 19 Uhr ein Teil
der Chemnitzer Kulturszene das seit 2022 leer stehende Chemnitzer
Schauspielhaus und rollt einen roten Teppich am Eingang aus. Man fühlt sich
an Italien erinnert, wo Theater besetzt werden, um gegen prekäre
Arbeitsbedingungen oder mangelnden Raum für Kultur zu protestieren. In
Chemnitz verhalten sich die Dinge etwas anders: Es gibt keinen Mangel an
Kultur, und es stehen auch genügend Räume zur Verfügung, aber die
Demokratie ist immer noch prekär.
„Wir stehen für die Stärkung und nachhaltige Finanzierung sozialer und
bildungspolitischer Angebote, insbesondere in Zeiten, in denen
demokratische Werte durch das Aufkommen rechter populistischer Bewegungen
bedroht sind“, teilen die Demonstrierenden in einem Manifest mit, das auch
verlesen wird.
Ein junger Mann, der sonst kleine Festivals organisiert, sagt, wie wichtig
es sei, in der Kulturarbeit selbstwirksam zu sein. Ursprünglich war in der
Bewerbung zum Kulturhauptstadtjahr noch vorgesehen, das
Schauspielhausgebäude als „Interventionsort“ zu nutzen und es zu
renovieren. Zu DDR-Zeiten war es vom Architekten Rudolf Weißer 1980 neben
dem Park der Opfer des Faschismus erbaut worden, der auch den Hochhausturm
des Congresshotels in der Stadtmitte entworfen hat.
## Das Schauspielhaus steht ungenutzt leer
Im Finanzierungsplan für die Europäische Kulturhauptstadt waren dafür
ursprünglich sogar 16 Millionen Euro vorgesehen. Brandschutzexperten und
Statiker wurden hinzugezogen und winkten ab: Eine Renovierung würde sich um
ein Vielfaches verteuern. Nun steht das Schauspielhaus leer, [3][während
das Theater aktuell im Spinnbau untergebracht ist], einer ehemaligen
Kantine, deren Atmosphäre etwas hölzern sei, wie Augenzeugen berichten.
In einem Manifest verkündet die Besetzergruppe ausdrücklich, dass sie das
Europäische Kulturhauptstadtjahr begrüßt, aber die Sparmaßnahmen und die
dadurch grassierende Unsicherheit in Chemnitz missbilligt. „Was wir heute
einsparen, kostet uns die Zukunft.“ Sie zitieren den CDU-Politiker Richard
von Weizsäcker: „Kultur ist kein Luxus, den wir streichen können, sondern
der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit
sichert.“ Das möchte man auch [4][dem neuen Kulturstaatsminister Wolfram
Weimer über seine Zirbelstube am Tegernsee als Botschaft nageln].
Im Verlauf des Samstags kommen viele Chemnitzer:Innen vorbei, begrüßen
ausdrücklich die Besetzung und bringen Essen und Getränke für die
Besetzer:Innen. Von Anfang an ist die Atmosphäre entspannt. „Keine Gewalt“,
steht auf der Gulaschkanone, der Ordnungsbürgermeister lässt die
Besetzung gewähren, die Polizei bleibt im Hintergrund. „Eine
demokratische, diverse, resiliente und zukunftsfähige Stadt braucht
öffentliche Mittel, mit denen langfristig gerechnet werden kann.“
Eine Forderung im Manifest. Ortsgeschichtlich und künstlerisch sei das
Schauspielhaus „ein bedeutendes Baudenkmal der Stadt Chemnitz und des
Freistaates Sachsen“. Zu DDR-Zeiten wurde hier auch (staats-)kritisches
Theater aufgeführt, unter anderem vom Regisseur Volker Braun, die
Schauspielerin Corinna Harfouch war Mitglied des Ensembles.
1976 war das alte Schauspielhaus aufgrund von Brandstiftung abgebrannt,
vermutet wird, dass die Stasi dahintersteckte, weil die Uraufführung von
Volker Brauns „Tinka“ verhindert werden sollte. Heute gerät diese
Geschichte immer mehr in Vergessenheit. Raik Drechsler sagt in seiner
Garage, dass es wichtig sei, die Jugend über die (DDR)-Geschichte
aufzuklären, weil es sonst „zu einer Fehlstellung“ kommen könnte. „Wir
müssen aus der Geschichte lernen“.
11 May 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Julian Weber
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