# taz.de -- Kulturhauptstadt Chemnitz 2025: Eine Stadt in neuem Licht | |
> Chemnitz wird am Samstag als Kulturhauptstadt mit Feierlichkeiten | |
> eingeweiht. Ob das ausreicht, um ihr Nazi-Image loszuwerden? Ein | |
> Spaziergang. | |
Bild: Das Karl-Marx-Monument im Stadtzentrum von Chemnitz. Im Volksmund auch de… | |
Drei Jugendliche drehen ihre Langeweile in Filterpapier. Sie lümmeln vor | |
einer Installation, die dazu anspornen soll, positive Erlebnisse in der | |
Stadt auf Fotos festzuhalten, indem man sich davor fotografiert. Da sind | |
nämlich die Buchstaben „I“ und „C“, als zwei Meter hohe, transparente | |
Plastiken geformt, zwischen ihnen ein Herz, also: Ich liebe Chemnitz. Im | |
Dunkeln leuchtet die Installation, das Herz aus Neonröhren rot, gelb die | |
Buchstaben, in deren Inneren Hunderte Lämpchen glühen. | |
Ein Jugendlicher tritt seine Kippe vor dem Herz aus. [1][In Chemnitz | |
scheinen nicht allzu viele Menschen Lust] auf ein fröhliches Foto zu haben. | |
Denn der Platz vor dem Herzen ist meist leer. Vielleicht aber wird dieses | |
Jahr ja alles anders. Zwei Millionen Menschen sollen dieses Jahr nach | |
Chemnitz strömen. Chemnitz soll nämlich als Kulturhauptstadt 2025 leuchten, | |
weit über sich selbst hinaus. So zumindest hofft es die Jury, die im | |
Auftrag von Europäischem Parlament, Rat und Kommission den Titel vergeben | |
hat. So hoffen es viele Bürger der Stadt. | |
Chemnitz, zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt, hat viele Beinamen, die jeweils | |
für eine Facette seiner Geschichte stehen: Stadt der Moderne. Stadt der | |
Macher. Stadt der Potenziale. Namen, die im Kontext der Kulturhauptstadt | |
häufig fallen. Aber auch: die Abgehalfterte, die Vergreiste, die | |
Verliererstadt der Wiedervereinigung. Die Nazistadt. | |
Vor allem der letzte Beiname ist an Chemnitz haftengeblieben. „Nazistadt“, | |
so nannten sie vor allem diejenigen, die sie von außen beschrieben. Sogar | |
im britischen Guardian wurde nach den rechtsextremen Krawallen im | |
Spätsommer 2018 darüber berichtet. Damals töteten ein Syrer und mutmaßlich | |
ein Iraker einen Deutsch-Kubaner am Rande eines Stadtfests. In den Tagen | |
darauf reisten Neonazis aus ganz Deutschland nach Chemnitz und attackierten | |
Migrant:innen. Es waren aber auch mehr als 65.000 Menschen zu einem | |
Soli-Konzert gegen Ausländerhass anwesend, viele aus der Stadt selbst. Doch | |
das Stigma bleibt kleben: Chemnitz, die Nazihochburg. Deshalb soll nun der | |
Titel als Kulturhauptstadt der Versuch sein, von einem anderen Chemnitz zu | |
erzählen. Einer Stadt, die aufgeschlossen, bunt und experimentierfreudig | |
ist. Und nicht nur braun. | |
## Chemnitz fehlt die Identität | |
Mitte August 2024 findet das Weinfest auf dem Neumarkt statt. Drei Wochen | |
lang ist viel los in der Stadt. Eine Frau hat sich mit zwei Freundinnen an | |
einen Tisch gesetzt und schenkt Riesling nach. Dieses Kulturhauptstadtding | |
findet sie schwierig: „Uns Chemnitzern fehlt die Identität, wie sollen wir | |
dann eine nach außen tragen?“ Außerdem wüssten viele gar nicht, was | |
Chemnitz als Kulturhauptstadt ausmache. | |
Ja, pflichtet Kai Winkler bei, Vorsitzender des Kulturbündnisses „Hand in | |
Hand“, das stimme, vieles laufe zu langsam, zu bürokratisch, die | |
Kommunikation habe gehinkt. Aber „mit den Menschen in Chemnitz geht sehr, | |
sehr viel anzustellen. Ich bin immer wieder erstaunt, was wir auf die Beine | |
stellen können.“ Für Martin Kohlmann, dem Vorsitzenden der rechtsradikalen | |
Kleinstpartei Freie Sachsen, sei das alles „verschwendetes Geld“, schreibt | |
er auf Nachfrage in einer E-Mail. Und auch Touristen brauche Chemnitz | |
nicht. Im Stadtrat hatte seine Partei im März den Antrag gestellt, alles | |
abzublasen. Doch vergeblich. | |
Mandy Knospe und Lars Faßmann, sie Designerin und Künstlerin und er | |
Unternehmer, versuchen seit 2007, Chemnitz mit Kultur zu beleben. Mehrere | |
Häuser hat Faßmann gekauft, einige vor dem Abriss bewahrt, manche an | |
Kreative vermietet. „Hinter das, was in der ambitionierten | |
Kulturhauptstadtbewerbung versprochen wurde, kann man ein großes | |
Fragezeichen setzen“, sagt Faßmann. Statt Projekte unkompliziert | |
umzusetzen, sei eine umständliche Kontrollstruktur entstanden. Als | |
Eigenleistung bringe die Stadt vor allem Infrastrukturprojekte ein, die | |
ohnehin bereits geplant waren. Alte Fahrzeughallen zum Beispiel werden zu | |
„Kreativhöfen“ umfunktioniert. Faßmann fehlt es aber an neuen, über das | |
Kulturjahr hinaus wirkenden Ideen. Die Stadt traue ihren Bürgern nichts zu, | |
so ist sein Eindruck. | |
Seine Partnerin Mandy Knospe nickt zustimmend. An der Bewerbung um den | |
Titel als Kulturhauptstadt hat sie mitgewirkt und sagt, vieles werde nun | |
nicht wie geplant umgesetzt. Auch fehle es an nachhaltigen Projekten. Die | |
eigens gegründete gemeinnützige Kulturhauptstadt gGmbH soll sich 2026 | |
wieder weitestgehend auflösen. Gesammeltes Wissen, Kontakte und | |
Kooperationen gingen dann verloren. Es sei völlig ungewiss, wie die neu | |
geschaffenen Orte nach der Zeit als Kulturhauptstadt genutzt werden sollen, | |
sagt Knospe. | |
## „C the Unseen“ ist das Motto von Chemnitz | |
Durch die Gründung der gGmbH ist eine vollständige Parallelstruktur | |
entstanden, die sowohl inhaltlich als auch bei der Beantragung von | |
Fördergeldern direkt mit den Kulturschaffenden und Vereinen der Stadt | |
konkurriert. Projekte von freien Trägern würden in geringerem Umfang als | |
vorgesehen gefördert. Knospe sagt: „Leider werden nachhaltige Projekte, die | |
nicht auf den ersten Blick schöne Bilder und große Öffentlichkeit | |
versprechen, um das Image der Stadt zu kitten, klein gehalten.“ Sie nennt | |
als Beispiele ein Frauenzentrum, das wegen Sparmaßnahmen der Stadt | |
schließen müsse, einen Kulturclub, ein kleines Off-Theater: Das alles sind | |
Orte, „die hier kontinuierlich an einer lebenswerten Stadt arbeiten“. | |
Stefan Schmidtke, der Geschäftsführer der Kulturhauptstadt gGmbH, betont, | |
dass es ein zentraler Grundsatz und ein Ziel der Bewerbung war, bestehende | |
Projekte weiterzuentwickeln. Zwanzig Prozent der Projekte seien bewusst als | |
einmalig stattfindende Ereignisse angelegt. In ihrer Bewerbung habe die | |
Stadt nicht nur auf Infrastrukturprojekte gesetzt, sondern auch auf die | |
Beteiligung, die Projekte und Ideen der Einwohner. | |
[2][Chemnitz bewarb sich mit dem Motto „C the Unseen“] als | |
Kulturhauptstadt, ein Wortspiel, das so was wie „Chemnitz die Unsichtbare“ | |
oder „Schau auf das Ungesehene“ bedeutet. Damit setzte sich die Stadt gegen | |
die Mitbewerber Dresden, Gera, Hannover, Hildesheim, Magdeburg, Nürnberg | |
und Zittau durch. Chemnitz habe den Titel verdient, weil es offensiv mit | |
den rechtsextremen Ausschreitungen von 2018 umgegangen sei, weil es sich | |
weltoffen und zugleich bodenständig positioniert habe, sagen Menschen aus | |
der Kulturszene. Alle, die die Kulturhauptstadt vermarkten, schwärmen von | |
einer „Aufbruchstimmung“ in Chemnitz. Es sei bereits, sagt Schmidtke, eine | |
„höhere touristische Aufmerksamkeit und eine andere Wahrnehmung der Stadt | |
spürbar“. Im September, wenige Wochen vor der Landtagswahl in Sachsen, | |
dröhnen Techno-Beats durch die Innenstadt. Polizeiautos stehen auf den | |
Gehwegen. Es ist Montag, Zeit für die Montagsdemo. Rund 100 Menschen haben | |
sich neben dem Karl-Marx-Monument versammelt, dem Wahrzeichen der Stadt. | |
Einige schwenken Flaggen, man sieht die deutsche und die russische Flagge, | |
Friedenstauben und den AfD-Swoosh. Seit der Coronapandemie veranstaltet die | |
Initiative „Chemnitz steht auf“ jeden Montag Kundgebungen. Dort versammeln | |
sich Putin-Anhänger, Unzufriedene und Verschwörungsgläubige. Auch | |
Rechtsextreme von Pro Chemnitz und den Freien Sachsen beteiligen sich an | |
den Veranstaltungen. Ein Mann schwenkt die Flagge der Freien Sachsen hin | |
und her und grölt in ein Mikro: „Die Ampel muss weg, denn sie steht auf | |
Rot. Die Ampel muss weg, denn sie bringt uns in Not. Die Ampel muss weg, | |
denn sie ist kriminell.“ Um ihn hat sich ein Halbkreis gebildet, Glatzen | |
und Grauhaarige mit Freie-Sachsen-Caps nicken im Takt. In der Menschenmenge | |
wird ein Hitlergruß ungeschickt angedeutet, begleitet von einem gehauchten | |
„Heil“ und Kichern. | |
[3][Ein Jugendlicher trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck: | |
„Abschiebehelfer“]. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor dem | |
Stadtpark, stehen drei Männer, die offensichtlich einen | |
Migrationshintergrund haben. Sie werfen einen kurzen Blick auf den | |
Protestzug, trinken ein Softgetränk aus einer Dose, sie lachen. Naziparolen | |
verebben in Heiterkeit, so alltäglich sind sie anscheinend geworden. Eine | |
Aufbruchstimmung ist hier nicht zu verspüren. | |
## Viele wollen lieber wegziehen | |
André Löscher ist Berater bei der gemeinnützigen Beratungsstelle Support. | |
Er hilft Menschen, die rechte Gewalt erfahren. Erst an diesem Tag habe er | |
einen Architekturstudenten aus Indien vor sich sitzen gehabt, der sagte: | |
„Ich muss weg aus Chemnitz, aus Sachsen. Lese ich die Wahlplakate, bekomme | |
ich Panik.“ Der Mann sei in einem Zug rassistisch genötigt worden und wolle | |
jetzt weg aus Chemnitz. So schnell wie möglich. | |
Anfang des 20. Jahrhunderts war Chemnitz eine der reichsten Städte | |
Deutschlands, das sächsische Manchester, heißt es. Im Zweiten Weltkrieg | |
wurde das Zentrum fast komplett zerbombt. In den 1990er Jahren gingen mit | |
der DDR Hunderttausende Arbeitsplätze unter, pompöse Fabrikgebäude verkamen | |
zu morbiden Schönheiten mit eingeschlagenen und verrammelten Türen und | |
Fenstern, betreten verboten. Textilfabrik dicht. Dampfreinigung dicht. | |
Drahtbürstenfabrik dicht. 50.000 seiner 300.000 Einwohner verlor Chemnitz | |
nach dem Mauerfall. 251.000 Einwohner heute, drittgrößte Stadt in Sachsen. | |
Man kauert, so die Selbstwahrnehmung, die oft anzutreffen ist, in der | |
dritten Reihe hinter Leipzig und Dresden. | |
Kurzumfrage unter Jugendlichen in der Chemnitzer Innenstadt: Wie ist das | |
Chemnitz-Flair? „Schrecklich. Was gibt’s hier denn?“, „Aufs Weinfest ge… | |
ich bestimmt nicht, da sind doch alle Ü40“, „Ich frag mich, ob hier schon | |
mal jemand Urlaub gemacht hat“. Sie wollen lieber nach Dresden oder | |
Leipzig, Berlin oder Hamburg. Dorthin, wo sie nach 23 Uhr an Drinks nippen | |
können, wo sie am Wochenende schnell in andere, größere Städte kommen. Ein | |
Ende 20-Jähriger wiederum will bleiben. Er sagt: „Man kann schon eine geile | |
Zeit hier haben.“ Man müsste nur wissen, wo. Er will bleiben, weil er den | |
Zusammenhalt schätzt: „Auf die, die bleiben, kannst du dich verlassen“, | |
sagt er. | |
Durchstreift man Chemnitz einige Tage lang, ohne die Stadt davor gekannt zu | |
haben, beschleicht einen regelmäßig das Gefühl, Teil einer Filmkulisse zu | |
sein, in der gerade nichts gedreht wird. Auf dem Theaterplatz? Leere. Auf | |
dem Fußgängerboulevard Brühl? Nichts los. Aber auf dem Sonnenberg? Kaum | |
jemand unterwegs. Graue Plattenbauten und Baustellen über ganze Straßen | |
säumen die Stadt, an vielen Stellen kriecht Teergeruch in die Nase oder das | |
Krachen einer Baggerschaufel auf Kies dringt in die Ohren. | |
Es gibt Straßen, wo viele Fenster Löcher haben, groß wie Köpfe, manchmal | |
mit Zeitungspapier gestopft. Jahre des Leerstands haben den Putz von den | |
Mauern gefressen. Graffiti zieren Häuserfassaden und Stromkästen. „No | |
Nazis“ steht dort. Aber auch: „NS-Jetzt“. Passiert man die Jugendstilvill… | |
des Kaßbergs, die Gründerzeitbauten des Sonnenbergs, die sanierten | |
Altbauviertel von Chemnitz, wähnt man sich dagegen im Wohnungsparadies. Und | |
hinter jeder fünften Scheibe fragt ein Schild: „Wohnung gesucht?“ | |
Eine sanierte Drei-Zimmer-Wohnung, Altbau mit Balkon und Stellplatz kostet | |
450 Euro warm. Nimmt man den durchschnittlichen Mietpreis, ist Chemnitz die | |
günstigste Großstadt Deutschlands. Nur etwas mehr als 6 Euro kostet dort | |
der Quadratmeter. | |
Ein Mädchen und zwei Jungen hocken im Treppenaufgang eines | |
Gründerzeithauses, seit Jahren unrenoviert. Sie rangeln um eine halbe | |
Kinderarmlänge mehr Platz, tippen wild auf einem Tablet. Im zweiten Stock | |
befeuchtet eine Frau mit einem Drucksprühgerät die türkisfarbene Tapete, | |
nebenan sind die Reste schon fast abgerissen. Von der Decke baumeln nackte | |
Glühbirnen, in der Wand klaffen Löcher, Drähte sprießen wie Unkraut heraus. | |
Gina sitzt im Garten, ihren Nachnamen möchte sie nicht in den Medien lesen. | |
Sie trägt Jogginghose und Arbeitsschuhe. An diesem Wochenende steht der | |
erste Einsatz auf dem Sonnenberg an. Mit seinen prächtigen | |
Gründerzeitbauten gilt der Sonnenberg als das Herz von Chemnitz. | |
Künstler:innen haben sich hier niedergelassen, viele Menschen aus | |
Einwandererfamilien leben dort. Am Fuß des Berges, in der Mitte der | |
Zietenstraße, aus dem zweiten Stock eines Altbaus tönt Chemnitz in seiner | |
Ambivalenz. Klaviermusik schallt aus einem offenen Fenster, Gangster-Rap | |
aus einem anderen. In der Luft hat sich ein Teppich aus Gerüchen | |
ausgerollt: Curry, frisch gebackene Nussschnecken, Zigarettenrauch. | |
Großstadtflair in Beschaulich, angedeutet berlinesk, die Straßen aber meist | |
leer. | |
Gina ist 34 Jahre alt und hat sich einen Traum erfüllt. In Leipzig oder | |
Dresden wäre er wohl nicht wahr geworden. Mit ihrem Partner und vier | |
befreundeten Paaren hat sie ein Haus gekauft, 600 Quadratmeter auf fünf | |
Etagen. In ein, zwei Jahren möchten sie einziehen, jede Familie in eine | |
eigene Wohnung. Etwas mehr als 150.000 Euro haben sie bezahlt. Von | |
Erspartem und mithilfe der Mitglieder ihrer Wohngenossenschaft. Für die | |
Sanierung greifen sie auf Bankkredite und Fördergelder der Stadt | |
zurück.Vier Jahre stand die ehemalige Mietskaserne leer, davor war sie ein | |
Frauenhaus. Blumen auf Wänden gezeichnet sind Zeuginnen einer vergangenen | |
Zeit. „Die Wohnungsnot in Leipzig hat mich immer mehr belastet“, sagt Gina. | |
Dort müsse sie um eine Wohnung kämpfen, um einen Schulplatz für ihren Sohn. | |
„Ich fühle mich in der anonymen Großstadt oft fehl am Platz.“ | |
Geplant ist, dass täglich mindestens zwei Leute im Haus arbeiten. An den | |
Wochenenden wollen alle anpacken. Einige haben die Stundenzahl in ihren | |
Jobs reduziert, um zügig voranzukommen. Gina sagt: „Ich liebe den Gedanken, | |
mich mit einem Kaffee an einen Tisch zu setzen, an dem schon jemand sitzt.“ | |
Sich unterstützen, bei den anderen klopfen dürfen, wenn man sich | |
austauschen möchte. Das ist die Idee. In anderen Großstädten ist häufig | |
viel Geld nötig, um seine Ideen zu verwirklichen. Hier vor allem braucht | |
man eines: Mut. | |
## Chemnitz soll trotzdem leuchten | |
Sopran, die höchste Stimmlage, durchdringt den Raum im Dachgeschoss eines | |
Altbaus in Chemnitz-Siegmar. Sara Alagha singt die Zeilen eines Liedes auf | |
Arabisch, übersetzt heißt es „Nur ein paar Fotos“, begleitet von einem | |
Freund am Flügel. Ein syrischer Musiker hat es für sie geschrieben. Es | |
handelt davon, seine Heimat zu verlassen. Die Augen hält Alagha | |
geschlossen, sie hat die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger | |
aneinandergelegt und wiegt ihre Hände hin und her. | |
Sie ist 35 Jahre alt, im September 2015 floh sie von Damaskus nach | |
Chemnitz. Alagha landete mit Hunderten anderen in einer Notunterkunft für | |
Geflüchtete. Der Anfang war hart, erzählt sie. Immer dieser Regen und die | |
Kälte. Einmal hing am Gartentor ein Zettel vom Nachbarn, darauf ein Satz | |
auf Arabisch. „Wenn du dich näherst, wirst du meine Pistole sehen.“ | |
Zum Ende des Ramadans im April veranstaltete Sara Alagha, die in Damaskus | |
ein Opernstudium begonnen hatte und in Weimar weiter Gesang studiert hat, | |
ein Konzert mit einem jüdischen Musiker. Ein Mädchen im Rollstuhl, Juden, | |
Araber, Christen, Frauen mit Kopftuch und ohne, alte und junge Menschen, | |
alle hätten zusammen getanzt, erzählt sie. Mit einem warmen Gefühl im Bauch | |
sei sie nach dem Auftritt ins Auto gestiegen. | |
Inzwischen hat sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft, ihr Mann ist | |
Deutscher, sollten sie einmal Kinder bekommen, werden sie zwar deutsch | |
sein. „Aber in Chemnitz“, sagt Alagha, „werden unsere Kinder die mit der | |
syrischen Mutter bleiben.“ | |
Im Alltag bekomme sie immer wieder mit, wie selbst kleine Kinder schon | |
rassistische Parolen äußerten. Ist sie mit ihrer Mutter, die ein Kopftuch | |
trägt, in Chemnitz unterwegs, höre sie häufig, wie Menschen sich abfällig | |
über ihre Mutter äußern. Alagha sagt: „Ich würde lügen, wenn ich sage, d… | |
ich in Chemnitz glücklich bin, würde aber auch lügen, wenn ich sage, dass | |
ich mich nicht wohlfühle.“ Einerseits. Andererseits. Chemnitz soll trotzdem | |
leuchten. | |
17 Jan 2025 | |
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