# taz.de -- Kulturhauptstadt Chemnitz 2025: Wenn Karl Marx das noch erleben wü… | |
> Chemnitz ist dieses Jahr europäische Kulturhauptstadt. Die sächsische | |
> Stadt will die Kerben ihrer Geschichte mit Stolz tragen. Gar nicht so | |
> leicht. | |
Bild: Bekannteste Sehenswürdigkeit der Stadt: Das „Nischel“ genannte Karl-… | |
Als die Stadt Chemnitz im Oktober ihr Programm für das europäische | |
Kulturhauptstadtjahr präsentierte, bekam jeder Gast einen „Nischel“ im | |
Taschenformat aus dem 3-D-Drucker. Der Nischel ist das bekannteste und | |
systemüberdauernde Wahrzeichen der Stadt: das monumentale | |
Karl-Marx-Denkmal, dem die Bürger der Stadt nach dem sächsischen Wort für | |
Schädel den [1][Spitznamen Nischel] verpasst haben. | |
1953 benannte die SED die erstmals im 12. Jahrhundert urkundlich erwähnte | |
Stadt Chemnitz nach dem Vordenker des Kommunismus in Karl-Marx-Stadt um, | |
und 1971 folgte die damalige DDR-Führung ihrem Hang zur Gigantomanie und | |
ließ vom sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel die zweitgrößte Porträtbüste der | |
Welt anfertigen – nur das Lenin-Monument im sibirischen Ulan-Ude ist noch | |
größer. | |
Die Veranstaltung im Oktober in der „Hartmannfabrik“, seit Mai zum | |
Besucher- und Informationszentrum umgewidmet, galt vor allem den Helfern | |
und Hauptamtlichen, die das Ereignis fast vier Jahre lang vorbereitet | |
hatten. Sie begann mit einer sehr persönlichen Ansprache einer Chemnitzerin | |
an ebendiesen Nischel. Es folgte eine Tanzperformance, die einem zähen | |
Ringen und Strampeln glich, bis sich die gelben T-Shirts der Tänzer mit dem | |
großen „C“ und einem roten Herz durchsetzen. „Wir haben die Vergangenheit | |
hinter uns gelassen“, hörte man, verbunden mit der Aufforderung, wieder | |
stolz auf die Stadt zu sein. Und sich zu verstehen, zu begegnen – und | |
miteinander zu tanzen. | |
Man wollte zeigen, dass Chemnitz eine Stadt der Brüche und der | |
Kontinuitäten ist. Das machte auch die Wahl des Ortes deutlich. In der | |
„Hartmannfabrik“ wurden einst Lokomotiven und Dampfmaschinen gebaut. Der | |
erhaltene Kran mit Laufkatze aus dem 19. Jahrhundert beschwört das | |
ambivalente Selbstverständnis von Chemnitz herauf, das einst eine | |
Industriemetropole war. Die Titelvergabe zur europäischen Kulturhauptstadt | |
stellt auch eine Herausforderung dar, konstruktiv mit der wechselvollen | |
Chemnitzer Geschichte umzugehen. | |
Diese Stadt kam zuletzt aus der Defensive, das spürt man. Ihre Bemühungen | |
wurden 2020 mit dem Kulturhauptstadttitel für das Jahr 2025 belohnt. Dieser | |
Entwicklungs- und Fördergedanke spielt beim nicht immer transparenten | |
Vergabeverfahren eine zentrale Rolle. Auch das 70 Kilometer entfernte | |
Dresden, das sich ohnehin als Welthauptstadt der Kultur und Kunst versteht, | |
hatte sich beworben, wurde aber abgelehnt. Aus Nürnberg kamen schon nach | |
dem Nominierungserfolg im Oktober 2020 Querschüsse gegen den lästigen | |
Underdog und innerdeutschen Konkurrenten, meist getarnt als Kritik am | |
Bewerbungsverfahren und seinem „Beraterzirkus“. | |
## Von der Industriehauptstadt zur Kulturhauptstadt | |
Als Chemnitz im Juli 2018 seine Leitgedanken für die | |
Kulturhauptstadtbewerbung vorstellte, setzte die Stadt nicht auf die | |
Bestätigung einer Erfolgsgeschichte, sondern wählte das Motto „AUFbrüche�… | |
Es bezog sich auf die große Tradition als führende deutsche Industriestadt | |
zu Beginn des 20. Jahrhunderts und spätere Rolle als Zentrum des | |
Maschinenbaus im Ostblock während des Kalten Krieges. Zur wirtschaftlichen | |
Blüte kamen ab 1909 städtische Kunstsammlungen und ein Fünfspartentheater | |
hinzu. Bis heute leistet sich Chemnitz einen überproportionalen Anteil an | |
Kultureinrichtungen für seine aktuell 250.000 Einwohner. | |
Der erste sächsische Ministerpräsident nach der Wende von 1990, der | |
CDU-Politiker Kurt Biedenkopf, erinnerte gern daran, dass Chemnitz einmal | |
die Stadt mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland | |
war. Die mithin proletarisch gefärbte, industrielle Basis dieses | |
Wohlstandes spielte in den 30 Jahren sächsischer CDU-Dominanz aber nur eine | |
untergeordnete Rolle. Mühsam kam der Zweckverband Industriemuseum mit | |
Hauptsitz in Chemnitz zustande. Und es dauerte bis zum Jahr 2020, ehe sich | |
eine Landesausstellung diesem Erbe im Großraum Chemnitz mit der vom | |
Erzbergbau geprägten Gebirgsregion widmete. | |
Biedenkopf vermied es, von jenen „Kerben in der Stadtgeschichte“ zu | |
sprechen, von denen in den Leitlinien zur Kulturhauptstadtbewerbung später | |
die Rede war. „Noch immer sucht Chemnitz nach Identität und | |
Selbstverständnis“, heißt es dort. | |
Nur sechs Wochen nach der Vorstellung der Bewerbungs-Leitlinien kam es zu | |
den [2][rechtsextremen Ausschreitungen], die bis heute mit Chemnitz in | |
Verbindung gebracht werden. Am Rande des Stadtfestes Ende August wurde ein | |
junger Mann durch Messerstiche getötet, ein syrischer Asylbewerber dafür | |
später wegen Totschlags verurteilt. Über Netzwerke mobilisierten rechten | |
Szenen sofort zu Massendemonstrationen, die auch am Marx-Denkmal | |
gewalttätig verliefen, als Migranten, Journalisten und Polizisten | |
angegriffen wurden. | |
Mit dieser rechten Radikalisierung steht Chemnitz keineswegs alleine da, | |
und es gibt auch Widerspruch dagegen. Es gibt die Bürgerinitiative [3][„Pro | |
Chemnitz“], deren Anführer Martin Kohlmann inzwischen zum Chef der | |
radikalsten Rechtspartei „Freie Sachsen“ avanciert ist. Aber es gibt auch | |
Demokratieinitiativen und Flüchtlingshelfer wie das Netzwerk für | |
Integration und Zukunft e. V., die in Chemnitz sehr aktiv sind. | |
## Zwei schwere historische Einschnitte | |
Im 20. Jahrhundert hat die Stadt vor allem zwei Zäsuren erlebt. Die Nazis | |
hatten die Stadt des Automobil- und Maschinenbaus schon vor dem Überfall | |
auf Polen 1939 zu einem Schwerpunkt der Rüstungsindustrie ausgebaut. Die | |
britisch-amerikanischen Bombardements Anfang 1945, am schwersten in der | |
Nacht des 5. März, folgten der britischen Strategie, damit die Moral der | |
Bevölkerung brechen zu wollen. Etwa 4.000 Menschen kamen bei diesen | |
Angriffen ums Leben. Zerstört wurden nicht nur zahlreiche Betriebe, sondern | |
auch die Innenstadt zu 80 Prozent und ein Viertel des Wohnungsbestands. | |
Diese Wunde ist bis heute sichtbar. Weder der versuchte Aufbau einer | |
sozialistischen Großstadt noch Solitäre simulierter Wohlstandsarchitektur | |
nach 1990 haben Chemnitz ein Zentrum und eine organische Struktur | |
zurückbringen können. | |
Die ungepufferte Marktwirtschaftskonkurrenz nach der Wirtschafts- und | |
Währungsunion 1990 führte zu einer beispiellosen zweiten | |
Deindustrialisierung, in deren Folge Chemnitz durch Abwanderung ein Fünftel | |
seiner Einwohner verlor. Nur allmählich erholt sich die Stadt von diesem | |
Verlust. In Zusammenarbeit mit der TU – übrigens die Universität mit dem | |
zweithöchsten Anteil ausländischer Studierender in Deutschland – entsteht | |
gerade das nationale Wasserstoffzentrum. Bei einer Diskussion dazu | |
berichtete Wirtschaftsbürgermeisterin Silvana Bergk, die | |
Gewerbesteuererträge würden stetig steigen. Das Bruttoinlandsprodukt pro | |
Einwohner liege mittlerweile wieder 5.000 Euro über dem sächsischen | |
Durchschnitt. | |
## Kultur überwindet das Verliererimage | |
Dennoch hält sich das Verliererimage von Chemnitz hartnäckig. Befördert | |
wurde es auch durch Bands wie Kraftklub, die 2012 in ihrem Song | |
„Karl-Marx-Stadt“ sangen: „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verliere… | |
Baby, original Ostler.“ Die Meckerer verstummten auch während der | |
Vorbereitungen zum Kulturhauptstadtjahr nicht, als die geplante Pflanzung | |
von 4.000 Apfelbäumen im Jahr 2022 aufgegeben werden musste. „Die können’s | |
nicht“, war zu hören. Das Vorurteil war weder durch allmählichen | |
wirtschaftlichen Fortschritt noch durch einen Imagewandel hin zur | |
Kunststadt zu korrigieren. Selbstverständlich tat es gut, dass Direktorin | |
Ingrid Mössinger mit spektakulären Ausstellungen von Picasso oder Bob Dylan | |
zahlreiche Pilger in die städtischen Kunstsammlungen lockte. Daneben gibt | |
es in Chemnitz aber auch das Museum Gunzenhauser, eine zeitgenössische | |
Galerie und das Landesmuseum für Archäologie im ehemaligen Kaufhaus | |
Schocken, das so etwas wie ein sächsisches „Nationalmuseum“ darstellt. | |
Das Theater ist ähnlich anerkannt, auch wenn der aktuelle Umbau des | |
Schauspiels nicht rechtzeitig 2025 abgeschlossen werden kann. Die Freie | |
Szene erfährt durch das Kulturhauptstadtjahr eine besondere, aber immer | |
noch unzureichende Förderung. Denn auf eine breite Bodenhaftung kommt es in | |
Chemnitz 2025 besonders an. „Die Bewerbung muss aus der Mitte der Stadt | |
kommen“, erklärte der 2015 zum Leiter des Kulturbetriebes gewählte Ferenc | |
Csák. Er hatte 2010 in seiner ungarischen Heimat bereits Pécs zur | |
europäischen Kulturhauptstadt geführt. „Eine Bewerbung ist nicht sinnvoll | |
ohne Kommunikation mit der Stadtgesellschaft“, formulierte Csák schon 2017 | |
als Grundsatz für Chemnitz. | |
Dem will das Programm des Kulturjahrs folgen: Eine [4][„Europäische | |
Werkstatt für Kultur und Demokratie“] soll die Zivilgesellschaft stärken. | |
In einem ehemaligen Abfallhof der Stadtreinigung entsteht ein | |
soziokulturelles Stadtentwicklungsprojekt. Nur in reduzierter Form wird die | |
originelle Idee umgesetzt werden können, einen Teil der 30.000 Garagen der | |
Stadt als Mini-Kunsträume zu präsentieren. Schwerpunkt wird ein | |
Garagen-Campus im ehemaligen Straßenbahndepot sein. Über die Stadt hinaus | |
wird der Kunst- und Skulpturenweg „Purple Path“ führen. | |
438 Seiten und drei Zentimeter dick ist das Programmbuch zum | |
Kulturhauptstadtjahr ([5][Download hier]). Alles weniger laut als | |
eindringlich. Und immer noch ein wenig komplexbehaftet. Das fragmentierte | |
Logo lautet „_C_THE UNSEEN“. Da möchte jemand gesehen werden, endlich. | |
2 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Marx-Kopf-in-Chemnitz-ist-50/!5807546 | |
[2] /Monitor-zu-Demos-in-Chemnitz/!5533956 | |
[3] /Pro-Chemnitz-und-Gegendemos/!5620534 | |
[4] https://infopoint1.chemnitz2025.de/programme/europaeische-werkstatt-fuer-ku… | |
[5] https://chemnitz2025.de/fileadmin/khs/02_PROGRAMM/00_Programm-Downloads/C20… | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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werden. |