# taz.de -- Karl-Marx-Experte über Außenpolitik: „Dann ist es eben nur ein … | |
> Ein Gespräch mit dem Marx-Experten Timm Graßmann, der über Marx’ | |
> kritische Sicht auf das autokratische Russland ein Buch geschrieben hat. | |
Bild: Der Rauschebart-Theoretiker von Klasse, Krise, Kapital: Karl Marx (1818 �… | |
taz: Herr Graßmann, was hatte Karl Marx gegen Moskau? | |
Timm Graßmann: Marx sah in der Geschichte der russischen Politik zwei | |
Konstanten, nämlich Autokratie und eine Außenpolitik der systematischen | |
Übergriffe, die man als imperialistisch oder expansionistisch bezeichnen | |
könnte – Territorien erobern als Ausdruck nationaler Größe, womit immer | |
auch die Zerstörung schon bestehender politischer Einheiten einhergeht. Ein | |
Moment, das diese beiden Konstanten verbindet, ist, dass Russland | |
Demokratien oder Republiken auslöscht und damit versucht, diesen | |
Freiheitsgeist, der irgendwo außerhalb Russlands der Flasche entwichen ist, | |
wieder da hineinzubekommen – um so zu verhindern, dass er jemals in | |
Russland auftaucht. In einer Rede auf einem Londoner Polenkongress 1867, | |
einer Solidaritätsveranstaltung mit dem damals geteilten Polen, sagte Marx | |
deshalb wortwörtlich, Europa habe nur eine Wahl: Polen wiederherstellen | |
oder Barbarei. | |
taz: Sie schreiben in Ihrem Buch ausführlich über Marx’ Einsatz für Polen. | |
Wieso hat er sich so sehr für Polen interessiert? | |
Graßmann: Er agitierte eigentlich sein Leben lang für die Wiederherstellung | |
eines unabhängigen polnischen Staates. Polen-Litauen als politisch eher | |
fortgeschrittenes Land mit moderner Verfassung und einer gewissen | |
Gewaltenteilung war ab 1772 unter drei Autokratien – Russland, Preußen und | |
Österreich – aufgeteilt worden. Spätestens seit dem Polnischen Aufstand von | |
1830 herrschte in der westeuropäischen Öffentlichkeit die sogenannte | |
Polenbegeisterung. Zu der Zeit, als Marx mit Engels das „Manifest der | |
Kommunistischen Partei“ schrieb, nahm er erstmals an Polenkongressen teil. | |
Spätestens nachdem die Revolution von 1848/49 scheiterte, engagierte er | |
sich auf dem Gebiet noch stärker, weil er in Polen auch ein effektives | |
Mittel erkannte, um Russland einzuhegen. | |
taz: Da bieten sich die Parallelen zur heutigen Situation natürlich an. | |
Putin fürchtete sehr, die Orangene Revolution und später der Maidan könnten | |
aus der Ukraine auch nach Russland kommen. Es ist erstaunlich, dass viele | |
Linke diesen Imperialismus Russlands einerseits kleinreden und andererseits | |
keinerlei Solidarität mit der angegriffenen Ukraine zeigen. | |
Graßmann: Schon zu Marx’ Zeiten konnte die Mehrheit der Sozialisten nicht | |
einsehen, warum sie sich für die polnische Unabhängigkeit einsetzen sollte. | |
Es ist interessant, dass Michail Bakunin, ein Zeitgenosse von Marx, nicht | |
in Russland, sondern in Deutschland, das sich damals gerade erst vereinigt | |
hatte, die größte Bedrohung für Europa sah. Die Deutschen vereinen „Bildung | |
mit Barbarei“ ist so eine Phrase bei Bakunin. Deswegen dachte er, die | |
slawischen Völker müssen gegen Deutschland zusammenhalten. Bakunin ging | |
sogar so weit zu sagen, eigentlich könne ein Zar an der Spitze dieses | |
panslawischen Projekts stehen, damit Polen nicht in den deutschen Orbit | |
hineinfällt. Das ist in etwa die Position der Zeitschrift konkret heute. | |
Die denken auch, eine Art deutsches Wesen sei das Problem, die EU daher so | |
etwas wie das „Vierte Reich“ und Putin in der Rolle des Antifaschisten. Und | |
wenn jemand freiwillig beim „Vierten Reich“ mitmachen will, wie die | |
Ukrainer, können das ja nur Nazis sein. | |
taz: Abenteuerlich, dass man in Putin einen Antifaschisten erkennen kann. | |
Graßmann: Nicht wenige denken ja wirklich so: Putin hat das Kapital so halb | |
im Griff, also ist das schon mal einen Schritt näher am Sozialismus. Aber | |
das wäre so gar nicht Marx’ Denkweise. Sie verkennen, dass so ein Land wie | |
die Ukraine mit der Staatsform alleine schon eine fortschrittlichere Sache | |
ist als Russland. Bei vielen Linken heute beobachtet man eine ontologische | |
Ablehnung „des Westens“. Aber die gibt es bei Marx nicht, weil er in der | |
bürgerlichen Gesellschaft auch ein fortschrittliches Moment erkannte. Die | |
Bourgeoisie hat den alten Absolutismus gebrochen. | |
taz: Ist das grundlegende Problem also, dass viele Linke ihren Marx | |
schlecht lesen? | |
Graßmann: „Marxistisch“ zu sein bedeutet heute bestenfalls wahrscheinlich, | |
das „Kapital“ rauf und runter zu lesen. [1][Marx, das ist der große Ökono… | |
der Theoretiker von Klasse, Krise, Kapital.] Aber Marx als politischer | |
Theoretiker wird so nicht ernst genommen – dass er zum Beispiel auch ein | |
großer Analytiker und Gegner von autoritären Staatsformen war und | |
Demokratie, die er politische Emanzipation nennt, verteidigte, das wird | |
gerne ignoriert. Symptomatisch ist, dass die 140-seitige Artikelserie, die | |
Marx dem Ursprung der russischen Autokratie widmete, absichtlich nicht in | |
die vom sowjetischen Moskau abhängige Ausgabe der Marx-Engels-Werke (MEW) | |
aufgenommen wurde. Aber dann ist es eben nur ein halber, ein amputierter | |
Marx. Ich arbeite jeden Tag mit Marx-Texten und wusste schon immer, dass | |
Russland und Polen für Marx irgendwie wichtig waren, aber auch ich konnte | |
lange nicht richtig verstehen, was eigentlich dahintersteckt. Die russische | |
Großinvasion vom 24. Februar 2022, die mich erschüttert hat und bis heute | |
in Atem hält, war dahingehend augenöffnend. | |
taz: Wieso wird denn der politische Marx von den Marxisten ignoriert? | |
Graßmann: Nun, Marx steht in seiner politischen Theorie quer zu dem, was | |
viele Linke spontan annehmen. Da kommt es zum Kurzschluss: Wir studieren | |
das „Kapital“, also ist der Hauptfeind in der Welt die führende | |
kapitalistische Macht, die USA. Aber man darf nicht vergessen, dass es all | |
diese reaktionären, autoritären Kräfte in der Welt gibt. Und Marx’ | |
außenpolitisches Primat war es gewesen, gegen sie vorzugehen. | |
taz: Sie haben erklärt, wieso Polen so interessant für Marx war. Was | |
schrieb er zur Ukraine? | |
Graßmann: Er betonte, dass Kyjiw und Moskau niemals zusammengehörten, und | |
schrieb über die Kosaken-Republik, eine ukrainische Staatsform im 17. | |
Jahrhundert, die demokratische Züge trug und dann von Moskau zerstört | |
wurde. Marx sah in der Ukraine neben Polen ein weiteres Subjekt mit einer | |
eigenständigen demokratischen Tradition. Auch [2][für Engels] stand außer | |
Frage, dass die Ukraine eine Nation und Ukrainisch eine eigenständige | |
Sprache waren. Er vertrat zunächst diese merkwürdige Idee der historischen | |
und geschichtslosen Völker. Am Ende seines Lebens schrieb er dennoch, dass | |
allein die Ukraine über ihr Los entscheiden dürfe. | |
taz: In Ihrem Buch gibt es ein Foto von Marx mit seiner Tochter Jenny. Sie | |
trägt ein riesiges Kruzifix um den Hals. Das ist schon merkwürdig, Marx war | |
ja Religionskritiker. | |
Graßmann: Das ist ein polnisches Insurrektionskreuz, ein Symbol der | |
Solidarität mit der polnischen Unabhängigkeitsbewegung. Klar, Marx war kein | |
Freund von Religion, aber im politischen Kampf konnte er durchaus | |
pragmatisch sein und über Nebensächlichkeiten hinwegsehen. Heute hängen | |
sich viele Linke im Westen an sekundären Sachen auf, dass die Ukraine kein | |
perfektes Land ist – Stichwort Korruption. Doch als der französische | |
Bonapartismus 1870 Preußen den Krieg erklärte, verhielten sich Marx und | |
Engels in diesem vermeintlichen Großmachtkonflikt nicht neutral, sondern | |
stellten sich zunächst auf die Seite des deutschen „Vertheidigungskriegs | |
wider bonapartistischen Angriff“. Engels schien es unmöglich, dass die | |
Sozialdemokratische Arbeiterpartei in einem solchen „Krieg um die nationale | |
Existenz“ „die totale Abstention predigen und allerhand Nebenrücksichten | |
über die Hauptrücksicht setzen“ könnte. | |
taz: Kann man denn wirklich Parallelen zwischen Marx’ Zeiten und heute | |
ziehen? | |
Graßmann: Die analytische Schärfe, mit der Marx die Dreierkonstellation | |
Russland-Westen-Osteuropa fasst, finde ich unübertroffen. Auch hat es in | |
der Sowjetunion, die beileibe nicht das sozialistische Paradies auf Erden | |
war, keinen konsequenten Bruch mit der imperialen Politik gegeben. Aber | |
natürlich würde ich nie sagen, bei Marx findet man schon alles, was man | |
braucht. Der geopolitische Kontext ist wegen China heute ein anderer. Man | |
muss das aktuelle Material kritisch durcharbeiten und etwa die Geschichte | |
des westlichen Verrats der Ukraine seit 1991 schreiben. | |
11 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Yelizaveta Landenberger | |
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