# taz.de -- Andrey Gurkovs neues Buch über Russland: Nichts wird mehr so sein … | |
> „Für Russland ist Europa der Feind“ heißt das neue Buch des Journalisten | |
> Andrey Gurkov. Es ist ein dringend benötigter Realitätscheck für naive | |
> Russlandversteher. | |
Bild: Selbst in der Freizeit geht’s um Krieg bei den Zuschauern einer Panzerp… | |
Die Geografie könne man vergessen, meint der in Köln lebende russische | |
Journalist Andrey Gurkov: „Russland gehört nicht mehr zu Europa – und will | |
es auch nicht.“ Mit dieser klaren Absage an vorschnelle Hoffnungen auf eine | |
Demokratisierung Russlands in absehbarer Zukunft, die viele hierzulande | |
noch immer hegen, beginnt Gurkovs kürzlich erschienenes, überaus | |
aufschlussreiches Buch „Für Russland ist Europa der Feind“. Es beschreibt | |
Russlands Abkehr von der europäischen Idee und das Erstarken totgeglaubter | |
Großmachtfantasien – sowohl im Kreml als auch in weiten Teilen der | |
russischen Gesellschaft. | |
Gurkov macht unmissverständlich klar: Es ist nicht nur Putins Krieg, der | |
gegen die Ukraine geführt wird. Die [1][russische Gesellschaft trägt ihn] | |
weitgehend mit. Hinter dieser Haltung verbirgt sich eine hasserfüllte, von | |
Widersprüchen durchsetzte Ideologie. Europa ist ein als beliebtes | |
Shoppingparadies wahrgenommenes Reiseziel und zugleich „Gayropa“, wie es in | |
Russland abschätzig heißt. Russland wiederum ist das größte Land der Welt, | |
aber vielerorts nur dünn besiedelt, die Infrastruktur ist schlecht | |
ausgebaut und marode. Und dennoch strebt man nach immer mehr Territorien. | |
Der Autor gibt zu: Viel lieber hätte er ein ganz anderes Buch geschrieben. | |
Denn lange Zeit verstand er sich als Brückenbauer zwischen seiner Heimat | |
Russland und seiner zweiten Heimat Deutschland. 1959 in Moskau geboren, in | |
Ostberlin, Bonn und Moskau als Sohn eines sowjetischen Korrespondenten | |
aufgewachsen, studierte er Journalistik und arbeitete später für | |
verschiedene deutsche und russische Medien. | |
Als das Sowjetimperium bröckelte, als [2][Gorbatschow] vom „gemeinsamen | |
Haus Europa“ sprach, sei auch bei ihm die Hoffnung auf ein freies Russland | |
noch groß gewesen, schreibt Gurkov. Doch Putin machte wenige Jahrzehnte | |
später diese Vision zunichte. Die Familientradition des Brückenbaus könne | |
und wolle der Autor nicht mehr fortführen. Schon 2014, als Russland Teile | |
der Ukraine besetzte, seien ihm erhebliche Zweifel gekommen. | |
## Ein demokratisches Russland? | |
Mit dem Überfall auf das ganze Land am 24. Februar 2022 wurde für ihn | |
daraus Gewissheit. Ein demokratisches Russland? „Es hat nicht funktioniert, | |
wir haben verloren.“ Das müsse man sich endlich eingestehen, schreibt | |
Gurkov. Statt sich um einen zum Scheitern verurteilten Dialog mit dem Kreml | |
zu bemühen, gelte es, Europa – zu dem ausdrücklich auch die Ukraine gehört | |
– zu stärken und vor russischen Angriffen zu schützen. | |
Gurkov ist Russe und Europäer, er kennt beide Welten. Sein Buch ist ein | |
kluger, tiefgründiger Beitrag zur Frage, wie Russland auf Europa blickt – | |
und vice versa. Seine zeitgeschichtlichen Einschätzungen ergänzt er durch | |
instruktive historische Exkurse. Denn die Frage, ob Russland zu Europa | |
gehört oder einen „eigenen, slawischen Weg“ einschlagen sollte, zieht sich | |
wie ein roter Faden durch die russische Geistesgeschichte. Zar Peter der | |
Große wollte das Land mit seinen Reformen Anfang des 18. Jahrhunderts | |
europäisieren, er stieß „ein Fenster nach Europa auf“, wie der | |
Nationaldichter Puschkin es formulierte. | |
Der Philosoph Pjotr Tschaadajew beklagte die Rückständigkeit Russlands | |
trotz dieser Bemühungen und initiierte den im Grunde bis heute andauernden | |
Disput zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“. In seinem Ersten | |
Philosophischen Brief, in russischer Fassung im Jahr 1836 erschienen, ließ | |
er seinem Frust freien Lauf – in Russland gab es zu dieser Zeit nach wie | |
vor Leibeigenschaft und strikte Zensur. Entsprechend ließ Zar Nikolaus I. | |
den Philosophen für verrückt erklären und mit Hausarrest bestrafen. | |
„Orthodoxie, Autokratie und Nationalität“ lautete damals die Doktrin des | |
Zaren – sie würde knapp 200 Jahre später wieder zu Putin passen, der | |
Russland per Dekret als „Staat mit eigenständiger Zivilisation, als | |
umfassende eurasisch-pazifische Großmacht“ festschreiben ließ und gerne von | |
der „russischen Welt“ schwadroniert. Kurzum: In Russland herrscht aktuell | |
eine aktualisierte Variante der „Slawophilie“ vor. | |
## Anna Netrebko mit Neurussland-Flagge | |
Daran anknüpfend thematisiert Gurkov auch die Rolle der russisch-orthodoxen | |
Kirche und der russischen Kultur im Krieg. „Welche Mitschuld tragen | |
Puschkin und Dostojewski?“, heißt eines der Kapitel. In einem anderen | |
widmet er sich der Frage, ob Anna Netrebko zu Auftritten in deutschen | |
Opernhäusern eingeladen werden sollte. | |
Während er es für den falschen Weg hält, russische Klassiker einfach | |
nachträglich zu canceln und stattdessen eine kritische Lektüre als | |
geeigneten Umgang empfiehlt, ist [3][sein Urteil bezüglich Netrebko] ein | |
hartes. Er verweist auf ihre öffentlichkeitswirksamen chauvinistischen | |
Auftritte in der Vergangenheit und ihre halbherzigen Entschuldigungen dafür | |
nach Beginn der Großinvasion: Sie posierte Ende 2014 mit einer | |
Neurussland-Flagge, dem Symbol der russischen Besatzung der östlichen | |
Ukraine, und spendete einen beträchtlichen Betrag an das Opernhaus in der | |
von Russland besetzten Stadt Donezk. Offensichtlich handelt es sich hier um | |
mehr als bloße Kontaktschuld. | |
Gurkovs Schlussfolgerungen sind ernüchternd. Der Putinismus werde nicht mit | |
Putin enden. Kaum jemand in Russland habe ein Interesse daran, Fehler | |
einzugestehen – mit Ausnahme einer Minderheit oppositionell eingestellter | |
Menschen. Die Zuversicht vieler Deutscher in Bezug auf eine demokratische | |
Wende in Russland hält Gurkov für naiv. Sie speise sich aus der eigenen | |
Erfahrung mit der Friedlichen Revolution von 1989. Es habe sich aber um | |
einen historischen Glücksfall gehandelt. Friedliche Proteste in Diktaturen | |
seien in jüngster Zeit immer wieder gescheitert – [4][in Hongkong], | |
Belarus, im Iran. | |
Außerdem sei Russland nicht [5][Belarus]. Die russische Zivilgesellschaft | |
sei schwächer, die Menschen vor allem an Konsum statt an Werten | |
interessiert. Die Mentalität sei geprägt vom imperialen Narrativ, man sei | |
das größte und deshalb beste Land der Welt, mit den entsprechenden | |
Befugnissen. | |
## Die deutsche Sehnsucht nach einer heilen Welt | |
Die Lektüre des Buches bietet einen dringend benötigten Reality Check: „Ich | |
spüre in Deutschland eine Sehnsucht nach einer heilen Welt in den | |
Beziehungen zu Russland, ein Verlangen, es möge doch bitte wieder so werden | |
wie früher. Aber machen wir uns keine Illusionen: Nichts wird mehr so sein | |
wie früher.“ | |
Natürlich ist Krieg schlecht, die diplomatische Lösung immer | |
erstrebenswerter als die militärische. Aber wenn ein aggressiver Staat, dem | |
Menschenleben nichts wert sind, sein Nachbarland überfällt und den Zerfall | |
der EU herbeisehnt, muss man sich wehrhaft zeigen. Ohne glaubwürdige | |
Abschreckung macht man eine Ausweitung des jetzigen Krieges auf weitere | |
Länder wahrscheinlicher. | |
Diese Position, die einschlägige Expert:innen vertreten, nimmt auch | |
Gurkov ein und warnt eindringlich vor den besserwisserischen, naiven | |
Russlandversteher:innen hierzulande, deren größtes Problem sei, dass | |
sie oft gar kein Russisch verstehen. | |
28 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Yelizaveta Landenberger | |
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