| # taz.de -- Friedensforscher zur Atomwaffendebatte: „Wir sind wieder im atoma… | |
| > Eine Rüstungskontrolle ist kaum mehr möglich, sagt Friedensforscher | |
| > Ulrich Kühn. Die Eskalation um US-Atom-U-Boote bereitet ihm aber keine | |
| > Sorgen. | |
| Bild: Keine Atomwaffen für Deutschland: Konferenz zum Zwei-plus-Vier-Vertrag 1… | |
| taz: Herr Kühn, Sie haben dazu geforscht, warum Russland [1][entgegen | |
| vielfachen Androhungen] in der Ukraine bislang keine Atomwaffen eingesetzt | |
| hat. Haben Sie eine Antwort gefunden? | |
| Ulrich Kühn: Eine überzeugende singuläre Antwort habe ich bislang leider | |
| nicht gefunden. | |
| taz: Machen Sie sich Sorgen nach der jüngsten Ankündigung von US-Präsident | |
| Trump, Atom-U-Boote in die Region Russlands zu entsenden? | |
| Kühn: Nein, ich mache mir keine Sorgen. Trump versteht scheinbar nicht, wie | |
| die amerikanische nukleare Abschreckung funktioniert. Von den strategischen | |
| U-Booten der USA sind ohnehin permanent vier bis fünf auf See. Man muss sie | |
| nicht in Position bringen, wie es Trump nun gesagt hat. Das ist totaler | |
| Unfug. | |
| taz: Wie erklären Sie sich dann das nukleare Säbelrasseln? | |
| Kühn: Das ist unverantwortliches rhetorisches Gepolter. Trump benutzt hier | |
| eine der extremsten Formen, jemandem zu drohen. Das Ganze ist ja | |
| entstanden, weil Dimitri Medwedjew ihn als „Opa“ bezeichnet hat. Der | |
| US-Präsident hätte Medwedjew als unwichtige Figur im russischen | |
| Schmierentheater auch links liegen lassen können – aber er hat sich | |
| provozieren lassen. | |
| taz: Also: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass Russland vor dem | |
| tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen im Ukrainekrieg zurückschreckt? | |
| Kühn: Es gibt drei gute Kandidaten für eine Erklärung. Eine Möglichkeit | |
| wäre: Die Russen hatten nie vor, Nuklearwaffen einzusetzen. Es könnte ihnen | |
| vielmehr nur darum gehen, Ängste zu schüren und die Strategien im Westen zu | |
| manipulieren. | |
| taz: [2][Die New York Times hat im März 2024 berichtet, dass die USA im | |
| Herbst 2022 von einer atomaren Eskalationsgefahr von immerhin 50 Prozent in | |
| der Ukraine ausgingen.] | |
| Kühn: Man muss mit solchen Aussagen immer vorsichtig umgehen. Trotzdem | |
| sollte man sich die Einschätzung auf der Zunge zergehen lassen: Wenn ein | |
| ernstzunehmender Wissenschaftler damals gesagt hätte, die Chance für einen | |
| russischen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine liege bei 5 Prozent – niemand | |
| hätte auf den vermeintlichen Panikmacher gehört. Und dann lesen wir eine | |
| Analyse, die mutmaßlich von der CIA stammt, und die von 50 Prozent ausging. | |
| Das ist schon heftig. | |
| taz: Und Ihr zweiter Erklärungsansatz? | |
| Kühn: Der würde zu dem von Ihnen erwähnten Artikel passen. Die zweite | |
| Möglichkeit wäre, dass es auf der russischen Seite tatsächlich Überlegungen | |
| gab, taktische Nuklearwaffen in der Ukraine einzusetzen, und dass das | |
| Risiko durch die USA gebannt wurde – durch militärischen Druck auf der | |
| einen und direkte Gespräche mit Russland sowie China und Indien auf der | |
| anderen Seite. | |
| taz: Fehlt noch die dritte mögliche Erklärung. | |
| Kühn: Dass das Ausbleiben eines Nuklearwaffeneinsatzes ein Zusammenspiel | |
| aus glücklichen Fügungen war. Als besonders brisant gilt der Spätsommer | |
| 2022, [3][als die ukrainische Armee Russland zum Rückzug aus der Provinz | |
| Cherson drängte.] Recherchen zeigen, dass die Ukrainer damals kurz davor | |
| gestanden haben könnten, 30.000 russische Kräfte auf einmal festzusetzen | |
| und dann eventuell bis zur Krim durchzumarschieren. In Moskau soll es | |
| Erwägungen gegeben haben, einen solchen Vorstoß der Ukraine mit Atomwaffen | |
| zu verhindern. Es gibt deshalb Vermutungen, dass das Weiße Haus die | |
| Ukraine von einem weiteren Vormarsch abgehalten habe. Gegen diese Annahme | |
| spricht jedoch, dass dafür diverse ukrainische Befehlsstellen hätten | |
| involviert sein müssen, von denen man sicherlich bis heute etwas darüber | |
| gehört hätte. | |
| taz: Warum stellt sich jemand wie Kremlsprecher Dimitri Peskow dann wieder | |
| hin und sagt: Wenn eine Atommacht die Ukraine zum Angriff auf Russland | |
| „anstiftet“, dann könne Moskau auch Atomwaffen einsetzen. | |
| Kühn: Das sagt uns, dass Russland nicht aufhören wird, die nukleare Karte | |
| zu spielen. Es ist ein Spiel mit der Ungewissheit. Russland wird weiter | |
| drohen und darüber versuchen, Einfluss zu nehmen. | |
| taz: Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass es noch zu einem | |
| russischen Einsatz von Atomwaffen kommen könnte? | |
| Kühn: Ich halte mich an das, was ich am Anfang des Krieges der New York | |
| Times gesagt habe: Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gleich null. Das mag | |
| sich jetzt ein bisschen spitzfindig anhören, aber wir haben es hier mit | |
| einer nuklear bewaffneten Macht zu tun. Daher kann man das nicht komplett | |
| ausschließen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich die Möglichkeit aber für | |
| sehr niedrig erachten. Es ist jedoch nicht undenkbar, dass dieser Krieg | |
| noch eine weitere dramatische Wendung nimmt. Für autokratische Herrscher | |
| gilt, dass alles noch unangenehmer werden kann, wenn sie sich persönlich in | |
| die Ecke gedrängt fühlen. Und das gilt auch für Wladimir Putin. Was, wenn | |
| eine Clique aus Militärs, Geheimdiensten, Politikern beschließt, dass es | |
| ihnen mit Putin zu prekär wird? Wenn er um seine eigene Zukunft bangen | |
| muss, könnte ich mir vorstellen, dass die Wahrscheinlichkeit für eine | |
| nukleare Eskalation steigt. | |
| taz: Würden deutsche Nuklearwaffen Europa sicherer machen? | |
| Kühn: Eine spannende Frage. Ich habe bisher keine relevante Stimme in | |
| Europa vernommen, für die deutsche Nuklearwaffen ihr schlimmster Albtraum | |
| wären. Aber ich habe auch noch niemanden gehört, der das ernsthaft | |
| vorschlägt – außer CDU-Fraktionschef Jens Spahn, der [4][unter Druck steht | |
| durch die Maskenaffäre] und [5][die verkorkste Wahl zum | |
| Bundesverfassungsgericht]. | |
| taz: Dann ist das also nur eine Phantomdiskussion? | |
| Kühn: Die Sicherheit der Bundesrepublik beruht unter anderem auf | |
| Nuklearwaffen, und zwar seit die USA sie Mitte der 50er Jahre auf | |
| westdeutschem Boden stationiert hatten. Von Adenauer über Brandt, Kohl und | |
| Merkel bis Scholz und jetzt Merz: Obwohl es teils deutliche Mehrheiten in | |
| der Bevölkerung gegen diese Waffen gab, hat bis heute keine Bundesregierung | |
| je den Abzug gefordert. Das zeigt mir, dass die führende politische Klasse | |
| die nukleare Abschreckung als zentral für Deutschlands Sicherheit begreift. | |
| Das heißt für mich aber auch, dass in dem Moment, in dem die USA ausfallen | |
| und vielleicht dann auch noch Frankreich unter einer rechtsradikalen | |
| Präsidentschaft steht, wir in Deutschland eine ernsthafte Debatte über | |
| deutsche Nuklearwaffen bekommen werden. Das ist für mich das | |
| Extremszenario, von dem ich leider sagen muss, dass es nicht mehr so weit | |
| entfernt scheint. | |
| taz: Deutsche Atomwaffen wären allerdings sowohl ein Verstoß gegen den | |
| Atomwaffensperrvertrag [6][als auch den Zwei-plus-vier-Vertrag.] | |
| Kühn: Das ist korrekt. Aber unter veränderten Bedingungen können Verträge | |
| eben auch hinfällig werden. Allerdings sollten immer auch die Folgen | |
| bedacht werden. Denn wenn der Atomwaffensperrvertrag als hinfällig | |
| begriffen wird, dann werden auch andere, wie Japan, Südkorea, die Türkei | |
| oder die Saudis daraus ihre Schlüsse ziehen. Und rein statistisch gesehen | |
| könnte man argumentieren, dass mit der steigenden Zahl der Besitzer auch | |
| die Wahrscheinlichkeit steigt, dass irgendwann wieder Nuklearwaffen | |
| eingesetzt werden. | |
| taz: Den Iran haben Sie in Ihrer Aufzählung nicht erwähnt. Ist das Thema | |
| nach den [7][israelischen und US-amerikanischen Militärschlägen] jetzt erst | |
| mal erledigt? | |
| Kühn: Nein, das ist es nicht. Ein Atomprogramm wie das iranische lässt sich | |
| nicht durch solch eine militärische Intervention beenden. Dafür hätten die | |
| USA schon einmarschieren und jeden Stein umgraben müssen, um das | |
| sicherzustellen. Die Bombardierungen dürften die Bemühungen Irans eher | |
| befördert haben, jetzt möglichst schnell die Bombe zu bekommen. | |
| taz: Der [8][aktuelle Sipri-Bericht] konstatiert eine neue Dynamik des | |
| weltweiten atomaren Wettrüstens. Teilen Sie diesen Befund? | |
| Kühn: Ja, durchaus. Wir sind wieder in einem atomaren Wettrüsten. | |
| Insbesondere die chinesische Seite schreitet mit einer ziemlichen | |
| Geschwindigkeit voran, wenn man sich anschaut, wie sie die Anzahl ihrer | |
| Nuklearwaffen binnen kurzer Zeit erhöht hat. Das führt zu einer sehr | |
| unschönen Dynamik. Im Vergleich zu den USA hat China zwar immer noch | |
| weitaus weniger Nuklearwaffen, aber die US-Administration stellt die | |
| chinesischen Sprengköpfe in einen direkten Zusammenhang mit dem großen | |
| russischen Arsenal und reagiert entsprechend. So entsteht eine gefährliche | |
| Rüstungsspirale – diesmal zwischen drei Parteien. | |
| taz: Sehen Sie noch einen Ausweg aus dieser Spirale? | |
| Kühn: Die Menschheit hat bewiesen, dass sie sehr lernfähig sein kann. | |
| Deswegen möchte ich die Hoffnung und den Glauben nicht aufgeben. Zum | |
| jetzigen Zeitpunkt spricht jedoch leider nicht viel dafür, dass wir aus | |
| dieser Dynamik, in der wir jetzt sind, schnell wieder rauskommen. Für die | |
| westlichen Demokratien ergibt sich dabei eine zusätzliche Gefahr, weil das | |
| Geld, das sie für Rüstung ausgeben, an anderer Stelle fehlen wird. Das gilt | |
| insbesondere für den sozialen Bereich. Das jedoch untergräbt den | |
| demokratischen Zusammenhalt im Inneren. | |
| taz: Haben Sie den Glauben an Rüstungskontrolle verloren? | |
| Kühn: Ich befürchte, dass wir in eine Phase eintreten, in der klassische | |
| Rüstungskontrolle, so wie wir sie aus dem Kalten Krieg kennen, erst mal | |
| nicht mehr möglich sein wird. Was ich persönlich hoffe und woran ich | |
| forsche, ist die sogenannte verhaltensorientierte Rüstungskontrolle. Das | |
| heißt, dass konkurrierende Großmächte erst einmal versuchen, gegenseitig | |
| festzuhalten: Was sind bestimmte Verhaltensnormen, die man für akzeptabel | |
| oder inakzeptabel hält? | |
| taz: Was meinen Sie damit konkret? | |
| Kühn: Ein Beispiel: Wäre es für die USA eine akzeptable Vorstellung, wenn | |
| China die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen komplett an eine | |
| künstliche Intelligenz abtreten würde? Und wie fände es umgekehrt China, | |
| wenn die USA das machen würden? Ich glaube, da kann man sich auf einen | |
| Common Sense verständigen, auf eine gemeinsam geteilte Norm, dass der | |
| Mensch hier immer involviert sein muss. Anderes Beispiel: Wäre es eine | |
| beruhigende Vorstellung, sich gegenseitig seine Radaranlagen im Weltraum | |
| urplötzlich auszuschalten? Es gibt eine Reihe von Sachen, wo die | |
| involvierten Politiker und Militärs wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen | |
| dürften, dass es besser ist, sich an einen Tisch zu setzen und solche | |
| Angriffsoptionen auszuschließen. | |
| taz: Aber wie kommt man dahin? | |
| Kühn: Dazu bedarf es nicht eines riesigen neuen Vertrages, sondern | |
| möglicherweise einigt man sich zunächst nur auf eine entsprechende | |
| gemeinsame Erklärung. Dann hat man aber schon mal etwas, auf dem aufgebaut | |
| werden kann. Allerdings braucht man dafür natürlich Staaten, die ernsthaft | |
| auch Diplomatie betreiben wollen und nicht Regierungen, die gerade dabei | |
| sind, alle ihre Diplomaten in die Arbeitslosigkeit zu verabschieden, wie es | |
| eine gewisse Regierung in Washington gerade tut. | |
| 4 Aug 2025 | |
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| [1] /Propaganda-im-russischen-Fernsehen/!5852681 | |
| [2] https://www.nytimes.com/2024/03/09/us/politics/biden-nuclear-russia-ukraine… | |
| [3] /Kiew-erobert-Doerfer-bei-Cherson-zurueck/!5854834 | |
| [4] /Ein-Rezept-fuer-den-Abgang/!6095451 | |
| [5] /Wahl-zur-Verfassungsrichterin/!6099841 | |
| [6] /Maritimes-Hauptquartier-der-Nato/!6041567 | |
| [7] /Krieg-zwischen-Iran-und-Israel-/!6093110 | |
| [8] /Jahresbericht-von-Sipri/!6091396 | |
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