Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Europäische Kulturhauptstadt 2025: Chemnitz ist nicht Bayreuth
> Mit dem Verliererimage brechen: Chemnitz will sich im
> Kulturhauptstadtjahr neu erfinden. Das Programm setzt auf Breite statt
> auf Stars.
Bild: Noch ist Geschichte hier eher Last als Lust: Chemnitz, das einst Karl-Mar…
Chemnitz bleibt eben Chemnitz, möchte man resigniert in ein altes Lied
einstimmen, das doch das Kulturhauptstadtjahr 2025 endgültig verstummen
lassen will. Die rechtsextremen Heimatbeschmutzer der Freien Sachsen aus
dem Erzgebirge werden mit einer Demonstration schon das Eröffnungsfest am
18. Januar stören. Dem wollen sich das Kulturbündnis Chemnitz und
Initiativen wie „Demokrateam“ entgegenstellen. Die prognostizierten
Teilnehmerzahlen auf beiden Seiten gehen in die Tausende.
Es ist ein Schlag gegen den Geist der erfolgreichen Bewerbung und der
vierjährigen Vorbereitungsphase. Die will nach historischen Brüchen [1][mit
dem Verliererimage der ehemals reichsten deutschen Industriestadt brechen.]
Sie will vor allem aber dem Ruf positiv begegnen, Chemnitz sei ein Hort
rechter und reaktionärer Gesinnungen.
Der hatte sich verfestigt, nachdem es Ende August 2018 zu
ausländerfeindlichen Ausschreitungen gekommen war, die auch von Teilen der
Bevölkerung unterstützt wurden. Am Rande des Stadtfestes war ein
Deutschkubaner nach Auseinandersetzungen erstochen worden, ein Iraker wurde
später wegen Totschlags verurteilt.
Wenn Defätisten und Miesmacher ohnehin schon gegen Kultur und Bemühungen um
städtischen Zusammenhalt stänkern, kann man am 18. Januar seinen Protest
ebenso durch demonstratives Feiern äußern. Und sich über die europaweite
Anerkennung einer selten objektiv betrachteten Stadt freuen. Ab 11 Uhr
stellen in der Stadthalle 60 Projekte ihre Programmschaufenster vor. Der
offizielle Festakt findet um 16 Uhr in der Oper statt. 18 Uhr ziehen 120
Freiwillige die „Hegel“-Dampflok aus der Hartmannfabrik durch die
Innenstadt. Und ab 20 Uhr rasselt es in allen Clubs.
## Eher Last als Lust
Wer in diesem Jahr nach Chemnitz reisen möchte, sollte dies vor allem in
der Absicht tun, an den Transformationsbemühungen einer Stadtgesellschaft
teilzuhaben. Ein umfassender Kulturbegriff bietet dafür die Basis. [2][Noch
ist Geschichte hier eher Last statt Lust.] Verlusterfahrungen, aber auch
Denunziationen überwiegen. Parallelen zur zweiten europäischen
Kulturhauptstadt drängen sich auf, zur Doppelstadt Nova Gorica und Gorizia.
Die Aufrechnung der Gräuel slowenischer Partisanen gegen den Terror
italienischer Faschisten soll dort überwunden werden.
Chemnitz ist nicht Salzburg oder Bayreuth. Ein Kulturhauptstadtjahr ist
kein Festival, bei dem der Politik- und der Geldadel sich und eine
aufregende Garderobe ausführen. „Die Kulturhauptstadtbewerbung von Chemnitz
entwickelt sich zum Katalysator für Stadtentwicklungsprozesse der nächsten
zwei Jahrzehnte“, konstatierte stattdessen schon 2018 Ferenc Csák, [3][der
„Vater“ der Bewerbung] und seit 2015 Leiter des sieben Einrichtungen
umfassenden Kulturbetriebes der Stadt Chemnitz.
Csák wusste, dass auch die Vergabejury größten Wert auf „für die
Stadtgesellschaft relevante Projekte“ legt. 1974 in Ungarn geboren, leitete
er schon die Ungarische Nationalgalerie, war dort Staatssekretär für Kultur
im Bildungs- und Kulturministerium und führte 2010 Pécs im Süden des Landes
zum Titel der europäischen Kulturhauptstadt.
„Nicht die Intendanten und Leiter der großen Kultureinrichtungen haben sich
ein Programm für die Bewerbung überlegt, sondern alle haben dazu einen
offenen Zugang“, erklärte er zwei Jahre vor dem Chemnitzer Vergabeerfolg
Ende 2020. Die Spannweite der Beteiligungen reiche von den Kleingärten bis
zu den großen Städtischen Kunstsammlungen.
## Selbstentdeckung einer Stadtgesellschaft
Das klang 2020 in der heißen Phase der Vergabeentscheidung und zugleich in
der ersten Coronawelle noch nach Wunsch und Ideal. Auf den Straßen von
Chemnitz traf man damals sowohl Interessenten als auch Ignoranten. „Solchen
Mist brauchen wir hier nicht!“ Ferenc Csák rechnete damals damit, dass man
nur – aber immerhin – die Hälfte der Leute erreiche. Und schwärmte zuglei…
von der „Chance, einen Traum zu leben, und das mit wunderbaren Leuten“,
sprach aber ebenso von einem „Weg, den wir mit der Taschenlampe gehen“.
Unter diesem Aspekt der Selbstentdeckung einer Stadtgesellschaft und der
Breitenwirkung muss alles gesehen werden, was das 438 Seiten starke
Programmbuch für 2025 auflistet. Beurteilt werden sollte der Erfolg am Ende
dieses Jahres nach der mentalen Veränderung und weniger nach der Zahl
verkaufter Eintrittskarten bei rund tausend Veranstaltungen. Zwei Millionen
Besucher werden erhofft, 100.000 allein am Eröffnungstag.
875 Akteure setzen das Kulturhauptstadtprogramm in diesem Jahr um, 600
Volunteers sind im Freiwilligenprogramm beteiligt, 38 Kommunen aus der
Region einbezogen. Das hat Chemnitz aus der gescheiterten Görlitzer
Kulturhauptstadtbewerbung 2010 gelernt. Auch der unterlegene ostdeutsche
Konkurrenzkandidat Zittau für 2025 setzte stark auf eine Vernetzung mit der
Umgebung.
In Chemnitz tut das am auffälligsten der Kunst- und Skulpturenweg „Purple
Path“ mit zeitgenössischer Kunst in öffentlichen ländlichen Räumen, teils
mit Bezug zur Bergbauregion. Und fünf Tage nach dem Jahresauftakt steuert
beispielsweise am 23. Januar die Schumann-Philharmonie im 25 Kilometer
entfernten Zwickau ein Eröffnungskonzert bei.
## Exkursionen
Schon seit zehn Jahren gibt es in den Chemnitzer Stadtteilen und Vororten
Bürgerplattformen. Aktive Bürger, Vereine und Verwaltung arbeiten in
lokalen Belangen zusammen. In der Vorbereitungsphase des
Kulturhauptstadtjahres wurden sogenannte Interventionsflächen als
Schwerpunkte fixiert. Ein 19 Kilometer langer Höhenwanderweg am Stadtrand
dürfte das ausgedehnteste Projekt sein.
Bei der Programmvorstellung im Oktober 2024 führten Exkursionen an Orte,
die den Schub für die Stadtentwicklung veranschaulichen. Ein ehemaliger
Abfallhof im Südosten, bislang nur Abstellgelegenheit für Müllfahrzeuge,
avancierte zu einer dieser Interventionsflächen. Auf 4.000 Quadratmetern
entsteht ein Makerhub, ein Kreativhof „Stadtwirtschaft“ mit
Veranstaltungssaal. Zwei Drittel der Kosten werden allerdings aus
Städtebaumitteln des Bundes finanziert.
Die Neuentdeckung der etwa 30.000 noch zu DDR-Zeiten errichteten Garagen
zieht sich wie ein Motivfaden durch das Programm. Ihre künstlerische
Neubelebung bezog sich aber nur auf 3.000 dieser einst begehrten
Autoschachteln und konzentriert sich inzwischen vor allem auf den
Garagencampus im Ortsteil Kappel, einem ehemaligen Straßenbahndepot. Denn
nicht alle Träume reiften im gewünschten Umfang. Die spektakuläre
Pflanzaktion von 4.000 Apfelbäumen scheiterte schlichtweg am Geld.
Die verwirrende Vielzahl künstlerischer Veranstaltungen lässt sich bei den
großen Institutionen noch am leichtesten überblicken. Das städtische
Fünfspartentheater steckt alle Energie in die für September geplante
Uraufführung der Oper „Rummelplatz“, Untertitel „Eine Oper über die
(Un)Möglichkeiten des Lebens“.
Es geht um ein fiktives Erzgebirgsdorf, den Bergbau, die Arbeit und die
politischen Normierungen in der DDR. Die Schriftstellerin [4][Jenny
Erpenbeck] schrieb das Libretto nach dem Roman des Chemnitzers Werner
Bräunig, die Musik komponierte Ludger Vollmer.
## Vergleich europäischer Industriestädte
Die auch zu überregionaler Reputation gelangten Städtischen Kunstsammlungen
widmen sich in „European Realities“ den Realismusbewegungen ab 1920. Eine
zweite Ausstellung zeigt [5][Edvard Munch] und will damit das Thema Angst
illustrieren. Ausgesprochen auf Chemnitz zugeschnitten erscheint der ab
April im Industriemuseum zu sehende Vergleich der Entwicklung ehemaliger
europäischer Industriestädte.
In Chemnitz wurden nicht nur Lokomotiven in der Hartmannfabrik gebaut. Der
riesige Rangierbahnhof Hilbersdorf präsentiert sich in diesem Jahr auch als
Europas größtes Eisenbahnmuseum. Analog trägt das Landesmuseum für
Archäologie im früheren Schocken-Kaufhaus der Bergbauregion Rechnung. Die
Ausstellung „Silberglanz und Kumpeltod“ spielt auf den Deputatschnaps für
DDR-Bergarbeiter an.
Einen Beitrag zur Bewusstwerdung und Adaption der Geschichte in dieser
Stadt der Brüche und Widersprüche dürfte ein einzigartiges
Storytelling-Projekt leisten, das den engen sächsischen Horizont
überschreitet. Im britischen Manchester und in Chemnitz entstehen in
Schreibwerkstätten multimediale Geschichten. Beide waren Industriestädte
und regenerieren sich, Chemnitz war noch stärker von Kriegsfolgen und der
Deindustrialisierung nach der deutschen Währungsunion 1990 betroffen.
Bunt, weltoffen und angstfrei will sich Chemnitz zeigen und damit die
Außenwahrnehmung von 2018 korrigieren. Ähnliches hatte 2018 auch Csák
intendiert, wusste aber, dass sich Resistenz gegenüber billigen Verführern
erst mittelfristig einstellt. Eine „Europäische Werkstatt für Kultur und
Demokratie“ nimmt deshalb einen zentralen Platz im Programm ein.
Aus 250 Anträgen sind 60 Projekte des Respekts vor Diversität, der
Verständigung unter den Generationen und mit den Nachbarn ausgewählt
worden. Kann schon der Kulturjahresauftakt mit einem Hauch von Lebensfreude
dem trendigen Gejammer etwas entgegensetzen, erscheinen solche Bemühungen
nicht aussichtslos.
12 Jan 2025
## LINKS
[1] /Kulturhauptstadt-Chemnitz-2025/!6056576
[2] /NSU-Dokumentationszentrum-in-Chemnitz/!6005197
[3] /Europaeische-Kulturhauptstadt-2025/!5743008
[4] /Auszeichnung-fuer-Autorin-Jenny-Erpenbeck/!6009836
[5] /Edvard-Munch-in-Oslo/!5937246
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Chemnitz
Europäische Kulturhauptstadt
Kulturhauptstadt
Sachsen
Social-Auswahl
Chemnitz
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Theater
Chemnitz
Schwerpunkt Ostdeutschland
Europäische Kulturhauptstadt
Ausstellung
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theaterprojekt aus Chemnitz: Anheimelnde Bräuche sind eingeschlossen
Vier Stücke an einem Abend: Das ambitionierte Theaterprojekt „Inside
Outside Europe“ der Kulturhauptstadt Chemnitz nimmt sich des Themas
Migration an.
Claudia Roth über Ukraine, AfD und Söder: „Wir dürfen nicht nachlassen“
Die Staatsministerin für Kultur und Medien fordert Solidarität mit der
Ukraine. Sowie im Kampf gegen rechts, gerade nach der Tat von
Aschaffenburg.
Lessingpreis für Georg Genoux: Kulturpolitische Uneinigkeit
Sachsen würdigt die Integrationsarbeit des sozialtheatralen Zentrums
Thespis in Bautzen mit dem Lessingpreis. Und streicht zugleich die
Förderung.
Eröffnung Chemnitz Kulturhauptstadt 2025: Einfach mal ausprobieren
DIY, Ostmoderne, Apfelbäume: In Chemnitz kommt Unterschätztes zur Geltung.
Ein Bericht von der Eröffnung des Europäischen Kulturhauptstadtjahres.
Kulturhauptstadt Chemnitz 2025: Eine Stadt in neuem Licht
Chemnitz wird am Samstag als Kulturhauptstadt mit Feierlichkeiten
eingeweiht. Ob das ausreicht, um ihr Nazi-Image loszuwerden? Ein
Spaziergang.
Kulturhauptstadt Chemnitz 2025: Wenn Karl Marx das noch erleben würde
Chemnitz ist dieses Jahr europäische Kulturhauptstadt. Die sächsische Stadt
will die Kerben ihrer Geschichte mit Stolz tragen. Gar nicht so leicht.
Ausstellung über Klimawandel in Chemnitz: Wehe, ihr fasst das Auto an
In der zweiten Ausgabe der Ausstellung „Gegenwarten“ in Chemnitz geht es um
die ganz großen Themen. Und ums Auto.
NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz: Rechte Netzwerke erkennen
In Chemnitz entsteht ein NSU-Dokumentationszentrum über rechtsextremen
Terror. Das Neonazi-Umfeld der Mörder lebt weiterhin in der Stadt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.