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# taz.de -- Besuch in der Rassistenstadt: Chemnitz ist einfach überall
> Ich muss an der Uni Chemnitz lesen – in der denkbar ungünstigsten Stadt
> für einen Osman. Werder Bremen gegen Bayern sehe ich in einer
> Fascho-Kneipe.
Bild: Nicht jede und jeder fühlt sich in Chemnitz zu Hause
Den kürzesten Witz aller Zeiten kennt doch jeder: „Eine Blondine geht zur
Uni.“ Es gibt jetzt einen noch kürzeren – diesmal nicht ganz so
frauenfeindlich: „Ein Osman geht zur Uni“ – und das in Chemnitz.
Das ist leider kein Witz, sondern die bittere Wahrheit. Ich muss hier an
der Uni lesen. Was tut man nicht alles, um Kind und Kegel zu ernähren?
Chemnitz ist nicht nur [1][die denkbar ungünstigste Stadt für einen Osman],
ob zum Lesen oder Leben, heute ist es auch der denkbar ungünstigste
Zeitpunkt. Gleich spielt Werder gegen Bayern.
„Wo kann ich mir denn das Spiel angucken? Bis zur Lesung ist ja noch etwas
Zeit“, frage ich den Veranstalter.
„Es gibt zwar eine Kneipe hier, wo man die Fußballspiele angucken kann,
aber das würde ich Ihnen nicht gerade empfehlen. Nicht mit diesem Gesicht,
mit diesen Haaren, mit diesem Namen und mit diesem Akzent“, sagt er. „Zum
Haarefärben habe ich nicht genügend Zeit, geschweige denn für eine
Schönheits-OP.“ „Dann bleiben Sie hier. Das hier ist der sicherste Ort für
Sie. Bei der Lesung bekommen Sie auch noch Polizeischutz.“
„Ich muss aber [2][die Bremer Mannschaft heute unbedingt unterstützen].
Ohne mich steigen die Versager direkt ab. Kennen Sie nicht die
Statistiken?“
„Meinen Sie, Bremens Fußball-Statistiken?“
„Nein, die Nazi-Statistiken von Chemnitz. Wie viele Faschos habt Ihr denn
hier prozentual gesehen?“
„Sagen wir mal so: Statistisch wäre es für mich viel vorteilhafter, wenn
ich Ihr Honorar erst nach der Lesung bezahlen würde“, lachte er.
15 Minuten später betritt Werder mit zitternden Knien in München den Rasen
– und ich mit schlotternden Knien in Chemnitz eine Fascho-Kneipe. Zu den
vier Nachteilen – Gesicht, Haare, Name, Akzent – kommt jetzt leider noch
ein fünfter hinzu: Die sind hier alle hartgesottene Bayern-Fans. Wie hat
Hoeneß das so schnell geschafft? Schon fünf Minuten später habe ich es
raus: Beide sprechen so eine Art Deutsch, die kein Mensch versteht.
„Du schwule Sau!“, brüllt auf einmal der ganze Laden. Nein, nicht ich,
sondern der Schiedsrichter ist damit gemeint. Ich wäre jetzt so gern an
seiner Stelle. Erstens, ich wäre weit weg von hier. Zweitens, ich hätte
Werder einen Elfer geschenkt. Oder zwei.
Inzwischen hat der Kellner mich entdeckt. „Heeeey, wir haben einen Kanaken
hier!“, brüllt er. Mehrere Köpfe drehen sich wütend zu mir um. Insbesondere
die kahl rasierten. Drei von denen stehen bedrohlich auf. Werder hat
inzwischen auch drei eingefangen.
„Nur drei Nazis? Ist das nicht ein bisschen wenig für so [3][eine stolze
Rassistenstadt] wie Chemnitz? Jetzt bitte alle Nazis aufstehen“, brülle ich
in die Runde.
29 von 43 Leuten stehen auf. „Vielen Dank für eure Mitarbeit, ihr könnt
euch jetzt wieder setzen. Es war nur für die Statistik. Tschüüüüss“, rufe
ich und renne weg – mit Sicherheit viel schneller als Werders lahmarschiger
Mittelstürmer.
10 May 2024
## LINKS
[1] /Gegen-Rassismus-in-Chemnitz/!5996524
[2] /Werder-Bremen/!t5009054
[3] /NSU-Dokumentationszentrum-in-Chemnitz/!6005197
## AUTOREN
Osman Engin
## TAGS
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