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# taz.de -- Neue Sachlichkeit in Chemnitz: Die Liaison war Stadtgespräch
> Die Schau „European Realities“ in Chemnitz entfaltet ein großes,
> europäisches Panorama zur Neuen Sachlichkeit in den 1920er Jahren.
Bild: Milada Marešová: „Wohltätigkeitsbasar“, 1927. Vorne das prominente…
Er habe das Gefühl, dass „auf ein dämonisches Sichwegschleudern von dieser
Erde noch einmal unersättliche Lust an ihr erwacht sei, Lust an ihrem
fragmentarischen Charakter“, hat Franz Roh 1925 in seiner Studie „Magischer
Realismus. Probleme der neuesten Malerei“ festgestellt. Nach Ende des
Ersten Weltkriegs und seiner apokalyptischen, opferreichen Schlachten war
für Roh die farbenfrohe und sinnliche Formensprache des Expressionismus
Geschichte.
Stärkere Konturen und strengere Formensprachen sollten als „Neue
Sachlichkeit“ oder „Magischer Realismus“ eine symbolische Rückkehr zur
Ordnung markieren – als Gegenpol zum Chaos in der Welt.
Mit Ordnung waren keineswegs restaurative gesellschaftspolitische
Entwicklungen gemeint. Um 1918 endeten alte Regime wie das deutsche
Kaiserreich. Demokratie erstarkte zunächst. Frauen erstritten in Europa das
Wahlrecht. Die Oktoberrevolution in Russland setzte an vielen anderen Orten
positive Energien frei.
Dieser umfassende Wandel blitzt in der Ausstellung „European Realities.
Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“ im Museum
Gunzenhauser in Chemnitz an vielen Stellen auf. Die große Schau liefert
neue Panoramen über Gesellschaften und Alltag zwischen den Weltkriegen und
untersucht den vom Münchner Kunsthistoriker Franz Roh 1925 konstatierten
„Magischen Realismus“ auf noch nie dagewesene Weise: 300 Werke von 190
Künstler:Innen aus 20 Ländern sind zu sehen.
## Vor den Nazis geflohen
D[1][ie Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Anja Richter] hat dafür über
mehr als fünf Jahre viele Schätze zusammengetragen. Länderspezifische
Charakteristika sind für „European Realitites“ zugunsten von Kategorien wie
Porträt und Stilleben, Nachtleben oder Arbeit in den Hintergrund gerückt.
Es wird so klarer, dass künstlerische Ideen und Ansätze als Wissenstransfer
und mit Migrationsbewegungen weitergewandert sind.
Wobei auf bekannte Kunstwerke nicht verzichtet wird, etwa „Selbstbildnis
als Warner“, ein Gemälde von George Grosz (1927), das um selten zu sehende
Werke sinnvoll ergänzt wird, [2][wie „Epoche“ (1928) von Lotte B. Prechner.
Ein Porträt, das den unorthodoxen Kommunisten George Padmore aus Trinidad
zeigt], neben einem Bücherstapel und einer Papierrolle, auf der Worte und
Wortteile wie „Diktat…“ und „…ismus“ erkennbar sind. Prechner, jüd…
Künstlerin aus dem Rheinland, war eine Zeitgenossin von Grosz, wie dieser
musste sie 1933 vor den Nazis aus Deutschland fliehen und fand in Belgien
Zuflucht.
Viele bis dato unbekannte Kunstwerke aus Lettland, Polen und Bulgarien sind
neben solchen von bekannteren Namen aus Schweden, Italien und England
ausgestellt. Zu den europäischen Realitäten nach 1920 gehört etwa, dass
mehr exotische Zierpflanzen aus Übersee den Weg nach Europa fanden. Das
Reisen war damals nur wenigen möglich, Kakteen tauchen in vielen Stillleben
auf, bringen Farbe in den grauen Alltag: Etwa bei „Bücher auf einem Tisch“
(1928), vom finnischen Maler Ilmari Aalto, der einen Kaktus neben einem
Buchstapel zeigt und einen Umschlag, auf dem Menschen auf Kamelen sitzen.
Wie schon im Expressionismus war Paris der archimedische Punkt, ob für
Künstler:Innen aus Osteuropa oder Skandinavien. In der französischen
Hauptstadt kamen Amerika, Afrika und Europa zusammen wie nirgendwo sonst.
Abweichend von Expressionismus und seinem Kult von Primitivismus und
Volkskunst entsprechen viele Darstellungen, die in Chemnitz zu sehen sind,
dem Versuch, mit der Neuen Sachlichkeit ein objektives Dasein von
Gesellschaft zu erfassen und gegenständlich abzubilden.
## Wimmelbild in Abendgarderobe
Das Gemälde „Wohltätigkeitsbasar“ (1927) von Milada Marešová, entstanden
wie zahlreiche Exponate während eines längeren Aufenthalts der
tschechischen Künstlerin in Paris, zeigt auf einem Wimmelbild Menschen in
festlicher Abendgarderobe. Zentral in der Mitte steht ein alertes Paar.
[3][Es handelt sich um die britische Publizistin Nancy Cunard und den
afroamerikanischen Jazzmusiker Henry Crowder], deren reale Liaison im Paris
Mitte der 1920er zum Stadtgespräch wurde: Eine weiße, wohlhabende Frau
liebt einen schwarzen Künstler. Das Paar wurde von Paparazzi verfolgt und
von Rechten bedroht. Im Gemälde von Marešová sind die beiden Figuren
eingereiht ins Partytreiben und doch fallen sie in der Menge auf.
Anders als im Stummfilm jener Zeit, der in kolonialer Nostalgie Schwarze zu
fratzenhaften Bösewichten verzerrte oder in völkischen Zeitungsmedien, wo
afrikanische Soldaten der französischen Armee in einer rassistischen
Kampagne zu Vergewaltigern abgestempelt wurden, sind in Chemnitz Menschen
zu erkennen: Etwa bei „Senegalesen“ (1928) vom polnischen Maler Ludomir
Sleńdziński, entstanden bei einem Studienaufenthalt in Westafrika. Hier
besticht die ungewöhnliche Perspektive. Zwei junge Männer stehen an einer
Glasscheibe oder Wand. Der eine guckt nach rechts unten, der andere in
Uniform und traditioneller Tarbusch-Mütze blickt betreten zu Boden. Beide
schauen an den Rezipienten vorbei.
Der Komponist George Antheil hat Ende der 1920er in einem Essay über Jazz
geschrieben, „was so viele von uns auf ihren Leinwänden, auf ihrem
Notenpapier bereits zum Ausdruck haben bringen wollen … ist ein Neubeginn,
es ist der Schwarze Mensch.“
Wo die offenen Grenzen in Europa schon wieder verteidigt werden müssen,
liefert „European Realities“ Chemnitz als Europäischer Kulturhauptstadt
einen passenden internationalen Rahmen.
8 Jul 2025
## LINKS
[1] /Kulturkuerzungen-in-Chemnitz/!6087439
[2] /Londoner-Dubpoet-Linton-Kwesi-Johnson-/!6096603
[3] /Antirassistisches-Werk-Nancy-Cunards-Negro/!5735714
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Bildende Kunst
Moderne
Europa
Paris
Chemnitz
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Chemnitz
Ausstellung
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