# taz.de -- Antirassistisches Werk „Nancy Cunards Negro“: Die Avantgarde sc… | |
> Nancy Cunard initiierte mit schwarzen Autor:Innen die erste Geschichte | |
> afroamerikanischer Kultur. Sie zu lesen lohnt bis heute. | |
Bild: Nancy Cunard im Jahr 1932 in Harlem | |
Zwei Gemälde von de Chirico, zwei Tanguys, eine Gouache von Picabia, | |
Zeichnungen von Wyndham Lewis – ein kleiner Ausschnitt dessen, was an | |
Werken in der Wohnung von Nancy Cunard hängt, die sie 1920 unweit der | |
Kathedrale Notre Dame bezogen hat und zu einem Maschinenraum der | |
künstlerischen Avantgarde jener Zeit gestalten sollte, als Paris | |
Weltmetropole der Kultur war; bei der Britin gehen die wichtigsten Figuren | |
von Vortizismus, Dadaismus, Kubismus ein und aus, entweder war sie mit | |
ihnen freundschaftlich verbunden oder sie förderte sie, indem sie Bücher | |
veröffentlichte und Ausstellungen organisieren half. | |
Im Paris jener Zeit entsteht auch ein Kult um afrikanischen | |
„Primitivismus“, Cunards Erkennungszeichen waren afrikanische Armreifen, | |
die sie zu Dutzenden um ihre dünnen Arme geschlungen hatte. | |
Wer über Nancy Cunard (1896 bis 1965) schreibt, kommt ins Aufzählen, so | |
zahllos sind ihre künstlerischen Kontakte, so gewieft sind ihre | |
Netzwerkfähigkeiten, so ausgeprägt ist ihr furchtloser Wille, voranzugehen | |
als Publizistin, It-Girl und politische Aktivistin. | |
Aufgewachsen ist sie als Tochter der schwerreichen Reedereifamilie Cunard, | |
in einem der wohlhabendsten Upperclass-Häuser Großbritanniens. Ihr stand | |
ein sorgloses High-Society-Leben offen, gegen das sie schon als | |
Heranwachsende rebellierte; insbesondere gegen ihre Eltern, die weder Zeit | |
noch Zuneigung für ihr Kind aufbrachten, und allgemein gegen die strengen | |
Sitten der britischen Elite. | |
## Wohlstand und Verwahrlosung | |
Aus patriotischem Pflichtbewusstsein arbeitete Cunard im Ersten Weltkrieg | |
als Krankenschwester, organisierte Lesungen für verwundete Soldaten. | |
Mutmaßlich wurde sie aus der Bahn geworfen, als ihr Geliebter im Ersten | |
Weltkrieg fiel. Jazz, der um 1917/18 in Großbritannien ankam, Alkohol und | |
diverse Liebschaften lenkten vom Leid ab. | |
Bei Cunard findet alles gleichzeitig statt, ihre Loslösung von der Familie, | |
die Selbstverwirklichung als Protagonistin von Kunst und Literatur in Paris | |
und das Ausscheren aus den gesellschaftlichen Konventionen mithilfe von | |
Jazz. Dies macht es für Chronisten ihres Lebens schwer, den Überblick zu | |
behalten. Beim Aufzählen droht zudem das Nachbeten des männlichen Kanons, | |
so männlich, wie die Geschichte zu Cunards Lebzeiten und noch lange danach | |
dominiert war. | |
Sicherlich einer der Gründe, warum die Britin hierzulande kaum Erwähnung | |
findet, obwohl sich in ihrer abenteuerlichen Vita viele Krisen und | |
Konflikte des totalitären 20. Jahrhunderts spiegeln, genau wie ihre | |
Versuche der Befreiung von diesem Alb. Eine Annäherung an die Rastlose wagt | |
der Münchner Autor Karl Bruckmaier: „Nancy Cunards Negro“ ist seine stark | |
gekürzte deutsche Auswahl der 1934 von Cunard veröffentlichten Anthologie | |
„Negro“. | |
## Erste Anthologie über schwarze Kulturgeschichte | |
Es war dies die erste, zusammen mit schwarzen Autor:Innen gestaltete | |
ethnografische Geschichte der afroamerikanischen Diaspora und Kultur. | |
Cunard initiierte das Projekt, finanzierte es, gab es heraus. Sie steuerte | |
dafür selbst Reportagen bei, recherchierte in Harlem und schrieb darüber, | |
akquirierte Essays von W. E. B. Du Bois, Langston Hughes, Countee Cullen, | |
Zora Neale Hurston. Aber auch André Breton und die surrealistische Gruppe | |
sowie der Komponist George Antheil schrieben Texte, Samuel Beckett | |
übersetzte sie aus dem Englischen ins Französische. | |
„Unser sogenanntes Afroamerika weist Hautfarben in jeglicher Schattierung | |
auf. Und das ‚weiße Amerika‘? Nun, lilienweiß ist es nicht. Der | |
Vermischungsprozess hat vor zwei Jahrhunderten begonnen und […] er wird nie | |
aufhören. Was die Schwarzen untereinander eint, ist nicht eine Frage des | |
Blutes, […] wir müssen von einer psychologischen Gemeinsamkeit reden, die | |
gebildet wird aus kollektiven Erinnerungen, Verletzungen, Zielen.“ | |
Was der Soziologe und Bürgerrechtler Du Bois, erster afroamerikanischer | |
Doktorand überhaupt, in seinem programmatischen Aufsatz „Das Schwarze | |
Amerika“ für Cunards Anthologie skizziert, bereichert auch heutige | |
Debatten. Bei seiner Erstveröffentlichung war es ein radikales Statement, | |
weil Du Bois selbstbewusst gesellschaftliche Gleichberechtigung einfordert, | |
zugleich die damals praktizierte Segregation als verlogen demaskiert und | |
den völkischen Begriff der „Rassenschande“ ad absurdum führt. | |
## Neues Selbstbewusstsein | |
„Negro“ ist auch deswegen ein wichtiges Buch, weil es Schwarze eben nicht | |
nur als Opfer der Geschichte darstellt, sondern ihren Beitrag zu Kultur und | |
Gesellschaft hervorhebt und das neue Selbstbewusstsein von Künstlergruppen | |
wie der Harlem Renaissance dokumentiert. Zwischen den Essays und Reportagen | |
finden sich immer wieder Gedichte: Etwa „Schlechte Zeiten“ von Jonathan H. | |
Brooks, das in acht lakonischen Zeilen darstellt, wie ein | |
heruntergekommener Mann würdevoll zur Kirche geht. Nicht nur um Rassismus | |
geht es in den Texten, die wirtschaftlichen Entbehrungen der Großen | |
Depression und ihre Folgen für die Schwarzen in den USA werden | |
überdeutlich. | |
„Negro“ ist ein historisches Buch, in dem Schwarze Menschen von sich selbst | |
als „Negroes“ schreiben. Es ist ein Steinbruch an Gesellschaftsdiagnostik, | |
Reportagen, historischen Einordnungen aus den USA, es sucht auch in der | |
Karibik und in Afrika nach Spuren und gibt fortschrittliche Diskurse über | |
Schwarze in Europa wieder; deren kulturelle Hervorbringungen sorgten in | |
Frankreich nach dem Wahnsinn des Ersten Weltkriegs für liberaleres | |
Alltagsleben. Wenn George Antheil etwa in seinem Text „Die Spirale – eine | |
Methode zur Beschreibung schwarzer Musik“ schreibt, diese „erinnerte uns | |
daran, dass wir noch im Besitz unserer Körper waren, dass kein Geschoss uns | |
zerfetzt hatte …“ | |
In Europa löst Jazz frenetische Tanzmoden aus. Andererseits stieß die neue | |
Musik auf krasse sexualisierte Ängste und auf krudeste ideologische | |
Ablehnung. Konzerte wurden von Anfang an als Ausdruck von „Entartung“ und | |
„Kulturbolschewismus“ von Rechtskonservativen und Faschisten gebrandmarkt | |
und gestürmt. Diesen nicht unwichtigen Aspekt lässt Bruckmaier in seinem | |
Vorwort beiseite, stattdessen zieht er eine Verbindung zur rassistischen | |
Alltagsgewalt in den USA der Gegenwart. | |
## Akt der Befreiung | |
1926 lernte Nancy Cunard den afroamerikanischen Jazzmusiker Henry Chowder | |
kennen, mit dem sie während des langen Entstehungsprozesses von „Negro“ | |
auch liiert war. In seinem Text „Ich schlage jetzt zurück“ erinnert sich | |
Chowder an die Unruhen von 1919, die in 30 US-Städten ausgebrochen waren, | |
nachdem ein junger Schwarzer von Weißen am Lake Michigan in Chicago | |
umgebracht worden war, weil er an einem „für Weiße“ reservierten Strand | |
gebadet hatte. Nicht zum ersten Mal in der US-Geschichte wehrten sich | |
Schwarze gegen rassistische Gewalt, zum ersten Mal aber mit physischer | |
Gegengewalt. In Chowders Text wirkt dieser Akt der Befreiung comicmäßig | |
überzeichnet. | |
Für die Liaison mit Chowder büßte Cunard. Paparazzi verfolgten sie bei | |
ihren Reisen in die USA auf Schritt und Tritt und schrieben tägliche | |
Bulletins über „die Rassenschande der Upperclass-Schickse“. Die rechte | |
Hearst-Presse initiierte 1932 eine Desinformationskampagne, wonach | |
Cunard und der (kommunistische) afroamerikanische Schauspieler Paul Robeson | |
ein Paar seien. Auch in Großbritannien wird Cunard wegen ihres „Colored | |
Friend“ Chowder in den Medien auf rüdeste, heute unvorstellbare Weise | |
beleidigt. Ihre eigene Familie distanziert sich öffentlich von ihr, Freunde | |
wenden sich ab. | |
Als „Negro“ 1934 in großformatiger Originalausgabe schließlich erscheint, | |
misst es stolze 855 Seiten und umfasst 200 Texte von mehr als 150 | |
Autor:Innen, dazu sind unzählige Illustrationen und Fotos enthalten. Es | |
bekommt einige gute Rezensionen und wird von der afroamerikanischen | |
Community mit großer Sympathie aufgenommen, trotzdem gerät es bald in | |
Vergessenheit. Cunard überwirft sich mit Chowder, nach 1935 wird sie all | |
ihre Aktivitäten auf den beginnenden Spanischen Bürgerkrieg richten, für | |
anarchistische und trotzkistische Flüchtlinge in Frankreich sorgen und | |
gegen Faschisten mobil machen. Sie stirbt 1965 in Frankreich verarmt und | |
weitgehend vergessen. | |
Die deutsche Fassung enthält 33 Texte aus dem Original, dazu ein | |
Kurzporträt über Cunard, biografische Hinweise über die Autor:Innen und ein | |
Fotoessay des Künstlers Olaf Unverzart. Als „kühnes Unterfangen“ bezeichn… | |
der Herausgeber in seinem Vorwort Cunards Buchprojekt, „mit Negro der | |
ganzen Welt zu beweisen, dass Menschen mit schwarzer Hautfarbe zu großen | |
kulturellen Leistungen fähig sind“. Nancy Cunard hat zu Lebzeiten wenig | |
Solidarität für ihr Projekt erfahren. Über sie ist mit diesem Buch längst | |
nicht alles gesagt. Aber ein Anfang ist nun gemacht. | |
18 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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