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# taz.de -- Manifest des Britischen Müllismus: Stilvoll scheitern in der Kunst…
> Jenseits von Networking: Der britische Künstler Scott King kommt mit dem
> „Debrist Manifesto“ zum Festival „The Sun Machine Is Coming Down“ ins
> Berliner ICC.
Bild: Galionsfigur des Müllismus: der britische Künstler Scott King
„Nie etwas zu Ende bringen. Erste und wichtigste Regel des Müllismus.“ In
Zeiten, in denen Galeristen Kunstwerke so anpreisen, damit sie auf ihren
Instagram-Accounts besser sichtbar sind, wirkt ein auf Papier gedrucktes
Manifest über das Scheitern in der Kunst, das dem allgemeinen
Marketingdelirium analog den Spiegel vorhält, höchst skurril.
Und dennoch: „The Debrist Manifesto“, das Müllismus-Manifest, ohne Weiteres
proklamiert vom britischen Künstler und Grafiker Scott King, ist
unterhaltsam zu lesen, obwohl es in Teilen wie eine Lebenshilfefibel
angelegt ist, die Auswege aus der permanenten künstlerischen
Selbstausbeutung und Abhängigkeit von Gatekeepern aufzeigt.
Schon von seiner simplen Aufmachung her, außen schwarze Schrift auf
leuchtend rotem Grund, innen ausschließlich Text, einige Fußnoten und
keinerlei Bildmaterial, wirkt die Publikation wie eine raffinierte
Neubearbeitung von Herman Melvilles „Bartleby“-Novelle, dessen Diktum „I
prefer not to“ Scott King als positiven Befreiungsschlag neu inszeniert.
## Eingeführte Formen kapern
Wer sich aus dem Kunstbetrieb ausklinkt, so der Brite, erkämpft sich neue
Freiräume. „Ich interpretiere die Textform Manifest nicht als doktrinäre
Polemik, auch wenn mein Text Spuren davon enthält“, erklärt King der taz.
„Ich habe mich eher an die situationistische Strategie des detournement
angelehnt: eine eingeführte Form – das Manifest – kapern, um damit
allgemein verständlich zu kommunizieren. Das finde ich zugänglicher, als
Kunst in einer Galerie auszustellen.“
Umso schöner, dass King seine Ideen nun auch hierzulande zur Sprache
bringt. Er ist zum Festival „The Sun Is Coming Down“ im Berliner ICC
eingeladen, das nach einer Zeile aus dem Bowie-Song „Memory of a free
Festival“ benannt ist, und Pop, Literatur und Kunst deckungsgleich bringen
möchte. King wird täglich sein Manifest lesen. In Audioaufnahmen klingt
seine sonore Stimme so trocken wie ein Ingwerkeks, man darf also gespannt
auf die Performance sein.
Auf der Manifest-Rückseite hat King eine Checkliste zum Ankreuzen
abgedruckt, wie man sie auch auf Formularen findet: „Kein Selbstvertrauen“,
„Erschöpft“, „Isoliert“, „Impulsiv“ und weitere Zuschreibungen aus…
Selbstoptimierungshölle sind aufgelistet. Wer mehr als zehn Begriffe
ankreuzt, eigne sich als Debrist, behauptet das Kleingedruckte.
## Zen-Nihilismus
„Müllismus ist eine Form von Zen-Nihilismus“, behauptet wiederum Scott
King. „Ich mache keinen platten Protest gegen den Kunstbetrieb, Müllismus
lässt einfach die Influencer hinter sich. Wenn sie sich von ihnen
unabhängig machen, lernen Künstler:innen, sich und ihr Scheitern zu
akzeptieren, und hören auf, unerfüllbare Wünsche zu stillen. Es wird nur
besser, wenn sie stur weitermachen, egal, wo immer sie auch damit landen.“
Sein Antrieb, das Manifest zu schreiben, sei eine tiefe, durch
fehlgeleitete Kommunikationen ausgelöste Frustration gewesen, erklärt King.
Im Verlauf der Niederschrift sei diese immer mehr einer Schaffensfreude
gewichen. Die Konventionen des Kunstbetriebs sind ihm zwar schon lange ein
Gräuel, auch er hat unzählige halbfertige Projekte in der Schublade; und
doch zapft er aus den widrigen Umständen der Künstlerexistenz immer wieder
nützliche Ideen ab.
„You’re My Favourite Artist“ heißt etwa ein Song, dessen Text King 2013
verfasst hat, nachdem ihn eine ihm unbekannte Kuratorin in New York
penetrant als „ihren Lieblingskünstler“ angepriesen hatte, so wie alle
anderen von ihr vertretenen Künstler:innen auch. Müllismus ist nun eine
Abrechnung mit strategischen Bekanntschaften, ungeschriebenen
Smalltalk-Gesetzen und dem Druck des Gut-vernetzt-Seins. „Un-Networking ist
der beste Freund der Müllisten.“
## Scooter Boy mit Lambretta
Aufgewachsen nahe Leeds, widmete der 1970 Geborene seine Jugend der
Scooter-Boys-Subkultur, einer raueren nordenglischen Variante der Mods.
Hauptsächlich habe er Platten gesammelt und gebrauchte Motoroller frisiert,
mehr oder weniger legal, so King. Die Bildsprache von Pop hat ihn dabei
nachhaltig geprägt. Schriftzüge und Farblackierungen von
Lambretta-Motorrollern waren seine erste Schule der Ästhetik.
Für eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen schuf er im Jahr 2019
die Nachbildung der Fassade des Hauses Barton Street 77 im Viertel
Macclesfield von Manchester aus Linoleum: An dieser Adresse wohnte einst
Joy-Division-Sänger Ian Curtis. „Im Werk der aus [1][der Arbeiterklasse
stammenden Band] geht es zugleich um Alltägliches und Außergewöhnliches“,
das habe er mit seinem Werk und dem dafür verwendeten Material zum Ausdruck
bringen wollen.
King kommt selbst aus kleinen Verhältnissen und schaffte es an die
Hochschule von Hull, danach arbeitete er eine Weile als Art-Director beim
britischen Magazin ID. Er gestaltete Cover für das Popduo Pet Shop Boys.
Anfang der nuller Jahre betreut er die Kampagne für die
Bürgermeisterkandidatur von [2][Malcolm McLaren] in London, ein Fehlschlag,
denn McLaren zog diese wieder zurück.
## Komische Grauzone
Erfolge und Misserfolge, beides kennt Scott King. „Meine künstlerische
Arbeit befindet sich in einer komischen Grauzone, niemals richtig Kunst,
niemals richtig Grafikdesign. Zwischenräume haben mich immer am meisten
interessiert“, hat er einmal in einem Interview gesagt.
Das Manifest zu schreiben sei für ihn ein bisschen wie ein Exorzismus
gewesen. Vielleicht ist „The Debrist Manifesto“ sogar eine Intervention,
mit der der 51-Jährige einem Gegensatzpaar von Friedrich Nietzsche
nahekommt: In „Geburt der Tragödie“ unterscheidet jener zwischen den
Prinzipien des Apollinischen und Dionysischen als [3][ewigen Formen von
Kunst und Dasein]. Das eine als Prinzip positiver Zwecksetzungen und
manifester Vernunft. Das andere als seine Negation.
In Scott Kings Müllismus-Manifest vermischen sich diese beiden Aspekte
ständig, Aktionismus wird von Hürden behindert, King betont das so sehr,
dass die Negation irgendwann in ihr Gegenteil umschlägt, wie der Ramsch als
Durchmarsch beim Kartenspiel Skat. „Keine Lösung für Probleme zu finden
löst Selbstzweifel aus“, steht an einer Stelle im Manifest. „Es ist aber
gesund, wenn man permanent Selbstzweifeln ausgesetzt ist. Man wird davon
schlauer.“
Aus Kings Forderungskatalog spricht auch idealistischer Trotz, der ihn im
superkapitalistischen Post-Brexit-Nationalismus des Großbritannien der
Gegenwart zum Fremdkörper werden lässt. Der [4][Musikkritiker und Künstler
Michael Bracewell] hat diese spezifische Form der antibritischen und
zugleich surrealistischen Außenseiterhaltung seiner Heimat in einer
Ahnenreihe von EM Forster bis Malcolm McLaren festgemacht. Scott King darf
dazu gezählt werden.
„Mein Manifest reflektiert die Atmosphäre in [5][Großbritannien] nach dem
Brexit mit. Der Alltag ist deprimierend. Die Regierung Johnson lügt in
einer Tour. Menschen, die für den Brexit gestimmt haben, ‚wollten ihr Land
zurück‘. Jetzt haben sie ihr Land zurück, aber mit Benzinmangel und zu
wenig Lastwagenfahrer:innen. Als Folge sind die Supermarktregale leer und
zu Weihnachten gibt es keinen Truthahn. Ein idiotischer Akt von
Selbstzerstörung.“
7 Oct 2021
## LINKS
[1] /Neues-Buch-zu-Joy-Division/!5698386
[2] /Tod-von-Malcolm-McLaren/!5144667
[3] /London-Roman-von-Wyndham-Lewis/!5751193
[4] /Michael-Bracewell-ueber-Kunst-und-Brexit/!5471367
[5] /Afro-amerikanische-Kunst-in-London/!5452032
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Müll
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