# taz.de -- Michael Bracewell über Kunst und Brexit: „Hilfe, ich bin auf der… | |
> Der britische Schriftsteller und Kunstkritiker Michael Bracewell über | |
> seine Ausstellung „The Critic as Artist“ in Reading, Oscar Wilde und die | |
> Folgen des Brexit. | |
Bild: Installationsansicht von Alessandro Rahas „Jessica“, Reading Museum | |
taz: Herr Bracewell, was sagt Ihnen als Schriftsteller und Kunstkritiker | |
heute Oscar Wilde, der Schriftsteller und Kunstkritiker, dem Sie mit „The | |
Critic as Artist“ im britischen Reading eine Ausstellung widmen? | |
Michael Bracewell: In der Ausstellung, die ich gemeinsam mit Andrew Hunt | |
kuratiert habe, schaffen wir andere Zugänge zu Oscar Wilde. In | |
Großbritannien wird er heute als Märtyrer für die Rechte von Homosexuellen | |
gefeiert. Wir stellen nicht in Abrede, dass er als Schwuler große | |
Schwierigkeiten hatte. Aber seine Form von Kunstkritik ist spannend. Sie | |
unterscheidet sich von den Diskursen des 20. Jahrhunderts, die Kunst und | |
Musik durch die Brille der Philosophie und der marxistischen Theorie | |
betrachtet haben. | |
Inwiefern? | |
Wilde machte geltend, dass man sich beim Betrachten von Kunst auf seine | |
Gefühle verlässt. Wilde schrieb sehr passend, er sei der Chronist seiner | |
Geisteseindrücke. Unsere Ausstellung ist auch ein Kommentar zum Status von | |
Kunstkritik. Auf eine gewisse Art versuchen wir mit unserem Projekt, Kritik | |
von dem Ballast der Theorie zu befreien. Wir wollen mehr Lebendigkeit, | |
Humanismus und Frohsinn. | |
Haben Sie Ihrer Ausstellung deshalb ein Manifest vorangestellt? | |
Wilde hat einmal gesagt, Kunst muss Selbstgefälligkeit sprengen. Unser | |
Manifest wendet sich direkt gegen das Selbstgefällige der Kunstwelt und ihr | |
insulares Denken. | |
Ein Punkt Ihres Manifests ist die Feier von Trägheit. Was soll daran toll | |
sein? | |
Als Oscar Wilde sein Essay „The Critic as Artist“ 1881 verfasste, machte er | |
darin auch einige Bemerkungen zur Dringlichkeit von Nichtstun. Er glaubte | |
daran, dass das sich Zurückziehen auf eine kontemplative Haltung die | |
zeitgemäßeste Form von Kritik sei. Wie alles bei Wilde war jene Feier von | |
Trägheit spöttisch gemeint. Mit dem Manifest wollen wir LeserInnen aus der | |
Reserve locken. Anstatt ständig über Donald Trump nachzudenken, fordern wir | |
mit Wilde mehr Entspannung. | |
Nun ist bildende Kunst im 21. Jahrhundert höchst kommerziell, in manchen | |
Metropolen eine Schlüsselindustrie. Warum sollte uns Wildes Definition von | |
Kunst in diesen hektischen Tagen anregen? | |
Wildes Denken macht uns wieder mit der Idee vertraut, dass Emotionen | |
wichtiger sind als konkrete Ergebnisse. Man darf natürlich nicht die | |
Viktorianische Zeit vergessen, in der er gelebt hat, die es ihm | |
ermöglichte, die Rolle des Dandys auszufüllen. Im London der Gegenwart | |
lässt sich eine Professionalisierung der Kunstszene beobachten, die Schritt | |
hält mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Metropole. London hat sich in | |
eine Art unabhängiger Stadtstaat verwandelt, jenseits staatlicher | |
Kontrolle. Das London, in dem ich aufgewachsen bin, existiert nicht mehr. | |
Große Teile der Stadt unterliegen der Kasinomentalität von | |
Immobilienpreisen. Da gilt es an Oscar Wildes Widersprüche zu erinnern. | |
Wahrhaft schöne Dinge sind nutzlos, hat er etwa gesagt. Das passt auch zu | |
unserer bescheidenen Ausstellung. Die meisten Menschen haben für Kunst | |
nichts übrig. Im Vergleich zur Politik fristet sie ein Nischendasein. | |
Unsere Antwort: Wir pochen darauf, dass menschliche Schönheit, Humor und | |
Schwäche im Zusammenhang mit Kunst keine negativen Eigenschaften sind. | |
Wilde verfasste auch ein Essay über den Sozialismus, seinerzeit aufmerksam | |
studiert von progressiven Kräften in Deutschland. Sein Übersetzer ist der | |
Räterevolutionär Gustav Landauer. Sie betonen das Spielerische von Wilde, | |
wie ernst zu nehmend ist seine politische Haltung? | |
Politisch gesehen ist Wilde ambivalent. Zwar handelte sein erstes | |
Theaterstück, „Vera, or the Nihilists“ von revolutionärer Politik, aber | |
sein Lebensmittelpunkt war das Dasein als Snob, er genoss die Vorzüge eines | |
Gentleman, der mit der Londoner Aristokratie verkehrte. Bis ihm der Prozess | |
gemacht wurde und er ins Gefängnis wanderte, war sein Verhältnis zur | |
Politik und zur Religion naiv. Letztlich lebte er in einer Fantasiewelt, in | |
der es ums ästhetische Spiel ging. Am radikalsten sind bis heute zwei | |
Briefe, die er aus Protest gegen den skandalösen Umgang mit Kindern in | |
britischen Haftanstalten geschrieben hat. Im engeren Sinne ist er kein | |
politischer Aktivist, wenngleich er Menschen dazu ermutigte, ihre eigene | |
Persönlichkeit zu entwickeln und dem nachzugehen, was sie als notwendig | |
erachten. | |
Wie hat sich Wildes Denken auf Ihr Schreiben ausgewirkt? In „The Space | |
Between“, einer Kollektion Ihrer Kunstkritiken in Buchform, kommen Sie | |
immer wieder auf ihn zu sprechen. Sie bekunden aber, wenn man Sie | |
aufschneiden würde, flösse Francis F. Scott Fitzgerald aus Ihnen heraus. | |
Nur zur Hälfte, die andere Hälfte ist Oscar Wilde. Fitzgerald bewunderte | |
schon als Student in Princeton das Werk Oscar Wildes. Beide sind wichtig, | |
um künstlerisch weiterzukommen. Oder sagen wir, um spirituell | |
weiterzukommen, denn Wilde ist ein idealer Tutor für junge LeserInnen. Man | |
muss sich seine Ideen aneignen und sehen, wohin sie einen bringen. Als ich | |
sagte, aus mir flösse Fitzgerald, meinte ich damit seine Fähigkeit, einen | |
perfekten Satz zu bilden. | |
Nach welchen Kriterien haben Sie Künstler für „The Critic as Artist“ | |
ausgewählt? | |
Nach anarchistischen und ästhetischen Prämissen. Ein Künstler wie | |
Alessandro Raho malt einfach nur wunderschöne Gemälde, die von der | |
menschlichen Präsenz zeugen. Wir haben auch drei selten zu sehende Gemälde | |
des präraffaelitischen Malers Simeon Solomon aufgetrieben, einem | |
Zeitgenossen Oscar Wildes. Er hat Werke von Solomon gesammelt. Solomon war | |
schwul, jüdisch und ein obdachloser Alkoholiker, alles Eigenschaften eines | |
Außenseiters, die das viktorianische Establishment problematisch gefunden | |
hat. Sein Stil passt zur Ästhetik von Oscar Wilde. Wir haben als Gegenstück | |
Keramikteller aus der Sammlung von Gilbert & George beigefügt. | |
Und dann ist da noch Malcolm McLaren, ein Dandy eigener Weltanschauung. | |
Ganz genau. Malcolm ist eine wildeanische Figur durch und durch: Dandy, | |
Troublemaker und brillanter Raconteur. Von Steven Spielberg hat er viel | |
Geld bekommen, um eine Idee für einen Film über Oscar Wilde zu realisieren. | |
Malcolm wollte ein Wildwest-Rock-’n’-Roll-Musical machen, es sollte „Sex … | |
the Wilde West“ heißen. Einen Entwurf davon stellen wir aus. | |
In Reading wurde Oscar Wilde zur zweijährigen Zwangsarbeit verurteilt und | |
ins Gefängnis gesteckt. Was verbinden Sie mit dem Ort? | |
Damals war Reading eine Kleinstadt westlich von London. Für einen Mann mit | |
seinem gesellschaftlichen Stand kam die zweijährige Zwangsarbeit in der | |
Provinz der Todesstrafe nahe. Heute ist Reading eine Universitätsstadt im | |
Aufwind, eine neue Bahnstrecke bindet Reading näher an die Londoner City, | |
schon jetzt steigen die Immobilienpreise, und Firmen mieten Büros. | |
Wie empfinden Sie die Brexit-Entscheidung für Ihr Land? | |
Am Abend vor dem Referendum war ich zum Dinner im Ritz. Und ich bemerkte, | |
dass überall Union Jacks hingen und eine Band spielte. Hilfe, ich bin auf | |
der „Titanic“, dachte ich. Und das Gefühl beschlich mich auch am nächsten | |
Morgen, als mir klar wurde, dass etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung | |
für den EU-Ausstieg votiert hatte. Ein Fehler. Und der größte Bock war, | |
dass das Referendum angesetzt wurde, um politische Macht zu konsolidieren. | |
Es gab allerdings keinen Masterplan, keinerlei Idee, wie die Entscheidung | |
umzusetzen wäre, und nun regiert eine Premierministerin, die gar nicht | |
gewählt ist, unfähig, ihren Job auszufüllen. England ist seither tief | |
gespalten und es gibt keinerlei Anzeichen, dass diese Spaltung bald | |
gekittet wird. Mein Gefühl sagt mir, dass die meisten Briten gar nicht für | |
den Brexit gestimmt haben, sondern gegen die Idee von London. Gegen | |
Einwanderung, gegen die Idee eines vereinten Europa. Manche haben einfach | |
nur ihrem Ressentiment gegen Akademiker Ausdruck verliehen. Wie | |
schrecklich! Und durchaus vergleichbar mit der Wahl von Donald Trump in den | |
USA. | |
Sie haben oft über Popmusik und ihre emanzipatorischen Potenziale | |
geschrieben. Kann sie helfen, die Spaltung Ihres Landes zu überwinden? | |
Nein, das glaube ich nicht. Popmusik hatte eine imperiale Phase von Mitte | |
der Fünfziger bis Mitte der Achtziger. Von Elvis’ „Heartbreak Hotel“ bis… | |
„Panic“ von den Smiths. In dieser Zeit war Pop Hort von Ideen, Kreativität | |
und Glamour. Imperiale Phasen der Kultur dauern eben nur eine gewisse Zeit. | |
Mitte der Achtziger hat Pop meiner Meinung nach aufgehört, innovativ zu | |
sein, und begonnen, selbstreferenziell zu werden. Damals begann eine | |
imperiale Phase bildender Kunst. Auch diese Phase ist inzwischen | |
Geschichte, sie wurde von einem technologisch-digitalen Zeitalter abgelöst. | |
Ich habe kürzlich ein Interview mit einer Modedesignerin gelesen, sie | |
sagte, würde Coco Chanel heute arbeiten, dann läge ihr größtes Augenmerk | |
auf Coding. | |
24 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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