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# taz.de -- 12 Jahre nach NSU-Enttarnung: „Das wäre eine weitere Demütigung…
> Vor zwölf Jahren enttarnte sich der NSU. Die Betroffenen ringen mit dem
> Leid und den Plänen der Terroristen – und die Ampel ringt mit der
> Aufklärung.
Bild: Ein Kranz für Mehmet Turgut, 12 Jahre nach seiner Ermordung durch den NSU
Berlin taz | Erst am vergangenen Wochenende trafen sich einige Familien der
NSU-Betroffenen in Berlin. Mit der Bundeszentrale für politische Bildung
besprachen sie ein geplantes Projekt der Bundesregierung, das an den Terror
erinnern soll, den ihre Angehörigen erlitten: [1][ein Dokumentationszentrum
zum „Nationalsozialistischen Untergrund“]. Und der Blick richtete sich auch
auf die lange Zeit, die seit der Selbstenttarnung der Rechtsterrorgruppe
vergangen ist: genau 12 Jahre.
[2][Es war am 4. November 2011], als das Motiv der jahrelange NSU-Mordserie
offenbar wurde. Bereits 1998 waren die Neonazis Beate Zschäpe, Uwe Mundlos
und Uwe Böhnhardt in Thüringen abgetaucht, hatten über Jahre zehn Menschen
ermordet, drei Anschläge und 15 Raubüberfälle verübt. Polizei und
Verfassungsschutz indes sahen kein rechtsextremes Motiv, immer wieder wurde
gegen die Familien ermittelt. Bis Mundlos und Böhnhardt sich am 4. November
2011 nach einem gescheiterten Banküberfall erschossen und Zschäpe den
Unterschlupf in Zwickau in Brand setzte und die NSU-Bekennervideos
verschickte.
Ein zentrales Gedenken wird es an diesem Jahrestag nicht geben. Die
Angehörigen werden aber teils an den Tatorten ihrer ermordeten Angehörigen
gedenken. „Die Familien sind gewillt, ihre Leben nicht von dem erlittenen
Trauma dominieren zu lassen“, sagt [3][Barbara John], Ombudsfrau der
Bundesregierung für die NSU-Opferfamilien, der taz. „Aber die Wunde klafft
weiter offen.“
Und die Familien treibt auch um, wie sich Zschäpe und der [4][engste
NSU-Helfer André Eminger] zuletzt verhielten. Zschäpe sitzt in der JVA
Chemnitz eine lebenslange Haftstrafe ab. Eminger wurde nach nur anderthalb
Jahren Gefängnis haftverschont. Beide betonen nun, sie seien
Szeneaussteiger. Während Eminger sich bereits seit anderthalb Jahren im
Aussteigerprogramm Sachsen befindet, wurde ein Antrag Zschäpes dort
abgelehnt.
## Zschäpe will weiter in Aussteigerprogramm
Ihr Haftende sei noch in zu weiter Ferne, erklärte das Projekt laut
Zschäpes Anwalt Mathias Grasel. Das Programm selbst erklärte auf
taz-Anfrage, man äußere sich nicht zu konkreten Fällen oder Fallanfragen.
Grasel sagte der taz, Zschäpe habe nun Aussteigerprogramme des Bundes und
anderer Bundesländer kontaktiert. „Ich denke, dass wir da fündig werden.“
Bei einer [5][Befragung im bayrischen NSU-Untersuchungsausschuss] im Mai
diesen Jahres hatte Zschäpe sich ebenso als Aussteigerin bezeichnet. „Ich
sehe mich so, ja.“
Die Betroffenen halten das für eine Farce. „Für die Familien sind die
Ausstiege völlig unglaubwürdig“, sagt Ombudsfrau John. „Sowohl Eminger als
auch Zschäpe saßen jahrelang im NSU-Prozess, ohne mit einem Wort an der
Aufklärung mitzuwirken. Die behaupteten Ausstiege sind ein taktisches
Vorgehen, um eine so frühe Haftentlassung zu bekommen wie möglich.“
Im Fall Eminger hat das bereits funktioniert. Sein Anwalt hatte dem
Oberlandesgericht München erklärt, Eminger habe Mitte 2019 begonnen, sich
aus der rechtsextremen Szene zu lösen und einschlägige Tätowierungen zu
entfernen. Noch bis Herbst 2022 hielt Eminger allerdings [6][Briefkontakt
mit einer später verurteilten Rechtsterroristin], ätzte dort über
„Antifanten“ oder „linksversiffte besetzte Häuser“.
Zschäpe sitzt derweil, inklusive U-Haft, bereits seit 12 Jahren in Haft.
Bei einer lebenslangen Strafe kann theoretisch nach 15 Jahren erstmals eine
Haftverschonung erfolgen. Bei Zschäpe sah das Gericht aber [7][eine
besondere Schwere der Schuld], weshalb weitere Jahre folgen dürften. In gut
zwei Jahren wird diese Mindestverbüßungsdauer für Zschäpe verkündet.
John warnt vor einer frühzeitigen Haftentlassung Zschäpes: „Das würde ihrer
Schuld nicht im Ansatz gerecht, und das würden die Familien als weitere
Demütigung ansehen.“ John plädiert für eine Erweiterung der Rechte der
Opfer: Diese müssten bei solch schweren Taten ein Recht bekommen, in Fragen
einer Haftverschonung angehört zu werden und Einspruch erheben zu können.
## NSU-Dokumentationszentrum und Archiv in Planung
Und auch bei der NSU-Aufklärung bleiben bis heute offene Frage – allen
voran nach möglichen Mittätern. Die Ampel-Regierung vereinbarte im
Koalitionsvertrag, die Aufklärung „energisch voranzutreiben“ und ein
NSU-Dokumentationszentrum und Rechtsterrorarchiv einzurichten. [8][Beide
Projekte kommen aber nur mäßig voran]. Das Archiv plant das
Bundeskulturstaatsministerium, es soll digital eingerichtet werden und im
November 2024 an den Start gehen. Für das Dokumentationszentrum ließ das
Bundesinnenministerium die Bundeszentrale für politische Bildung zuletzt
Gutachten erarbeiten. Ort, Kosten und Eröffnungstermin sind noch offen,
eine Machbarkeitsstudie soll bis Ende Februar 2024 vorliegen. Und: Für
beide Projekte sind bisher noch keine Gelder im Bundeshaushalt eingestellt.
Zudem gehen die Vorstellungen von Politik und Betroffenen beim
Dokumentationszentrum noch auseinander. Während Sachsen dafür wirbt, das
Zentrum in Chemnitz und Zwickau anzusiedeln, lehnen die Hinterbliebenen das
ab. „Beide Orte sind für die Familien Täterstädte, die sie meiden und wo
sie sich nicht sicher fühlen“, erklärt Ombudsfrau John. Die Hinterbliebenen
würden eher für Städte wie Berlin oder München plädieren. „Dort hätte d…
Aufklärung einen zentralen Platz, den viele Menschen und auch die
Hinterbliebenen aufsuchen könnten.“ Das Zentrum an sich werde von den
Betroffenen aber sehr begrüßt. „Es gibt ihnen die Hoffnung, dass damit doch
noch das NSU-Netzwerk aufgeklärt wird.“
## Kritik auch aus der Ampel
Auch in der Ampel wird nun Druck gemacht, die Projekte zu forcieren. Die
Grünen-Abgeordnete Misbah Khan erinnert an die Versprechen im
Koalitionsvertrag und den von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärten
Kampf gegen Rechtsextremismus. „Ein weiteres Jahr ohne entsprechende
politische Handlungen, wäre den Opfern des NSU-Komplexes sowie den aktuell
Betroffenen rechter Gewalt, unwürdig.“ In den Ampelfraktionen verhandeln
deshalb einige Abgeordnete derzeit, doch noch Gelder für das
NSU-Dokumentationszentrum und Rechtsterror-Archiv in den Haushalt 2024
einzustellen.
Und auch die Linken-Innenpolitikerin Martina Renner beklagt, dass auch
zwölf Jahre nach der NSU-Enttarnung dessen Verstrickungen in die
Sicherheitsbehörden sowie das Behördenversagen „nicht konsequent
aufgearbeitet“ seien. Zudem würden sich auch aktuell wieder
rechtsterroristische Angriffe häufen, fänden Täter einen „rassistischen
Nährboden, der von Politiker*innen aus dem gesamten Parteienspektrum
bereitet wird“, so Renner zur taz. Echte Aufklärung müsse daher in die
Zukunft zielen. Und rechter Terror „endlich konsequent bekämpft werden“.
3 Nov 2023
## LINKS
[1] /NSU-Archiv-der-Ampel-verzoegert-sich/!5946504
[2] /10-Jahre-nach-dem-Auffliegen-des-NSU/!5808645
[3] /Barbara-John-ueber-Migration/!5475715
[4] /Untersuchungsausschuss-zum-NSU/!5938847
[5] /NSU-Terroristin-vor-U-Ausschuss/!5936558
[6] /NSU-erneut-vor-Gericht/!5815879
[7] /Urteile-im-NSU-Prozess/!5517273
[8] /NSU-Archiv-der-Ampel-verzoegert-sich/!5946504
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Rechter Terror
GNS
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
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Kolumne Der rechte Rand
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