| # taz.de -- Komponist Ryūichi Sakamoto: Blick auf den nahenden Tod | |
| > Ryūichi Sakamoto ist gestorben. Aus diesem Anlass unsere Besprechung | |
| > seines letzten Albums, auf dem er sich noch gegen seine Krankheit | |
| > stemmte. | |
| Bild: Elegisch, aber nie zu kitschig: Sakamoto-san spiegelt sich | |
| Minimalistische, entschleunigte Pianoakkorde, rhythmisch davon ganz | |
| entkoppelt, über schweren Atemgeräuschen schwebend: [1][Der Track | |
| „20211201“] ist zu finden auf Ryūichi Sakamotos neuem Album. Es ist | |
| schlicht „12“ betitelt und lässt sich in seiner strengen Reduziertheit auch | |
| so hören, dass Klänge unsere körpergebundene Existenz transzendieren und | |
| hinter sich lassen können. | |
| Erschienen ist diese elegische Musik nun aus Anlass von Sakamotos 71. | |
| Geburtstag. Möglicherweise wird es die letzte Veröffentlichung des schwer | |
| krebskranken japanischen Künstlers sein. Über den im Dezember gestreamten | |
| Konzertfilm, den er aus Gründen der Schonung etappenweise aufgezeichnet | |
| hatte, hieß es bereits, es sei die letzte Gelegenheit, Sakamoto in concert | |
| zu erleben. | |
| Über die Entstehung der tagebuchartigen Skizzen, die mit ihrem jeweiligen | |
| Entstehungsdatum betitelt sind, ließ der Künstler wissen, dass er nach | |
| einer Operation, kaum wieder zu Hause, zum Synthesizer gegriffen habe: „Ich | |
| hatte nicht die Absicht, etwas zu komponieren; ich wollte einfach nur von | |
| Klängen überflutet werden.“ | |
| ## Elegante Reduktion | |
| Das Tröstlich-Therapeutische, das er in der Musik fand, überträgt sich auch | |
| auf die Hörer:in. Die schwermütige Musik wirkt trotz ihrer Reduziertheit | |
| verblüffend immersiv, wenn auch kaum flutartig (um Sakamotos eigene | |
| Umschreibung aufzugreifen) überwältigend. Und deutlich zurückgenommener, | |
| [2][als zum Beispiel Leonard Cohen mit seinem finalen Album „You want it | |
| darker“] geklungen hatte – oder [3][David Bowie mit „Blackstar“, dem | |
| Requiem,] das er sich geschrieben hatte. | |
| Sakamotos Blick auf den nahenden Tod ist vielleicht gerade wegen dieser | |
| fehlenden Dramatik intim und metaphysisch zugleich. Mit Ausnahme des | |
| letzten kurzen Tracks, auf dem dann nur noch ein vom Wind bewegtes | |
| Glockenspiel zu hören ist, sind die Stücke chronologisch nach ihrer | |
| Entstehung angeordnet. Und werden in der zweiten Hälfte des Album spürbar | |
| kürzer. Ein Ausdruck schwindender Kräfte? | |
| „[4][20220302 – sarabande]“ klingt zugleich munterer als die übrigen | |
| Tracks, eine willkommene Unterbrechung der ambienthaften Anmutung. Darüber | |
| hinaus ist das Stück das einzige, das eine Art Regieanweisung im Titel | |
| trägt: Sarabande bezeichnete einen barocken Tanzstil – ein Kopfnicken in | |
| Richtung von Sakamotos Klassik-Helden Bach und Debussy. | |
| ## Kämpferisch und agil | |
| Das Vorgängeralbum „async“ (2017), erschienen drei Jahre nach Sakamotos | |
| erster Krebsdiagnose, klang wesentlich agiler; der Blick war nach außen | |
| statt nach innen gerichtet. Fieldrecordings ließ Sakamoto auf ein Sample | |
| treffen, in dem [5][Paul Bowles aus seinem Roman „Himmel über der Wüste“] | |
| liest; eigenwillige Rhythmen auf die Klänge, die er einem beschädigten | |
| Konzertflügel entlockte. Sakamoto hatte ihn in einer vom Tsunami zerstörten | |
| Schule 2011 entdeckt. | |
| Auch in „async“ lässt sich eine Auseinandersetzung mit dem Tod hineinlesen. | |
| Allerdings ging es da nicht nur um seinen eigenen, sondern auch um die | |
| Katastrophen, die sich in den Jahren zuvor ereignet hatten: allen voran | |
| [6][die auf den Tsunami folgende Atomkatastrophe in Fukushima]. In Folge | |
| des Reaktorunglücks wurde Sakamoto zum Umweltaktivisten und engagierte sich | |
| gegen Atomkraft. | |
| Und blieb auch darüber hinaus so umtriebig, wie er es in seinem | |
| jahrzehntelange Musikschaffen stets gewesen war. 1978 hatte er mit Haruomi | |
| Hosono und Yukihiro Takahashi das Yellow Magic Orchestra gegründet. Es | |
| fusionierte elektronischen Pop und Exotica so, dass seine Musik stilprägend | |
| werden sollte. Wegbegleiter Takahashi, Schlagzeuger und Leadsänger der | |
| Band, ist nun leider in der vergangenen Woche gestorben. | |
| Seit den frühen 1980ern war Sakamoto auch solistisch tätig und | |
| veröffentlichte Werke zwischen [7][Jazz, Avantgarde-Pop und Elektronik]. | |
| Stilistische Grenzen interessierten ihn kaum. Sein Soundtrack zu Nagisa | |
| Ōshimas Kriegsgefangenendrama „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983), in | |
| dem Sakamoto neben David Bowie die Hauptrolle spielte, macht ihn zudem zum | |
| gefragten Filmmusik-Produzenten. Zuletzt komponierte er Musik für die | |
| Sci-Fi-Serie „Exception“ (2022). | |
| Vor fünf Jahren, im Dokumentarfilm „Coda“ (2018), der sich den Triebfedern | |
| seines Schaffens widmete, erklärte Sakamoto-san, er wisse leider nicht, wie | |
| viel Zeit ihm bleibe. 2014 war bei ihm Rachenkrebs diagnostiziert worden; | |
| die Krankheit schien besiegt. Er wolle, so Sakamoto, weiterhin Musik | |
| machen, für die er sich nicht schämen müsse. Das ist ihm gelungen. Leider | |
| ist der Krebs vor gut zwei Jahren zurückkehrt, nun als Darmkrebs im vierten | |
| Stadium. | |
| Update: Das Album und diese Besprechung erschienen im Januar. Wie nun am 2. | |
| April bekannt wurde, ist Ryūichi Sakamoto am 28. März in Japan an seinem | |
| Krebsleiden gestorben. | |
| 20 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://youtu.be/ndPgyi9bJv4 | |
| [2] /Nachruf-auf-Leonard-Cohen/!5353641 | |
| [3] /Neues-Album-von-David-Bowie/!5264916 | |
| [4] https://youtu.be/1ITin8CAPDw | |
| [5] /!1261148/ | |
| [6] /Japanischer-Aktivist-ueber-Aufklaerung/!5098791 | |
| [7] /Japanische-Musikerin-Phew/!5822800 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephanie Grimm | |
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