| # taz.de -- Musikdoku „Ryuichi Sakamoto: Coda“: Aus Sätzen Töne machen | |
| > Der japanische Komponist Ryuichi Sakamoto spiegelt im Dokumentarfilm | |
| > „Coda“ seine Ästhetik aus der Sicht seiner Krebserkrankung. | |
| Bild: Inspiration überall: Ryuichi Sakamoto streicht das Becken | |
| Alles beginnt in Fukushima, einem Ort, an dem am 11. März 2011 vieles | |
| geendet hat: Ryuichi Sakamoto spielt auf einem Klavier, das vom Tsunami | |
| mitgerissen wurde und einige Zeit auf dem Wasser schwamm. Wie ein | |
| Soundhunter arbeitet der Pianist immer mehr Töne aus dem ramponierten | |
| Instrument heraus. Wenige Szenen später erfahren wir: Sakamoto kämpft gegen | |
| den Krebs, mit dem Komponieren hat er auf Rat seiner Ärzte aufhören müssen. | |
| Ist der Anfang schon das Ende? | |
| Es sind zwei schwierige Prämissen, von denen Stephen Nomura Schibles | |
| Dokumentarfilm ausgeht, um Sakamotos Schaffen zu verstehen. Denn die | |
| glorreiche Hinführung der Vita auf die gefährdete Gegenwart verbietet sich | |
| von vornherein. Doch es ist jener Kunstgriff, der „Coda“ zu einem | |
| besonderen Film macht: Sakamoto spricht sehr offen über seine Erkrankung, | |
| ist mehr Gesprächspartner als Interviewter. | |
| Daraus entsteht eine Werkbiografie, die sich bruchstückhaft und vor allem | |
| jenseits jeder Chronologie entfaltet. Einen einzigen roten Faden gibt es: | |
| Es ist das Kino und vor allem die Filme von Andrei Tarkowski, zu denen | |
| Sakamoto immer wieder gedanklich zurückkehrt, die ihn mehr als alles andere | |
| geprägt haben. Die Bach’schen Orgelchoräle in „Solaris“ (1972) zum | |
| Beispiel, zu deren Ehren Sakamoto ein ganzes Album aufgenommen hat. | |
| Da erscheinen Sakamotos größte Erfolge und seine Bekanntheit fast | |
| nebensächlich: 1983 spielte er gemeinsam mit David Bowie die Hauptrolle in | |
| Nagisa Oshimas monumentalem Kriegsfilm „Merry Christmas, Mr. Lawrence“. Das | |
| gleichnamige Klavierstück machte Sakamoto weltberühmt. Auch Bernardo | |
| Bertolucci castete Sakamoto für „Der letzte Kaiser“ (1987) zunächst als | |
| Schauspieler und ließ ihn schließlich mit David Byrne den gesamten Score | |
| komponieren. Dafür erhielten die beiden prompt einen Oscar. | |
| Nebenbei tourte Sakamoto mit dem Yellow Magic Orchestra um die Welt, einer | |
| international prägenden Synthiepop-Formation, die in Japan die 1980er | |
| popkulturell einläutete. Doch die Filmmusik verließ ihn nie: 2015 | |
| komponierte er während seiner Krebserkrankung zusammen mit Carsten Nicolai | |
| alias Alva Noto den Soundtrack zu Alejandro G. Iñárritus Oscargewinner „The | |
| Revenant“. | |
| ## Von anderen inspiriert | |
| So umtriebig sein Leben erscheint, so tief geerdet wirkt Sakamoto: Er | |
| spricht viel von seinen Vorbildern, macht keinen Hehl daraus, dass es immer | |
| andere waren, die ihn zu seiner Kunst inspiriert haben. Zu einem Buch von | |
| Paul Bowles sagt Sakamoto offen: „Ich wollte aus seinen Sätzen Töne | |
| machen.“ | |
| Sowohl diese Kunst der Übertragung als auch Sakamotos permanente | |
| weltpolitische Sorge machen seine Sprache universell und erklären wohl auch | |
| seinen Erfolg. Nach dem 11. September 2001, den er in New York miterlebte, | |
| komponierte Sakamoto „Love Conquers Hate“, gegen den Klimawandel das Album | |
| „Glacier“. Das ist global verständlich und macht klar, dass Sakamoto sich | |
| immer als Künstler und Zeitzeuge zugleich verstanden hat. | |
| Gegen Ende reizt „Coda“ dann allerdings Sakamotos gesellschaftliche | |
| Analysen zu sehr aus. Wenn Sakamoto davon spricht, dass er jenen See in | |
| Kenia besucht habe, an dem die ersten menschlichen Skelette gefunden wurden | |
| und dadurch zu dem Schluss kommt, dass ja alle Menschen Afrikaner seien und | |
| es keine Rassen gebe, tritt das eigentliche Herzstück des Films in den | |
| Hintergrund. Dennoch ist „Coda“ sehenswert, eine Musikdoku, die | |
| größtenteils anhand von Filmen erzählt wird und einen transgressiven | |
| Künstler zeigt, für den Bescheidenheit selbst im Angesicht des Todes die | |
| höchste Tugend geblieben ist. | |
| 12 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Johannes Bluth | |
| ## TAGS | |
| Dokumentarfilm | |
| Japan | |
| Haruomi Hosono | |
| Ambient | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
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