| # taz.de -- Landtagswahl in Sachsen: Wurst braten und reden | |
| > Ministerpräsident Michael Kretschmer möchte Wähler für seine CDU | |
| > zurückgewinnen – und die Sachsen miteinander versöhnen. Kann das klappen? | |
| Bild: Wahlkampfauftakt mit Selfies: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretsch… | |
| Arnsdorf/Chemnitz/Frohburg/Glauchau/Meerane taz | Manchmal können Bilder im | |
| Wahlkampf so verrutschen, dass niemand mehr weiß, ob sie lustig sind oder | |
| ein schlechtes Vorzeichen. Wenn Michael Kretschmer etwa mit seiner | |
| Wahlkampfentourage auf einem Friedhof hält. | |
| Wenn er in Meerane bei einem Rad-Wettbewerb einer Krankenkasse mitmacht und | |
| der AfD-Kandidat schneller oben ankommt als er. | |
| Wenn er zum [1][Wahlkampfauftakt] in Arnsdorf am Grill steht und es um die | |
| Wurst geht. | |
| Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer muss die CDU retten: | |
| die Partei, die Sachsen seit der Wende ununterbrochen regiert. Eine Partei, | |
| die Kretschmer in der Krise geerbt hat und die er bei der Landtagswahl am | |
| Sonntag vor einem [2][allzu großen Verlust] bewahren muss. Er steht von | |
| allen Seiten unter Druck: Die Rechten bezeichnen ihn als Volksverräter, die | |
| Linken als zu rechts. | |
| Es ist nicht einmal klar, ob seine eigene Partei ihn zum | |
| Ministerpräsidenten haben will nach der Wahl. Nur eines ist klar: Jemand | |
| muss die [3][Demokratie retten], die ebenso in der Krise scheint wie | |
| Kretschmers Partei. Nur wie? | |
| ## Arnsdorf | |
| Zum Wahlkampfauftakt steht Ministerpräsident Kretschmer im Innenhof eines | |
| Pfarrhofs in Arnsdorf und dreht Bratwürste. Es ist der 22. Juli, einer | |
| dieser warmen Sommerabende, an denen alles friedlich wirkt. Eigentlich ist | |
| Kretschmer schon [4][seit 18 Monaten unterwegs], um als Politiker sichtbar | |
| zu werden. In Arnsdorf muss man Kretschmer suchen zwischen all den | |
| Menschen. Kretschmer ragt nicht heraus. Kretschmer findet man am besten, | |
| indem man die größte Menschentraube sucht. Darin ist er dann verschwunden. | |
| Wie das mit den Dorfläden werden soll und der Ärzteversorgung, fragen ihn | |
| die Gäste. Mit dem Internet im ländlichen Raum und der [5][Wirtschaft in | |
| der Lausitz]. „Noch besser“, antwortet er oft. Die Botschaft ist eine mit | |
| Zwischentönen: Die CDU regiert, aber nach der Wahl soll sie noch besser | |
| regieren. | |
| Kretschmer erzählt an diesem Abend von einer bedrohlichen Begegnung: Als | |
| einige Helfer gerade Plakate aufhingen, habe ein Auto gehalten, erzählt | |
| Kretschmer. Der Fahrer rief ihnen zu, er würde ja kommen, müsse aber vorher | |
| noch zum Waffengeschäft. Der Mord am CDU-Politiker [6][Walter Lübcke] ist | |
| da noch nicht einmal zwei Monate her. | |
| Ein Mann aus Bautzen ist fast eine Stunde mit dem Motorrad gefahren, um | |
| hierherzukommen. Er isst eine von Kretschmers Bratwürsten, als er sagt, | |
| nein, er sei kein Parteimitglied. Eigentlich nicht mal CDU-Wähler. Warum er | |
| trotzdem hier ist? „Irgendetwas muss man doch tun, um zu unterstützen.“ | |
| Wahlkampf funktioniert nicht ohne Unterstützung. Die Bratwürste bringt der | |
| örtliche Fleischer. Die Plakate hängen Freiwillige auf. Bundespolitiker | |
| begleiten Landesabgeordnete. Angela Merkel unterstütze die sächsische CDU, | |
| indem sie nirgends auftritt. | |
| Andere kämpfen für ihre eigene Partei, Michael Kretschmer [7][gegen die | |
| AfD]. Er selbst würde sagen: gegen die Spaltung der Gesellschaft. In | |
| Sachsen hatte die AfD einen ihrer ersten, wichtigen Siege errungen: Vor | |
| fünf Jahren zog sie in den Dresdner Landtag ein. Bei dieser Wahl könnte sie | |
| zur stärksten Kraft werden, [8][Regierungspartei] oder Oppositionsführerin. | |
| Das bringt Geld und Macht für die AfD, es schwächt alle anderen Parteien. | |
| Erst recht diejenigen, die gewohnt sind, selbstbewusst durchzuregieren. In | |
| Sachsen also zuallererst die CDU. | |
| Kretschmer ist 44 Jahre alt, mit seiner Frau und zwei Kindern lebt er in | |
| der Nähe von Görlitz. 2017 wollte er hier sein Direktmandat verteidigen, | |
| verlor es aber an einen kaum bekannten AfD-Kandidaten. 2019 wäre in Görlitz | |
| beinahe der erste AfD-Politiker Bürgermeister geworden, hätten CDU, Linke | |
| und Grüne nicht eine komplizierte Kandidatenrochade vollzogen. | |
| Und das ist das Problem bei einem Porträt über Michael Kretschmer: Wer nur | |
| schnell den Wahlkreis des Ministerpräsidenten nennen will, landet gleich | |
| bei komplizierter Politik. Bei Sachsen, eigentlich bei der Frage: Warum | |
| verstehen sich Wähler und Gewählte so schlecht? | |
| ## Chemnitz | |
| Es ist 11.32 Uhr in Chemnitz, Kretschmer hat den ersten Termin hinter sich, | |
| als er sich vor dem Chor aufstellt wie ein Dirigent, die Männern | |
| schmettern: „Und er hat sein helles Licht bei der Nacht“. Das Steigerlied, | |
| ein Bergmannslied, Kretschmer schmettert mit. | |
| Als sie mit dem Lied fertig sind, marschieren die Herren vom Chor davon. | |
| Bleiben Sie, ruft ihr Ministerpräsident hinterher. „Geht nicht“, ruft einer | |
| der Sänger zurück, „die Frau hat Mittag gekocht.“ | |
| Schrebergärtner, Angler, Trainer, Männer und Frauen aus einem Kirchenverein | |
| sitzen unter Sonnenschirmen und warten, dass Kretschmer ihnen eine der | |
| Präsenttüten überreicht. Er ehrt sie für ihr ehrenamtliches Engagement, er | |
| wechselt dafür mit jedem ein paar Worte, setzt sich mal hier dazu, mal | |
| dort, weiß etwas über die jüngsten rechten Ausschreitungen beim | |
| [9][Chemnitzer FC] zu sagen und über die schleppende Sanierung eines | |
| denkmalgeschützten Hauses im Ort. | |
| Sein Sakko hat er ausgezogen, hin und wieder greift er in ein Glas mit | |
| Gummibärchen, nimmt ein belegtes Brötchen. | |
| Gäbe es ein Handbuch für Demokratie, stünde dort drin: Sei nahbar. Sei | |
| informiert. Nimm auch mal ein Gummibärchen. Sei wie Michael Kretschmer. | |
| Michael Kretschmer übernahm das höchste Amt seines Bundeslandes, als das | |
| Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten durcheinandergeraten war. | |
| [10][Angela Merkel] war damals seit drei Wahlperioden die Bundeskanzlerin, | |
| unter der sich viele fragten. was Politik für sie noch tue. In Dresden | |
| gingen Woche für Woche Zehntausende auf die Straße, um zu hetzen, zu | |
| pöbeln, zu schreien. Für die einen waren die Pegida-Leute Rassisten, | |
| Rechte, Pack. Für die anderen besorgte Bürger, abgehängt, und nach einer | |
| Weile wusste niemand mehr, wer denn nun verängstigter ist: Bürger oder | |
| Politiker. | |
| Dann wird Michael Kretschmer Ministerpräsident. | |
| Kretschmer greift zu einem uralten Mittel: Mit jedem Einzelnen reden. | |
| Manchmal fragt man sich, was das bringen soll, so wie beispielsweise in | |
| Dresden: Vor einer Wahlkampfveranstaltung stehen Demonstranten mit | |
| Transparenten, auf denen sie von Rassenkriegen und einem Militärputsch | |
| fantasieren, Kretschmer geht auf sie zu, aber sie brüllen nur wütend, | |
| verweigern das Gespräch. | |
| Zurück bleibt ein Bild: [11][Der Ministerpräsident will sprechen], zuhören. | |
| Es sind die anderen, die sich verweigern. | |
| In Frohburg sagt ein Bürgermeister: Kretschmer, das sei derjenige, der in | |
| jede Hundehütte des Landes kriecht. Es ist ein freundliches Bild. Aber auch | |
| ein Problem: In eine Hundehütte passt vielleicht gerade noch so ein | |
| Ministerpräsident hinein. Niemals aber eine Fraktion, erst recht nicht eine | |
| ganze Partei. | |
| ## Autobahn I | |
| Auf dem schwarzen Kombi, mit dem Kretschmers Leute durch das Land reisen, | |
| steht in großen Buchstaben „Team Kretschmer“, jeder soll wissen, er ist | |
| unterwegs. Nur die Partei steht nirgends. Die Aufschrift ist nicht mal in | |
| der Parteifarbe Orange, sondern in Grün. In anderen Bundesländern sind | |
| Spitzenkandidaten oft in Bussen unterwegs, in die ganze Reisegruppen | |
| passen. Michael Kretschmer steigt in einen SUV, der Mitarbeiter von der | |
| Jungen Union, der die Social-Media-Kanäle bespielt, fährt mit und einer aus | |
| dem Stab der Staatskanzlei. Kretschmer ist nicht nur Wahlkämpfer, er ist | |
| Ministerpräsident. Sein Mitarbeiter informiert ihn über einen Kindergarten, | |
| Kretschmer tippt auf seinen zwei Smartphones. Seit 18 Monaten ist | |
| Kretschmer nun im Amt, ständig unterwegs. Er regiert aus dem Auto heraus. | |
| Herr Kretschmer, warum glaubt ihnen niemand, dass Sie wirklich nicht mit | |
| der AfD koalieren werden? | |
| „In Sachsen ist das jedem klar, dass ich das ernst meine. Aber es gibt | |
| Leute, die das bewusst infrage stellen, weil sie das nutzen wollen.“ | |
| Kretschmer muss nicht lange über Antworten nachdenken. Alles, wirklich | |
| alles hat er schon gesagt. Er verfällt dann in eine Antwortenstimme. Die | |
| ist ruhig, sein Körper nicht. Er lässt seinen Fuß wippen; missfällt ihm die | |
| Ausführung seines Gegenübers, bläst er die Backen auf, zieht die Schultern | |
| zu den Ohren. Oft dreht er die Daumen. | |
| Michael Kretschmer verließ die Schule im Jahr nach der Wende. Lehre, | |
| Abitur, Fachhochschulstudium, dann wurde er Ingenieur. Er war 19 Jahre alt, | |
| als er sein erstes Stadtratsmandat übernahm. 2002 zog er in den Bundestag | |
| ein, er suchte sich eine Nische, in der er schnell erfolgreich wird: | |
| Wissenschaftspolitik. Es heißt, er habe wie kein anderer | |
| Forschungsinstitute nach Sachsen geholt, Gelder dafür besorgt. Kretschmer | |
| wurde Generalsekretär in Sachsen in einer Zeit, in der die CDU im Freistaat | |
| noch unantastbar war. | |
| Er vernetzte sich im Bundestag, eine seiner wichtigsten Seilschaften reicht | |
| heute ins Landwirtschaftsministerium – zur Ministerin Julia Klöckner. Vor | |
| der Bundestagswahl 2017 sagte man ihm, auch er könne sich bereithalten für | |
| einen Ministerposten – Bildung beispielsweise. Sein Profil war perfekt: | |
| jung, ostdeutsch und trotzdem einer von der alten, konservativen Schule. | |
| Davon gibt es nicht viele. Doch dann verlor die CDU bundesweit mehr als | |
| acht Prozentpunkte. In Sachsen noch mehr: Sie lag knapp hinter der AfD. | |
| Der damalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich trat überraschend ab. | |
| Michael Kretschmer wurde zu seinem Nachfolger gewählt, obwohl er seinen | |
| eigenen Wahlkreis verloren hatte. | |
| Es gibt einen Satz, den Kretschmer bei seinen Begegnungen häufig | |
| wiederholt: „Das ist keine Berlin-Wahl. Und auch nicht Brüssel. Es geht | |
| hier um Sachsen.“ Aber stimmt das? | |
| ## Glauchau | |
| Lamellenvorhänge und eine Zimmerpalme rahmen die Präsentation über | |
| Universalrundschleifmaschinen, „ich erlaube mir ein paar Minuten“, sagt der | |
| Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens und legt los. Er | |
| spricht von Innen- und Außengewindeschleifen und Achsinterpretationen. | |
| Kretschmer runzelt die Stirn, fragt, was denn so eine Maschine kostet, aha, | |
| Millionen, aha, Nischenprodukt, Wirtschaft. Es ist einer dieser Orte, an | |
| denen Kretschmer Sachsen blühen sieht. | |
| Später wird Kretschmer davon erzählen, wie sie damals, Anfang der 90er | |
| Jahre, Bewerbung um Bewerbung abschickten und nicht mal Absagen bekamen. | |
| Arbeit gab es nur drüben. Und jetzt bleiben Arbeitsplätze frei, mitten in | |
| Glauchau, einer mittelgroßen Stadt im Chemnitzer Umland. | |
| Und dann auch noch solche. Kretschmer beschreibt dieses Gefühl: Einen rohen | |
| Block vor sich zu haben, der kaum etwas wert ist, bis man ihn bearbeitet. | |
| Er spricht von Tausenden Euro, von Wertschöpfung, dem Moment, daran Anteil | |
| zu haben, und man ist sich nicht mehr ganz sicher: Spricht er von der | |
| Metallfertigung oder gleich vom ganzen Bundesland? | |
| Michael Kretschmer ist ungeduldig geworden. Er hat das Land nach einer | |
| Dekade des Kaputtsparens übernommen. Polizisten fehlten, Lehrer, | |
| Bahntrassen. Überall wurde zurückgebaut. Kretschmer glaubt, CDU und SPD | |
| ändern das nun. Aber je mehr sie vorankommen, desto mehr nörgelt die | |
| Bevölkerung. Er sagt: „In Bayern ist es so: ländlicher Raum, blauer Himmel, | |
| plätschelndes Wasser, eine Kuh, die muht. Wir sind glücklich. Paradies. Und | |
| in Sachsen ist es so: Ich bin im ländlichen Raum. Hier ist nix los. Das | |
| blöde Wasser macht Krach. Der Himmel, da sind Wolken. Und diese blöden | |
| Schafe.“ | |
| Er sagt auch: „Aber es ändert sich.“ Das klingt, als wolle er sich selbst | |
| beruhigen. Manchmal verliert er trotzdem die Geduld, wie in einer dieser | |
| Wahlrunden im MDR, als er den Spitzenkandidaten der AfD anfährt: „Sie sind | |
| der größte Miesmacher, der in diesem Land durch die Gegend läuft.“ | |
| Vielleicht ist das moderne Politik: Als Ministerpräsident daran zu | |
| erinnern, dass in einer Demokratie nicht nur den Repräsentierenden etwas | |
| abverlangt werden darf. Sondern auch Verwaltungen, Gestaltern, Bürgern. | |
| Fragt man Menschen, die Kretschmer als Ministerpräsidenten erleben, | |
| beschreiben sie ihn als einen, der einfach mal macht. Als er merkt, dass | |
| Bürgermeister auf dem Land oft gar nicht erfahren, was in Dresden | |
| entschieden wird, beauftragt er nicht andere damit, er beginnt kurzerhand | |
| selbst, Briefe in die Städte und Gemeinden zu verschicken. Zu wenig Lehrer? | |
| Die Regierungskoalition beschließt deren Verbeamtung, um Lehrer aus anderen | |
| Bundesländern anzulocken. Verwaltungen sind überlastet? Es gibt mehr Geld. | |
| Mehr Polizisten. Programme zur Digitalisierung. Das sind nicht immer die | |
| besten Ideen und auch nicht alle von Kretschmer, sein Koalitionspartner, | |
| die SPD, gestaltet mit. Der Druck der Opposition auch. Demokratie eben. | |
| Begleitet man Kretschmer dabei, wie er die Entfremdung zu den Bürgern zu | |
| kitten versucht, ist zu spüren, wie wohlwollend sein Politikstil nach 27 | |
| Jahren Regentschaft seiner drei Vorgänger angenommen wird. Er ist der | |
| bessere Redner. Er ist schlagfertig. Es ist unbestreitbar, dass er sich | |
| nicht in seiner Staatskanzlei verschanzt. Er kann vermittelnd sein und | |
| witzig. Als ihn das Paar, das an diesem Abend Bier ausschenkt, um ein | |
| Autogramm bittet, schreibt er: „Euer Bier schmeckt uns.“ Er beherrscht die | |
| feinen Gesten des engagierten Politikers. | |
| Und trotzdem: Etwas fehlt. Nur was? | |
| Vielleicht klingen seine Inhalte oft etwas ratlos. | |
| Kretschmer fördert Arbeitsplätze, will die Tarifbindung aber den | |
| Unternehmen selbst überlassen. | |
| Kretschmer will aus Chemnitz ein zweites Leipzig machen, findet eine | |
| 40-Stunden-Woche aber völlig zeitgemäß. | |
| Kretschmer will mehr Polizisten, verliert aber nie ein Wort darüber, was | |
| für eine Polizei. | |
| Kretschmer findet die rechtsextreme Identitäre Bewegung gefährlich, das | |
| eher linke Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“ aber auc… | |
| Es ist leicht, Kretschmer zu glauben, dass er die Sachsen zufrieden machen | |
| will. Nur spricht er nie darüber, wer für ihn zu Sachsen dazugehört. | |
| Stattdessen wiederholt er bei seinen Auftritten einen anderen Satz: „Am | |
| zweiten September werden alle die Wahlergebnisse anschauen, den Kopf über | |
| diese Sachsen schütteln und dann vielleicht noch mit den Schultern zucken.“ | |
| Die Sachsen aber, die müssten bleiben. | |
| ## Frohburg | |
| Es ist eine dieser heißen Sommernächte, sternenklar, die Freiwilligen von | |
| der Feuerwehr haben Gutscheine für neue Löschfahrzeuge überreicht bekommen. | |
| Es gab Bratwurst, Bier aus der Traditionsbrauerei im Nachbarort und gute | |
| Worte für das kleine Heimatmuseum, was die Ortschaft in einem Flügel des | |
| Schlosses eingerichtet hat. „Sie erhalten ein wichtiges Kulturgut für | |
| Sachsen“, hat Kretschmer in das Gästebuch geschrieben. | |
| Es sind nur noch wenige Gäste da, manche aus Kretschmers Team sind schon | |
| aufgebrochen, er nimmt sich noch einmal Zeit für ein Gespräch. Es ist nach | |
| 21 Uhr. Ein Gast setzt sich dazu, mischt sich gelegentlich ein. Kretschmer | |
| nimmt sich von ihm Zigaretten. | |
| Es gibt ein bundesweites Problem: Demokratieverdruss. Nervt es Sie, dass | |
| Sie in Sachsen auflösen müssen, was in ganz Deutschland angerichtet wurde? | |
| „Es ist ja kein großer Masterplan dahinter gewesen“, antwortet Kretschmer, | |
| nachdem er kurz überlegt hat. „Das ist die Situation jetzt und es ist die | |
| AfD, die versucht, aus der Landtagswahl eine Bundestagswahl zu machen.“ | |
| Aber kann es anderen denn egal sein, wie es den Menschen hier geht? Also | |
| Geflüchteten beispielsweise, die sagen, sie haben in Sachsen auf der Straße | |
| Angst. | |
| „Es gibt das Phänomen, dass wir sehr viel übereinander und nicht | |
| miteinander gesprochen haben. Dass wir Sorgen von Leuten vor Migration | |
| nicht gehört haben. Es muss uns gelingen, schneller zu handeln, wenn Dinge | |
| nicht in Ordnung sind. Im Kleinen wie im Großen.“ | |
| Aber verhindert das, dass sich Menschen mit nichtweißer Hautfarbe auf der | |
| Straße fürchten müssen? | |
| „Nein. Es ist diese Spaltung, diese negative Energie, die die AfD | |
| verbreitet, die dazu führt, dass sie sich überhaupt fürchten müssen. Dem | |
| müssen wir entgegentreten“ | |
| Aber, fügt er hinzu, das sei ihm als Lösung zu einfach. Unter den | |
| Geflüchteten gebe es auch solche, die sich nicht an die Regeln hielten. | |
| Kretschmer antwortet mit alten Sorgen und auf die Sorgen der Alten. Über | |
| Gewalt und Ausgrenzung spricht er nicht. Erhalten, das ist es, was | |
| konservative Politik kann. | |
| Doch lässt sich damit Politik erneuern? | |
| Sachsens CDU-Fraktionsvorsitzender Christian Hartmann sagt, Demokratie | |
| müsse dem Mehrheitsprinzip folgen. „Ich bin der Letzte, der die Interessen | |
| von Minderheiten nicht ernst nimmt. Aber am Ende geht es in Politik und | |
| Gesellschaft um Mehrheitsentscheidungen.“ | |
| In den vielen Gesprächen für dieses Porträt sagt einer, der nicht genannt | |
| werden möchte, es sei ja so: Die Grünen könnten sich Avantgarde leisten und | |
| vorwegschreiten. Aber die CDU müsste auch denen ganz hinten eine politische | |
| Heimat geben. Hinten, das ist dort, wo die Skepsis gegenüber Erneuerung am | |
| größten ist und die Toleranz gegen anderes am kleinsten. Dort wo Homophobie | |
| eine Haltung ist und Rassismus Angst vor Unbekanntem. | |
| Aber hat wirklich jeder ein Recht darauf, demokratisch vertreten zu sein? | |
| ## Autobahn II | |
| Es gibt nur wenig Themen, bei denen Michael Kretschmer impulsiv wirkt, | |
| leidenschaftlich klingt. Die Spaltung der Gesellschaft ist so eines. Er | |
| sitzt im Auto, irgendwo zwischen Chemnitz und Glauchau, zwischen Ausbau des | |
| Schienennetzes, Wirtschaftsförderung und populistischer Hetze. In wenigen | |
| Wochen ist er noch Ministerpräsident oder nicht. Vielleicht bleibt von ihm, | |
| dass Politiker nicht weit weg sein müssen. Von den anderen wird die | |
| aufgeheizte Stimmung bleiben. | |
| Herr Kretschmer, was macht das mit Ihnen, der Tod ihres Parteifreundes | |
| Walter Lübcke? | |
| Vielleicht sei das der Moment, sagt er, der zeige, dass aus Worten Taten | |
| folgen könnten. „Deshalb haben alle Verantwortung für das gesellschaftliche | |
| Klima.“ | |
| Dann schaut Michael Kretschmer auf sein Smartphone. Der Mann, der seit | |
| Monaten durchs Land hetzt, um zu reden, der nach jeder Antwort um die | |
| nächste Frage bittet, bleibt nach dieser knappen Antwort: stumm. | |
| 29 Aug 2019 | |
| ## LINKS | |
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