# taz.de -- „Pro Chemnitz“ und Gegendemos: Außen ruhig, innen weiter gäre… | |
> Chemnitz setzt zum Jahrestag der Messerattacke zwar ein Zeichen positiven | |
> Bürgerengagements. Frieden hat die Stadt hat aber noch nicht gefunden. | |
Bild: Sie wünschen sich Frieden und Gespräche: Teilnehmer einer Gegendemo in … | |
CHEMNITZ taz | Von einem friedlichen Sonntag in Chemnitz kann man nicht | |
wirklich sprechen. Das verbieten die Ausfälle und Pöbeleien der | |
chauvinistischen und ausländerfeindlichen Bewegung „Pro Chemnitz“, die zum | |
Jahrestag der tödlichen Messerattacke auf den Deutschkubaner Daniel H. mit | |
450 aber nur knapp halb so viele Teilnehmer wie angemeldet auf die Straße | |
brachte. | |
Anführer Martin Kohlmann hetzt gegen „ausländische Jugendbanden“, die | |
abends angeblich das Chemnitzer Stadtzentrum kontrollieren, gegen | |
„Lügenmedien, die Demokratien seit 1918 begleiten“, gegen einen „nicht m… | |
legitimierten Staat“ und will den Säxit, also den Austritt Sachsens aus der | |
Bundesrepublik. | |
Ein junger Serbe, der seit 17 Jahren in Deutschland lebt, lehnt an seinem | |
Auto und wartet mit seinem Kind geduldig den von einem massiven | |
Polizeiaufgebot gesicherten Zug von „Pro Chemnitz“ ab. Einigen sieht er | |
wohl nicht biodeutsch genug aus. Sie zeigen ihm den Stinkefinger, | |
beschimpfen ihn als einen, „der sein Geld auch nicht selber verdient“. Als | |
der Zug an einem teils mit Ausländern belegten Gebäude vorbeikommt, branden | |
die üblichen „Abschieben“- und „Multi-Kulti-Endstation“-Rufe auf. Und | |
natürlich zeigt jemand den Hitlergruß, wird von der Polizei erfasst und des | |
Platzes verwiesen. | |
Doch „ProChemnitz“ ist an diesem Wochenende eher eine Randerscheinung. Es | |
ist eigentlich das traditionelle Stadtfest-Wochenende in Chemnitz. Vor | |
Jahresfrist war in der Nacht des 26. August der junge Daniel H. [1][nach | |
einer Auseinandersetzung erstochen worden]. Einer der beiden | |
wahrscheinlichen Haupttäter, ein syrischer Asylbewerber, war erst am | |
vergangenen Donnerstag trotz unsicherer Beweislage zu [2][neuneinhalb | |
Jahren Haft wegen Totschlags] verurteilt worden. Die Verteidigung ging in | |
Revision, nach einer mutmaßlich zweiten beteiligten Person, einem Iraker, | |
wird weltweit gefahndet. | |
## Ein eher kulturell als marktbudenorientiertes Fest | |
In Chemnitz kam es 2018 in den Tagen nach dem Anschlag zu [3][teils | |
explosiven Demonstrationen], bei denen sich spontan aufgebrachte Bürger, | |
Hooligans und organisierte Neonazis mischten. Das Stadtfest war damals | |
abgebrochen worden. | |
Auch in diesem Jahr wollte die Stadtverwaltung nichts riskieren und sagte | |
das Fest aus Sicherheitsgründen ab. Ein privater Verein mit 14 engagierten | |
Personen sprang ein und stellte binnen eines Vierteljahres ein eher | |
kulturell als marktbudenorientiertes Fest auf die Beine. Es sorgte für | |
klare Zahlenverhältnisse. Nach Angaben des veranstaltenden Vereins | |
„Herzschlag“ besuchten 67.000 Gäste das dreitägige Bürgerfest. | |
Hinzu kamen noch einmal geschätzt 7.500 Gäste beim „Sunday of Summer“, | |
einer vom DGB organsierten Konzertreihe in der Innenstadt. Die Liste der | |
Unterstützer dieser Veranstaltungen illustriert ebenfalls das | |
zivilgesellschaftliche Engagement der Chemnitzer. Sie reicht von kleinen | |
Demokratieinitiativen bis zur großen AOK oder dem VW-Motorenwerk. | |
Am Sonntagabend zog Sebastian Thieswald, Altenpfleger und Sprecher des | |
„Herzschlag“-Vereins, sichtlich erleichtert eine erfreuliche Bilanz. Die | |
ehrenamtliche Arbeit habe für ein professionelles Ergebnis und einen | |
reibungslosen Ablauf gesorgt. Chemnitzer hätten die Chance genutzt, ihre | |
Stadt nach außen hin anders darzustellen, nämlich als „eine attraktive | |
friedlich-fröhliche Stadt“. | |
Auch wenn Händler zum Teil die geringeren Umsätze beklagten, zeigten sich | |
Chemnitzer angetan vom schon länger diskutierten fälligen Wandel des | |
Stadtfestes zu einer eher kulturell orientierten Veranstaltung. Vertreten | |
war eine breite Vielfalt von Laien- und Profikünstlern, Stars wie Annett | |
Louisan oder die Spider Murphy Gang über die „Mozartkinder“ bis hin zu | |
heimattreuen Erzgebirgssängern. | |
## Das Gefühl, in einer abgehängten Stadt zu wohnen | |
Gespräche zeigten aber auch, dass die Probleme der Stadt im Jahr seit dem | |
Totschlag zwar nicht mehr eskaliert, aber nicht verschwunden sind. Auch | |
unter denen, die beim Bürgerfest Beifall klatschten, fanden sich plötzlich | |
Stimmen, die die Versammlung von „Pro Chemnitz“ für wichtig halten: „Um | |
denen im Rathaus Dampf zu machen, denn an jeder Ecke stehen die Ausländer, | |
die wir mit durchfüttern müssen. Die wollen wir alle nicht.“ | |
Eine aus dem Libanon stammende Familie, deren Mann 1991 nach Deutschland | |
kam, fühlt sich mit den beiden Jungs eigentlich wohl in der „zweiten | |
Heimatstadt Chemnitz“. Und dennoch macht der Vater überraschend auch | |
Kanzlerin Merkel für eine falsche Flüchtlingspolitik verantwortlich: „Seit | |
mehr Flüchtlinge in der Stadt sind, werden wir ständig beschimpft. Das gab | |
es vorher nicht!“ | |
Unter den etwa 400 Gegendemonstranten sind auch junge Leute von „Chemnitz | |
nazifrei“. Sie halten die „Normalisierung“ in der Stadt für trügerisch, | |
weil es normaler geworden sei, Ressentiments gegenüber Ausländern jetzt | |
offener zu äußern. Studenten wünschen sich statt der Instrumentalisierung | |
der Gewalttat Gespräche, und auch „Pro Chemnitz“ solle sich die Mühe | |
machen, Ausländer wirklich kennenzulernen. Solche Gespräche gebe es ja, | |
wendet eine Frau ein, aber vor allem unter solchen, die schon immer | |
gesprächsbereit waren. | |
Die hier ansässige SPD-Landtagsabgeordnete Hanka Kliese nennt drei | |
Konfliktpunkte, die ihr in zahlreichen Gesprächen immer wieder begegnen. | |
Zuerst komme bei vielen Chemnitzern das Gefühl, in einer abgehängten Stadt | |
zu wohnen, speziell die Bahnanbindung betreffend. Auch Überfremdungsängste | |
würden oft geäußert. Was aber mit Flüchtlingsfragen beginne, offenbare bei | |
tiefergehendem Austausch meist Brüche in den Nachwende-Biografien, die | |
letztlich hinter dem Frust steckten. Chemnitz hat also zwar ein ruhiges, | |
gewaltfreies Wochenende erlebt – aber für eine Verständigung der | |
Stadtgesellschaft ist noch viel zu leisten. | |
26 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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