| # taz.de -- Ein Jahr nach den Ausschreitungen: Chemnitz kommt nicht zur Ruhe | |
| > Im August 2018 wurde in Chemnitz ein Mann erstochen, Rechte zogen | |
| > wochenlang durch die Stadt. Wie ist die Stimmung dort heute? Vier | |
| > Protokolle. | |
| Bild: September 2018: Chemnitz im Ausnahmezustand | |
| Chemnitz taz | Am Sonntagabend wollen sie wieder aufmarschieren. „Nichts | |
| hat sich geändert“, ätzt der Aufruf der rechtsextremen Kleinpartei „Pro | |
| Chemnitz“. Und: „Chemnitz ist der Ort, von dem die falsche Asylpolitik | |
| beendet werden soll.“ Es sind aufwieglerische Töne, schon wieder. | |
| Vor genau einem Jahr waren es zwischenzeitlich Tausende, die in Chemnitz | |
| solchen rechten Aufrufen folgten. In der Nacht auf den 26. August 2018 war | |
| nach dem alljährlich stattfindenden Stadtfest Daniel H. erstochen worden, | |
| ein 35-jähriger Tischler. [1][Die Tatverdächtigen: zwei Geflüchtete]. Es | |
| folgten Wochen rechter Demonstrationen und Übergriffe – ein | |
| Ausnahmezustand, der die ganze Bundesrepublik aufwühlte. | |
| Für Sonntag rechnen Polizei und Stadtspitze bisher nicht mit solchen | |
| Szenen. Die Mobilisierung verlaufe überschaubar, heißt es. Aber erst am | |
| Donnerstag war alles wieder präsent: Da verurteilte das Landgericht | |
| Chemnitz den 24-jährigen Alaa S. für den tödlichen Messerangriff auf Daniel | |
| H. zu neuneinhalb Jahren Haft. Der Syrer allerdings beteuert seine | |
| Unschuld, seine Anwälte kritisierten, dass die Beweislage dürftig sei, und | |
| legten sofort Revision ein. Das Gericht hatte an der Schuld von S. dagegen | |
| „keinen Zweifel“. Der mutmaßliche Mittäter ist indes bis heute auf der | |
| Flucht. | |
| Auch sonst kommt die Stadt nicht zur Ruhe. Bis heute sitzen noch acht | |
| Rechtsextreme in Haft, die – aufgehetzt durch die damaligen Demos – als | |
| „Revolution Chemnitz“ Terroranschläge geplant haben sollen. Im September | |
| beginnt ihr Prozess. Zudem gab es zuletzt seitens Fans des Chemnitzer FC | |
| rechte Ausfälle: Im März hielten sie im Stadion eine Trauerzeremonie für | |
| den verstorbenen Neonazi Thomas Haller ab, kürzlich solidarisierten sie | |
| sich mit dem wegen seiner rechtsextremen Kontakte gefeuerten | |
| Mannschaftskapitän Daniel Frahn. | |
| Das diesjährige Stadtfest, das für dieses Wochenende geplant war, sagten | |
| die Behörden ab. Sie führten Sicherheitsgründe an und das „nachhaltig | |
| negativ besetzte Image“ des Festes. Chemnitzer Bürger organisierten als | |
| Ersatz ein eigenes Fest, das am Freitag eröffnet wurde: das | |
| „Herzschlag“-Bürgerfest. Man wolle das „falsche Licht“ korrigieren, in… | |
| Chemnitz geraten sei, so die Veranstalter. Und einfach feiern – „fröhlich | |
| und friedlich“. | |
| ## „Die Trauer ist unendlich groß“ | |
| Uwe Lang, 63, ist Anwalt der Mutter des erstochenen Daniel H. Er lebt seit | |
| 33 Jahren in Chemnitz. | |
| „Meine Mandantin, die Mutter von Daniel, gibt sich Mühe, stark zu sein. | |
| Aber die Trauer ist nach wie vor unendlich groß. Es ist unerträglich, wenn | |
| man als Mutter das eigene Kind zu Grabe tragen muss, umso mehr nach einer | |
| solch sinnlosen, brutalen Tat. Daniel hatte nach jugendlichen Eskapaden | |
| seinem Leben eine Wendung gegeben, eine Familie gegründet, seine | |
| Tischlerlehre mit Auszeichnung gemacht, arbeitete in einem festen Job. | |
| Seine Mutter sagte mal, sie sei stolz, dass ihr Sohn so ein ‚kleiner | |
| Spießer‘ geworden ist. Und dann wird er aus dem Leben gerissen. | |
| Dass es jetzt eine Verurteilung für die Tat gibt, kann nichts gutmachen, | |
| das auf keinen Fall. Aber es hilft, die Sache zu verarbeiten. Meine | |
| Mandantin saß mit im Prozess, sie hat das genau verfolgt. Sie hoffte auf | |
| eine Verurteilung, aber nicht auf irgendeine. Sie wollte, dass der wahre | |
| Täter verurteilt wird, kein Bauernopfer. Und ihr Eindruck ist: Hier war der | |
| Richtige angeklagt. Der Hauptbelastungszeuge war glaubwürdig, in der | |
| Gesamtschau haben sich die Vorwürfe bestätigt. | |
| Dass dem Gericht nun vorgeworfen wird, sich von politischen Erwägungen und | |
| dem Druck der öffentlichen Meinung leiten gelassen zu haben, ist sehr | |
| befremdlich. Mir sind die Richter dieser Strafkammer seit Jahrzehnten | |
| bekannt, aus Verfahren, in denen ich Verteidiger war. Und es gab zu keiner | |
| Zeit auch nur den geringsten Anlass, an ihrer Unabhängigkeit zu zweifeln. | |
| Ob mit dem Urteil Ruhe in Chemnitz einkehrt, bleibt abzuwarten. Ich habe | |
| vor einem Jahr die Demonstrationen verfolgt. Das war unschön, ich konnte | |
| das nicht nachvollziehen, die Tat wurde politisch instrumentalisiert. Auch | |
| die Mutter von Daniel fand das unerträglich.“ | |
| ## „Ein riesengroßer Imageschaden“ | |
| Chris Dietrich, 35, ist Betreiber der Bar „Oberdeck“. Er organisiert seit | |
| 17 Jahren Kulturevents in Chemnitz und gehört zu den Initiatoren des | |
| „Herzschlag“-Fests, das an diesem Wochenende als Ersatz für das aus | |
| Sicherheitsbedenken abgesagte Stadtfest stattfindet – mit Essen, Musik und | |
| Feuerwerk. | |
| „Als ich von der Absage des diesjährigen Stadtfestes hörte, aus angeblichen | |
| Sicherheitsgründen, konnte ich mich damit nicht abfinden. Ich kenne hier | |
| viele Gewerbetreibende, da habe ich zu Freunden und Kollegen gesagt: | |
| ‚Kommt, dann machen wir selbst ein Fest!‘ So war das Herzschlag-Bürgerfest | |
| geboren. Angst vor einer Gewalttat wie im letzten Jahr habe ich nicht: Wir | |
| arbeiten mit allen relevanten Stellen der Stadt und den Sicherheitsorganen | |
| zusammen – und hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. | |
| Wer aktuell den Namen Chemnitz hört, der denkt, hier wird jeder auf der | |
| Straße zusammengeschlagen. Das ist Quatsch und ärgert uns Chemnitzer. Wäre | |
| es so, würde ich doch nicht mehr hier leben! Der Messerangriff war | |
| schrecklich, aber er war, mag es auch komisch klingen, ein normales | |
| Verbrechen, wie es leider auch anderswo passiert. Ich kenne Daniel noch von | |
| früher – er hätte das niemals gewollt, was aus dieser Tat gemacht wurde. | |
| Das weltweite verzerrte Bild, das es jetzt von Chemnitz gibt, hat viele | |
| Bürger, aber besonders auch die Gewerbetreibenden hier wie erschlagen. | |
| Große Kunden von außerhalb, die bleiben jetzt weg. | |
| Ich habe das auch in meinem Geschäft gemerkt. Ich kenne Betriebe, die sind | |
| auf der Strecke geblieben. Das ist ein riesengroßer Schaden, und den haben | |
| wir denen zu verdanken, die doch angeblich so viel für ‚ihre‘ Stadt und | |
| ‚ihr‘ Land tun wollen. | |
| Ich persönlich glaube, es wird noch Jahre dauern, bis dieser Imageschaden | |
| wieder weg ist, bis Chemnitz wieder wahrgenommen wird, wie es wirklich ist: | |
| als eine attraktive, lebensfrohe Stadt. Das ist wie bei unseren Partys in | |
| der Bar, du kannst 100 super Partys organisieren, aber wenn eine | |
| schiefläuft, dann bleibt genau die in Erinnerung.“ | |
| ## „Ich muss stark bleiben“ | |
| Mahmoud Hashemi, 53, betreibt das Restaurant „Safran“. Im Herbst 2018 | |
| schlugen dort Maskierte den Iraner zusammen, sollen „Heil Hitler“ geschrien | |
| haben. Hashemi lag acht Tage im Krankenhaus. Nach den rechten Aufmärschen | |
| wurde sein Restaurant mit Hakenkreuzen beschmiert und eine Scheibe | |
| zerschlagen. Die Täter wurden bis heute nicht ermittelt. | |
| „Mein Rücken ist immer noch ein Problem, und manchmal habe ich auch noch | |
| ein bisschen Angst, aber es ist okay. Zuletzt gab es keine Angriffe mehr | |
| auf mein Restaurant. Als im letzten Jahr die Männer kamen und mich | |
| schlugen, da hat es lange gedauert, bis die Polizei da war, obwohl ihre | |
| Station gleich nebenan ist. Aber jetzt fährt die Polizei bei mir immer mit | |
| ihren Autos vorbei und guckt. Danke, Polizei! | |
| Meine Mitarbeiter sind weg, sie hatten Angst wegen des Angriffs. Jetzt | |
| arbeite ich im Restaurant mit meiner Frau. Viele deutsche Kunden kommen, | |
| jeden Monat läuft es besser. Auch im Krankenhaus haben mich viele Deutsche | |
| besucht. Und Nachbarn fragen, ob wir Hilfe brauchen. Im März war auch Frau | |
| Merkel da, wir haben Reis und Lamm und Hühnchen gegessen. Sie hat gesagt, | |
| dass es ihr wirklich leidtut, was mir passiert ist. Ich hatte einen sehr | |
| guten Eindruck von ihr. | |
| 90 Prozent der Menschen in Chemnitz sind gut. Als Daniel gestorben ist, | |
| kamen viele, die hier Probleme machen wollten, aus anderen Städten. Das ist | |
| kulturelle Armut. | |
| Ich hatte vor ein paar Wochen noch mal ein Problem. Zwei Jungs schlugen mir | |
| auf der Straße auf den Kopf, riefen ‚Scheißausländer‘. Aber ich glaube, … | |
| war wegen Alkohol. Ich bleibe in Chemnitz. Ich muss bleiben, ich muss stark | |
| bleiben. Nicht ich muss gehen, die Nazis müssen gehen. (lacht) Nazis sind | |
| nicht nur für die Ausländer gefährlich, sondern für alle.“ | |
| ## „Es gibt einen Aufbruch“ | |
| Barbara Ludwig, 57, ist SPD-Politikerin und seit 2006 Bürgermeisterin von | |
| Chemnitz. | |
| „Das Verbrechen vom vergangenen Sommer und die Ereignisse danach haben | |
| viele Chemnitzer betroffen gemacht. Die plötzliche überregionale | |
| Aufmerksamkeit, fokussiert auf die Bilder vor dem Karl-Marx-Kopf, haben der | |
| Stadt sehr geschadet. Gräben zwischen sehr unterschiedlichen politischen | |
| Meinungen sind auf den Straßen öffentlicher als vorher geworden. Eine | |
| Mischung aus Traurigkeit, Schockstarre, Angst entwickelte sich, aber auch | |
| aus Aufstehen und Verbinden. | |
| Es gibt heute ein engagierteres Eintreten von Bürgern für ihr Chemnitz. Wer | |
| mit offenen Augen durch die Stadt geht, kann das sehen und spüren. Auch | |
| beim Herzschlag-Bürgerfest an diesem Wochenende. Wir haben das Stadtfest | |
| nach gründlicher Abwägung abgesagt. Nun ersetzen neue Formate das | |
| Stadtfest. Das bedeutet auch: Ein ‚Einfach weiter so‘ gibt es nicht. Ich | |
| finde es hervorragend, dass Bürger sich selber aufmachen und zeigen wollen, | |
| dass in Chemnitz viel mehr Engagement herrscht, als von außen gedacht wird. | |
| Dieses Engagement ist die richtige Antwort der Stadtgesellschaft auf die | |
| Ereignisse. Es gibt einen Aufbruch, der das Potenzial hat, Quelle für ein | |
| selbstbewusstes Chemnitz zu sein.“ | |
| ## „Die Rechten aus dem Stadion drängen“ | |
| Daniel Maaß, 47 Jahre, ist seit Juni Antirassismus-Beauftragter des | |
| Chemnitzer FC. Fans des Vereins fielen zuletzt wiederholt durch rechte | |
| Vorfälle auf. Die Fangruppe „Chaotic Chemnitz“ gehörte vor einem Jahr zu | |
| den ersten, die zu den rechten Aufzügen nach dem Tod von Daniel H. | |
| mobilisierten. | |
| „Als ich das erste Mal die Bilder von der Huldigung für den verstorbenen | |
| Neonazi Thomas Haller im Chemnitzer Stadion sah, traute ich meinen Augen | |
| nicht. Unglaublich. Kurz darauf kontaktierte mich der CFC und fragte, ob | |
| ich Antirassismus-Beauftragter werden will – noch bevor dies der | |
| Fußballverband zur Auflage erklärte. Das war schon mal ein Signal: Der | |
| Verein hat das Problem erkannt. Und dann kommt CFC-Kapitän Daniel Frahn und | |
| stellt sich zu rechtsextremen Hooligans in den Block. Das ist natürlich | |
| enttäuschend. Aber der Verein hat, auch nach Rücksprache mit mir, mit dem | |
| Rauswurf von Frahn konsequent reagiert, absolut richtig. | |
| Ich weiß, dass die Probleme des Chemnitzer FC nicht erst seit gestern | |
| bestehen. Ich weiß auch, dass ‚Kaotic Chemnitz‘ im letzten Sommer mit zu | |
| den rechten Aufmärschen aufrief. Deshalb werden die Probleme auch nur | |
| langfristig zu lösen sein. Ich komme ja aus Bayern und wenn du – nach all | |
| den Nachrichten – als Antirassismus-Beauftragter in Chemnitz aufschlägst, | |
| rechnest du erstmal mit Anfeindungen. Tatsächlich waren einige Reaktionen | |
| der Fans: ‚Dich brauchen wir nicht. Der CFC ist nicht rechter als andere.‘ | |
| Aber längst nicht die ganze Südkurve ist so, viele Fans sind keineswegs | |
| rechts, einige gründeten hier ja die ‚Sektion Vielfalt‘. Genau diese Fans | |
| will ich erreichen und stärken, sie eng an den Verein binden – und so die | |
| rechte Szene schrittweise aus dem Stadion drängen. Ich bin mir sicher, das | |
| wird gelingen, gerade weil die Vereinsspitze hier klar mitzieht.“ | |
| 25 Aug 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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