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# taz.de -- Debatte Ostdeutsche und Migranten: Wie eine weitere Migration
> Ja, das Ende der DDR verursachte Erfahrungen, die in mancher Hinsicht
> denen einer Migration ähneln. Diese Analogie hat allerdings auch ihre
> Grenzen.
Bild: Und so verließen die Ostdeutschen die DDR – Nein, es handelt sich um e…
Als ich lernte, dass Ostdeutschsein etwas Schambehaftetes oder überhaupt
„etwas“ ist, spielte ich an einem Hotelpool im türkischen Antalya. Es war
das Jahr 1990, ich war sechs Jahre alt – und zum ersten Mal zu Besuch bei
den Großeltern in jenem Land, das mein Vater 13 Jahre zuvor verlassen
hatte. Um uns etwas Gutes zu tun, waren sie mit uns von İstanbul nach
Antalya gefahren.
Die Kinder am Pool des Hotels kamen auch aus Deutschland, sie waren etwas
älter als ich, und sie wollten wissen: „Woher kommst du?“ „Berlin“, sa…
ich. „Ost oder West?“ Ich musste zu meiner Mutter laufen, weil ich es nicht
genau wusste. Und als ich mit der Antwort zurückkehrte, spürte ich an den
Reaktionen meiner Ferienfreunde: „Ostberlin“ war irgendwie die falsche
Antwort.
Nach diesem Sommerurlaub wurde ich in Deutschland eingeschult. In der 36.
Grundschule von Berlin-Hellersdorf herrschte heilloses Wende-Chaos. Die
nervöse Stimmung – eine Mischung aus Vorfreude auf die neue Zeit,
Unsicherheit und völliger Hilflosigkeit – ließ sich mit Händen greifen. In
der Klasse sollten wir von unserem Sommer erzählen. Ich berichtete von der
Türkeireise und davon, dass ich dort meine Familie besucht hatte. So wie
mich die Lehrerin anschaute, fühlte ich mich sofort an die Situation am
Hotelpool in Antalya erinnert. Wieder was Falsches gesagt, dachte ich.
Warum ich das erzähle? Seit einigen Wochen wird eine Debatte darüber
geführt, ob Ostdeutsche auch so etwas wie Migranten seien. Auslöser dafür
war ein [1][Interview mit der Professorin Naika Foroutan in der taz] (13.
5. 2018) . Sie sagt: Die Erfahrungen, die Ostdeutsche nach dem Fall der
Mauer und Migranten gemacht haben, ähneln sich. Als Ostdeutsche aus einer
Familie mit Einwanderungsgeschichte kann ich dies intuitiv bestätigen.
## Verlusterfahrung und Wertevakuum
Was Naika Foroutan als wissenschaftliche These untersucht, entspricht einer
Lebenserfahrung, die in der kleinen Ostberliner Migrantencommunity, in die
ich hineingeboren wurde, immer wieder Thema war.
Mein Vater hat es schon vor Jahren einmal in eigene Worte gefasst: Als die
DDR aufhörte zu existieren, habe sich das für ihn wie eine weitere
Migration angefühlt. Er würde Foroutan zustimmen: Zweimal verließ er ein
Land – erst die Türkei in Richtung Bundesrepublik, dann die BRD in Richtung
DDR –, und ja, dann verließ das Land ihn. Und hinterließ ein Wertevakuum,
das sinnvoll zu füllen eine Herausforderung darstellte, deren
Bewerkstelligung die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft einerseits
forderte, andererseits den Ossis aber kaum zutraute.
[2][Irritiert zeigte sich Anetta Kahane], als sie – ebenfalls in der taz –
der Artikulation solcher Verlusterfahrungen ungläubig fragend entgegnete:
Wie kann man einem Staat nachtrauern?
Nun. Da, wo ich herkomme, hat kaum jemand ernsthaft der DDR
„nachgetrauert“. Aber verloren gefühlt haben sich dennoch viele. Auch weil
den Ostmenschen oft mit einer schizophrenen Abwehrhaltung begegnet wurde –
die jener ähnelte, die viele Migranten im Westen kennengelernt haben. So
wie den in Anatolien angeheuerten Gastarbeitern, die am Fließband in Köln
schufteten, vermittelt wurde, dass ihre Einstellungen irgendwie
rückständig, eine Integration in die bestehende Gesellschaft zugleich
aussichtslos oder gar nicht erst gewünscht sei, wurde auch den Ossis vom
Westen vielfach mit der Haltung begegnet: Ihr seid hoffnungslose Fälle.
## Die Analogie hat Grenzen
Anders als Anetta Kahane finde ich Foroutans These daher gewinnbringend –
einerseits. Sie trifft einen Nerv, weil sie Lebenserfahrungen Geltung
verschafft, die oft abgekanzelt werden. Im besten Fall können nun Menschen
ins Gespräch miteinander kommen, die sich bisher nichts zu sagen hatten,
die aber gleichermaßen damit hadern, wie die Bundesrepublik sie einst
aufgenommen hat.
Doch wer als Migrant im Osten gelandet ist, weiß ebenso gut, dass Foroutans
Analogie Grenzen hat. Die sind spätestens erreicht, wenn es um Rassismus
geht. Dass ihnen im Westen mit Skepsis begegnet wurde, erfuhren fast alle,
die aus der DDR kamen. Doch mit der Todesangst der Pogromzeit mussten dann
eben doch nur einige leben. Im Lichtenhagener Sonnenblumenhaus waren es als
Vertragsarbeiter in die DDR eingewanderte Vietnamesen, denen die Brandsätze
galten und es waren einige derer, die nun zur neuen „Migrantengruppe“
erhoben werden, die sie warfen.
Eine 1990 durchgeführte Umfrage des Kölner Instituts für Sozial-und
Gesellschaftsforschung ergab, dass 13 Prozent der befragten Ostdeutschen
„die Türken“ ablehnten. Noch unbeliebter waren nur „die Polen“. 1989 l…
im Osten fast 200.000 Menschen ohne DDR-Staatsbürgerschaft. Zehntausende
Vertragsarbeiter waren – genau wie die Gastarbeiter im Westen – die Ersten,
die ihre Jobs verloren. Viele wurden abgeschoben. Für andere blieb der
Aufenthaltsstatus lange Zeit ungeklärt.
Auch die kleine Gruppe von Ost-Türken, zu denen mein Vater gehörte, stand
nach der Wende zunächst ohne Aufenthaltstitel da. Eine existenzielle
Unsicherheitserfahrung, die er nicht mit jenen Ossis, die automatisch die
Staatsbürgerschaft der neuen Bundesrepublik erhielten, wohl aber mit vielen
Westmigranten teilt.
Angelika Nguyen hat diesbezüglich bei [3][Zeit Online] bereits einiges
zurechtgerückt: „Die Grenzen verliefen und verlaufen ja nicht nur zwischen
Ost und West, sondern auch mittendrin.“
Sie hat recht – wie auch mit dem Verweis darauf, dass es für Rassismus im
Osten kein Zutun der Westler brauchte, es gab ihn schon vor 1989. Darauf
hinzuweisen muss nicht bedeuten, Foroutans These zwischen lauter Wenn und
Aber zu zerreiben: Es macht die Debatte vielstimmiger – und erweitert sie
um die Perspektive von Ost-Migranten. Und diese sind es schließlich, die
beides kennen: das Leben mit Einwanderungsgeschichte und die Transformation
des Ostens.
30 Jun 2018
## LINKS
[1] /Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987
[2] /Debatte-Ostdeutsche-und-Migranten/!5509315
[3] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/ostdeutschland-heimat-ddr-f…
## AUTOREN
Nelli Tügel
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