# taz.de -- Debatte Ostdeutsche und Migranten: Nicht in die Fallen tappen | |
> Der Vergleich von Ostdeutschen und Migranten ist beliebt. Doch er beruht | |
> auf einem groben Denkfehler. Eine Replik auf Naika Foroutan. | |
Bild: Wie kann man einem Staat nachtrauern? | |
In einem [1][Interview mit der taz hat Naika Foroutan] eine Studie | |
angekündigt, in der die Lage der Ostdeutschen und der Migranten verglichen | |
wird. Mit der Fragestellung, ob nicht beide Gruppen genauso diskriminiert | |
werden und damit Erlebniswelten teilen, die geprägt sind von Demütigung, | |
Abwertung und Benachteiligung. Täter in beiden Fällen: der Westen. | |
Nun, vergleichen kann man alles. In den ersten Jahren nach der Einheit, als | |
im Osten ganze Landstriche von Rechtsextremen beherrscht und sichtbare | |
Minderheiten aller Art gehetzt und getötet wurden, gab es kaum Ost und West | |
vergleichende Forschung zu Rassismus oder Antisemitismus. Das war eine | |
vertane Chance. Das zentrale deutsche Thema, der Umgang mit | |
Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, war bis auf wenige | |
Ausnahmen ausgeblendet. | |
Gegenwärtig erlebt der Osten eine Renaissance. Er passt in das Heimat- und | |
Identitätsgeschwurbel der letzten Jahre. Er passt, weil im Osten ein | |
riesiges Forschungsfeld für das Unverstellte, das Authentische bereitsteht, | |
„unverschmutzt“ durch Einwanderung und andere ambivalente, ungleichmachende | |
Westprodukte. | |
Ostdeutschland, ein natürlicher Quell von Gefühlen gegen Kapitalismus, | |
gegen Amerika und Israel, gegen den kalten, urbanen, abstrakten | |
Universalismus, dem man längst nicht so viel abgewinnen konnte wie Russland | |
mit seiner großen Seele. Wie man jene Atmosphäre, die nach kleinlicher | |
Provinz und angehaltenem Atem roch, bis heute als Sehnsuchtsort beschreiben | |
kann, ist mir schleierhaft. | |
Einer der großen Fehler der Nachwendezeit | |
Vielleicht lässt sich das mit dem ostdeutschen Gemeinschaftsgefühl | |
erklären. Alles, was mit Identität zu tun hat, ist wieder stark im Kommen. | |
Volkssolidarität und Völkerfreundschaft, freilich exklusiv für weiße | |
Mehrheitsossis, sind bis heute das Ideal der Kleinbürgermilieus. | |
Solidarität des Volkes gegen „die da oben“ und Völkerfreundschaft nach dem | |
Modell des Ethnopluralismus: Völker grüßen einander, begegnen sich | |
manchmal, um dann wieder schnell zurück ins Eigene zu huschen. Ohne | |
Vermischung, versteht sich. Auch das passt in die Zeit der | |
Identitätspolitik. | |
Seitdem Pegida, AfD und Neurechte direkt und indirekt Ton und Inhalt der | |
Debatten bestimmen, werden auch Stimmen lauter, die über Diskriminierung | |
von Ossis klagen. Immer wieder melden sich in letzter Zeit Prominente zu | |
Wort, die sich mehr Ostdeutsche in Politik, Medien und Wirtschaft wünschen. | |
Einer der großen Fehler der Nachwendezeit zeigt hier seine Wirkung. Statt, | |
wie nach dem Krieg in der Bundesrepublik, das Aufbauprogramm inklusive der | |
NS-belasteten Menschen voranzutreiben, wurde das Aufbauprogramm Ost ohne | |
die DDR-Sozialisierten vorgenommen. Der gesamte Mittelbau der DDR erlebte | |
Warteschleifen, Abwicklung, ABM-Maßnahmen. | |
Diese Generation ist, bedingt durch Wendeschock und DDR-Erziehung, bis in | |
die Knochen passiv-aggressiv. Bei ihren Kindern löste ihr dumpfes Leiden | |
vor allem Wut aus. Diese Wut war symbiotisch mit den Eltern, kein | |
Aufbegehren gegen sie, nur gegen das System. Diese Wut war einer der | |
Auslöser für die rechtsextreme Dominanz unter Jugendlichen in | |
Ostdeutschland. | |
Wie kann man einem Staat nachtrauern? | |
Quellen dafür gab es noch andere, weiter zurückliegende. Im Osten war eine | |
systemische und individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus | |
und der Shoah nicht gewollt. Dies hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder | |
Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu | |
beantworten gewesen wären. | |
Zurück zur Vergleichsstudie. [2][Jana Hensel (Ost) in der Zeit] und | |
[3][Ferda Ataman (West) im Spiegel] bejubelten die Idee. Mir sind dabei | |
zwei Dinge aufgestoßen: die Gefühligkeit bei gleichzeitigem Ausblenden | |
eines deutschen Grundproblems. Jana Hensel bekam eine Gänsehaut bei der | |
Vorstellung, ausgerechnet von einer Migrantin verstanden zu werden. Als | |
eine, die ihre Heimat verlor, weil ihr Land verschwunden ist, die | |
Herabsetzung als Ossi erlebte. | |
Das Land ist verschwunden? Doch eher der Staat. Wie kann man einem Staat | |
nachtrauern? Die Migrantin als Schwester in der Not hilft Hensel, dem | |
Schicksal der weißen Ostdeutschen mit etwas mehr Empathie zu begegnen. | |
Ferda Ataman macht es umgekehrt. Auch sie erhofft sich Empathie und | |
Verbündete. Diese ausgerechnet in den Ostdeutschen zu suchen, deren Abwehr | |
gegen alles Fremde sie offenbar besonders prädestiniert, ist befremdlich. | |
Die Verostdeutschung von Gefühlen und Vergleichen | |
Gegen jede Sachkenntnis über den allgegenwärtigen Rassismus im Osten | |
schwingt bei Ataman die Vermutung mit, dass jene Fremdenfeindlichkeit ja | |
auch nur ein böses Klischee sein könnte. Ein Vorurteil, wie das gegen | |
Migranten. Dass Individuen nicht Klischees zum Opfer fallen dürfen, | |
versteht sich von selbst. Warum aber das Reden über „die Ostdeutschen“ und | |
„die Migranten“ als Kategorie? Diese Frage müssen sich beide stellen | |
lassen. | |
Was besonders empört, ist, dass die Situation von Minderheiten stets | |
ausgeblendet und dass Empathie offenbar mit unsinnigen, teils verletzenden | |
Vergleichen erkauft werden muss. Weder in der DDR noch danach war es | |
lustig, einer Minorität anzugehören. Die Nazis im Osten haben ganze | |
Regionen terrorisiert und tun es noch. Gemerkt haben das meist nur ihre | |
Opfer. Dem Durchschnittsossi war das ebenso egal wie dem Wessi, der sich | |
nicht „einmischen“ wollte. | |
Wie können nicht rassistische Ossis wie Jana Hensel sich solchen | |
Vergleichen hingeben, während jeden Tag Schwarze und Migranten durch die | |
Straßen gehetzt werden? Am schlimmsten finde ich, dass die Melange aus | |
Gefühlen für verschwundene Sehnsuchtsorte und den | |
Diskriminierungserfahrungen als Ostdeutsche sich zu einer Art Erklärung für | |
die Pogrome in Rostock und anderswo steigert. Dass Ferda Ataman im | |
Gefühligen bleibt, statt auf Solidarität zu bestehen, ist ebenso | |
befremdlich. | |
Die Verostdeutschung von Gefühlen und Vergleichen ist leider noch | |
ausbaufähig. Deshalb sollte man, bei aller Liebe zum Eigenen, nicht in die | |
aufgestellten Identitäts- und Heimatfallen tappen. | |
12 Jun 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987 | |
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/ostdeutschland-erfahrungen-… | |
[3] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/warum-ostdeutsche-und-muslime-vie… | |
## AUTOREN | |
Anetta Kahane | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Ostdeutsche und Migranten | |
Migration | |
Identität | |
Ost-West | |
DDR | |
Schwerpunkt Ostdeutsche und Migranten | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Horst Seehofer | |
Schwerpunkt Ostdeutsche und Migranten | |
Willkommenskultur | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte Ossis streben nach Freiheit: Extremisten der Freiheit | |
Die Ostdeutschen sind nicht im gelobten Land der Freiheit angekommen – | |
sondern nur in der Bundesrepublik. Sie müssen lernen, pragmatisch zu sein. | |
Soziologe über ostdeutsche Identität: „Das begann erst nach der Wende“ | |
Kann jemand, der nicht in der DDR geboren wurde, eine Ost-Identität haben? | |
Geht schon, sagt der Soziologe Raj Kollmorgen. | |
Debatte Ostdeutsche und Migranten (2): Mythos Besserossi | |
Migranten und Ostdeutsche sind trotz ähnlicher Erfahrungen keine | |
Schicksalsgemeinschaft. Die soziale Kluft verläuft anderswo. | |
Innenminister meidet Integrationsgipfel: Seehofer flüchtet vor Kritikerin | |
Der CSU-Politiker sagte beim Gipfel ab, weil eine Journalistin, die ihn | |
kritisierte, auch dabei ist. Ihren Text scheint er missverstanden zu haben. | |
Debatte Ost-Identität und Migration: Vom Land verlassen | |
Die These „Ostdeutsche sind Migranten im eigenen Land“ trägt nicht weit. | |
Zwar gibt es Gemeinsamkeiten, doch auch viele Wessis wurden „heimatlos“. | |
Essay Willkommenskultur in Deutschland: Das Glas ist halb voll | |
Die Flüchtlingszahlen steigen. Die hässlichen Deutschen der 90er sind nicht | |
zurückgekehrt. Das ist das Ergebnis eines jahrelangen Reifeprozesses. | |
Sind Ossis fremdenfeindlicher als Wessis?: „Die Aggressivität ist besonders … | |
Der Streit geht weiter: Im Osten fehle die Erfahrung mit der Migration, | |
meint nun der Sprecher der Länderinnenminister. |