# taz.de -- Soziologe über ostdeutsche Identität: „Das begann erst nach der… | |
> Kann jemand, der nicht in der DDR geboren wurde, eine Ost-Identität | |
> haben? Geht schon, sagt der Soziologe Raj Kollmorgen. | |
Bild: Keine Angst: Auch mit Ostidentität können Sie role model und Vorbild se… | |
Taz: Herr Kollmorgen, wir haben [1][gerade eine Debatte um die Frage, | |
wieviel Ostdeutsche und Migranten] gemeinsam haben. Eine Frage wird dabei | |
von jungen Menschen aus Ostdeutschland immer wieder gestellt: „Bin ich | |
eigentlich Ostdeutsche, obwohl ich nicht in der DDR geboren bin? Gehöre ich | |
dazu?“ Wie würden Sie das beantworten? | |
Raj Kollmorgen: Eine Ost-Identität ist nicht zwangsläufig daran geknüpft, | |
in der DDR geboren zu sein. Die Fremd- und die Selbstwahrnehmung als | |
Ostdeutsche hat sich erst nach 1990 herausgebildet. Als klar wurde, dass | |
die Wiedervereinigung schwieriger werden würde als gedacht. Als Menschen | |
aus Ostdeutschland massenhaft ihre Arbeit verloren haben oder ihnen | |
westdeutsche Chefs vorgesetzt wurden, als sie in Medien als faul und | |
vormodern beschrieben wurden. Identitäten formieren sich immer dann | |
besonders intensiv und werden wirkmächtig, wenn sie bedroht erscheinen und | |
soziale Desintegration herrscht. | |
Kann man die Ost-Identität von der DDR abkoppeln? | |
Nein, natürlich wird beim Entwickeln einer Ost-Identität auf die | |
DDR-Geschichte und die damaligen Erfahrungen zurückgegriffen. Oder auf | |
Geschichten und Geschichte, von denen Menschen gehört haben. | |
Welche Rolle spielt diese Ost-Identität heute? | |
Erst einmal ist sie für viele Menschen eine Identität unter vielen, neben | |
anderen sozialen Identitäten wie beruflichen, also etwa als Maurer oder | |
Forscher, der regionalen Identität als Leipziger oder Rügener, der | |
Identität als Vater oder Mutter. Insgesamt hat die Bedeutung der | |
Ost-Identität in den vergangenen Jahren eher abgenommen. Zugleich | |
unterliegt die Stärke, mit der eine ostdeutsche Identität empfunden wird, | |
bestimmten Wellen. | |
Was heißt das? | |
Im Trend nimmt die Bedeutung der ostdeutschen Identität eher ab, gerade bei | |
den Jüngeren. Heute begreifen sich bei den über 60-Jährigen etwa ein | |
Viertel als vollwertige Bundesbürger, aber bei den unter 40-Jährigen sind | |
das 40 Prozent. Die Werte für eine Selbstidentifikation als Ostdeutsche und | |
Ostdeutscher stellen sich entsprechend umgekehrt dar. | |
Die Ost-Identität stirbt also einen biologischen Tod? | |
Nein, denn Identitätsbildung hat immer damit zu tun, wie andere über mich | |
oder uns als soziale Gruppe reden, mit Machtkämpfen in einer Gesellschaft, | |
damit, ob mich andere einer Gemeinschaft zuordnen. | |
Die eigene Identität wird von anderen gemacht? | |
Bevor in den 90er Jahren die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft nicht nur | |
kollektivierend, sondern im Regelfall auch abwertend über Ostdeutsche | |
gesprochen hat, haben sich viele Ostdeutsche gar nicht so sehr als | |
Gemeinschaft gesehen. Sie sind gleichsam von außen, durch Dritte | |
vereinheitlicht worden und dazu mussten sie sich verhalten. Teils haben sie | |
diese Zuschreibung angenommen, teils haben sie sich aktiv gegen die | |
Stigmatisierung als Looser und Zurückgebliebene gewehrt. | |
Und könnte es einen ähnlichen Effekt haben, wenn Ostdeutsche in der Debatte | |
um Pegida und die AfD verallgemeinernd als Rassisten dargestellt werden? | |
Ich bin da mit Urteilen vorsichtig. Es gibt nun einmal ein größeres Problem | |
mit Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Klar ist aber, dass die AfD in | |
Ostdeutschland als neue ostdeutsche Regionalpartei auftritt und diese | |
identitäre Ressource exzessiv nutzt. Es ist in Sachsen zu beobachten, dass | |
als Reaktion auf die Anschuldigung, dort wären alle Rassisten, so eine Art | |
sächsische Volksidentität beschworen wird. Es wird betont, wie | |
leistungsbereit, strebsam und fleißig man sei und wie unabhängig im Denken. | |
Hat die Herausbildung einer Ost-Identität auch etwas mit sozialem Status zu | |
tun? | |
Eindeutig. Je höher gebildet jemand ist, je höher sein Einkommen ist und je | |
erfolgreicher jemand erwerbstätig ist, desto mehr fühlt sich die- oder | |
derjenige als Teil der Bundesrepublik. Und umgekehrt. | |
Identitäten sind, Sie sagen das selbst, etwas Künstliches. Warum schenken | |
wir ihnen so viel Aufmerksamkeit? | |
Dieses Argument, Identitäten seien konstruiert und deshalb weniger | |
relevant, ist wenig sinnvoll. In unseren komplexen Gesellschaften ist alles | |
sozial konstruiert. Nation ist eine Konstruktion, Geld ist eine | |
Konstruktion. Aber daraus zu schließen, dass diese Gebilde nicht oder kaum | |
wirkmächtig wären, ist offenkundig falsch. | |
Lässt sich daraus schlussfolgern, dass junge Menschen, die sich die Frage | |
stellen, ob sie noch eine Ost-Identität haben, schon dabei sind, eine | |
solche aufzubauen? | |
Nein, die Frage zustellen, heißt nicht gleich auch die Antwort zu geben. | |
Junge Menschen stellen solche Fragen, wenn sich die bisherigen Gewissheiten | |
ihrer Welt auflösen. Durch das Abnabeln vom Elternhaus, sexuelles Erwachen, | |
die neuen Herausforderungen und Menschen, auf die sie in Ausbildung oder | |
Studium treffen. Sie suchen nach Ressourcen, um mit diesen Situationen | |
umzugehen, und Herkunft oder Identitäten können solche Ressourcen | |
repräsentieren, um sich zum Beispiel zu erklären, warum einem gerade etwas | |
genau so oder so widerfährt. Und: Wie ich darauf angemessen reagieren kann. | |
Deswegen muss man noch nicht zum Ostalgiker werden. | |
Ostalgikerin ist nun nicht die einzig mögliche Ost-Identität, oder? | |
Nein, man kann das sehr selbstbewusst und innovativ vortragen. Das haben | |
Initiativen wie zum Beispiel die „3. Generation Ost“ auch gemacht. Die | |
haben sich mit ihrer Elterngeneration auseinandergesetzt. Nicht ganz so | |
konfliktreich wie die 68er mit ihren Eltern vielleicht, aber doch | |
inhaltlich hart. Sie haben Fragen gestellt, wie: Wie konntet ihr damals so | |
leben? Wie habt ihr das balanciert zwischen persönlichen Freiheiten in der | |
Lebenswelt und Unfreiheiten in den Systemen? Warum redet Ihr so wenig | |
darüber? Und wie konnte das Regime eigentlich zum Sturz gebracht werden? | |
Wenn ich in Ostdeutschland unterwegs bin, begegnen mir des Öfteren junge | |
Leute, die die DDR verklären. Sind die eine statistisch relevante Größe? | |
Derzeit nicht. Viele Menschen aus Ostdeutschland sind bekanntlich nach 1989 | |
migriert, nämlich nach Westdeutschland. Vor allem mobile Menschen, junge | |
Frauen, Gebildete. Wer heute gerade in den ländlichen Räumen mit vielen | |
alten Menschen aufwächst, der ist natürlich anfälliger für die Erzählungen | |
von der tollen DDR. Einfach weil sie solche Erzählungen öfter hören und | |
weil viele der dort Lebenden nach 1990 Verlusterfahrungen gemacht haben. | |
Aber prozentual bewegt sich das im einstelligen Bereich. | |
Zählen eigentlich die Weggezogenen als Ostdeutsche? | |
In vielen Statistiken kurioserweise nicht. Da wird nach dem Wohnort gefragt | |
und nicht nach den Eltern oder der eigenen Herkunft. | |
Dabei bilden vielleicht gerade die, die sich in Westdeutschland durchsetzen | |
müssen besonders starke ostdeutsche Identitäten aus. | |
Das wäre zumindest möglich. | |
[2][Naika Foroutan hat die These aufgestellt, die Ost-Identität würde für | |
junge Menschen in Ostdeutschland wieder wichtiger werden.] Ist das | |
plausibel? | |
Absolut. Schauen Sie in die USA. Als die weiße Mehrheitsgesellschaft | |
bemerkte, dass sie bald nicht mehr die Mehrheit stellt, sondern die Latinos | |
und die Afroamerikaner, da ging eine neue Debatte los, was es eigentlich | |
bedeutet, ein echter Amerikaner oder eine Amerikanerin zu sein. Die | |
bundesdeutsche Gesellschaft merkt auch, dass sie nicht mehr das relativ | |
homogene Gebilde ist, das sie oft noch vorgibt zu sein. Dabei spielen die | |
Ostdeutschen und gerade auch die neuen Generationen eine wichtige Rolle. | |
Aber stärker noch die Gruppen der Migrantinnen und Migranten. Die Debatten | |
werden heftiger werden. Wobei heftiger nicht unbedingt schlechter heißt, | |
sondern hoffentlich offener und ehrlicher. | |
29 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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