# taz.de -- Debatte Ostdeutsche und Migranten: Allianz statt Konkurrenz | |
> Die einen sind Deutsche, die anderen Demokraten auf Probe: Warum sollten | |
> sich Migranten und Ostdeutsche nicht zusammenschließen? | |
Bild: Das ist doch Pegida – aber nicht in Dresden, sondern in München | |
Selten hat die Ankündigung einer soziologischen Studie so viel Kontroverse | |
ausgelöst. Die Debatte [1][im Anschluss an Naika Foroutans These von der | |
Migrationserfahrung der Ostdeutschen] wirft eine Frage auf: Warum können | |
sich Weiße Ostdeutsche nicht migrantisch identifizieren? Woher kommen die | |
Abwehrimpulse und wer beansprucht die Deutungshoheit über | |
„Migrationserfahrungen“? | |
Der Zeitpunkt der Debatte ist kein Zufall: die neue rechte Bewegung um die | |
AfD versammelt West- und Ostdeutsche unter schwarz-rot-goldenen und anderen | |
Fahnen. Die AfD ist das erste gesamtdeutsche Erfolgsprojekt, die Vollendung | |
der Einheit: West und Ost gemeinsam in reaktionärer Arschigkeit gegen alles | |
„Nicht-Weiße“. Diese Rechten machen deutlich, was wir brauchen: eine | |
Entkopplung der Vorstellungsräume „Migrantisch“, „Nicht-Deutsch“ und | |
„Nicht-Weiß“. | |
Foroutans These ist eine notwendige Differenzierung. Sie insistiert, dass | |
Migrationserfahrung nicht mit ethnischer Differenz gleichzusetzen ist. | |
Diesen Denkautomatismus praktiziert nicht nur die AfD, sondern auch die | |
weiße bürgerliche Mitte, um Migrant*innen als Nicht-Weiße zu exotisieren | |
und als „Andere“ dann zu akzeptieren. Was den Rechten die Xenophobie ist, | |
ist der bürgerlichen Mitte ihr Ethnofetischismus. | |
Der willkommene Effekt ist, dass die Biodeutschen sich tolerant fühlen | |
können. An dieser weißen Exklusivposition der Toleranz- und Werteverwaltung | |
sollten die Ostdeutschen nach der Wende teilhaben, wenn auch etwas anders, | |
wie ein Blick in die Geschichte zeigt. | |
1989 gab es ambivalente Anrufungen von Seiten der BRD: die Zuwanderung von | |
über drei Millionen Migrant*innen aus Ost- und Südosteuropa firmierte unter | |
der Bezeichnung „Spätaussiedlung“. Helmut Kohls Idee war die einer weißen, | |
großdeutschen Identität, das Phantasma einer von historischen Prozessen | |
unberührten ethnischen Volkszugehörigkeit. DDR-Flüchtlinge und | |
Spätaussiedler*innen landeten anfangs in denselben Auffanglagern, ihnen | |
wurde die gleiche Anrufung als „zurückgewonnene Deutsche“ zuteil. | |
Parallel zur Einstufung der Ostdeutschen als biodeutsch vollzog sich die | |
Übernahme der ehemaligen DDR durch westliche Wirtschaft und Bürokratie, | |
komplettiert durch die Abwertung von ostdeutschem Geld, Arbeit, Gütern und | |
Kultur. Beinahe zeitgleich setzte die Debatte um die multikulturelle | |
Gesellschaft ein. Im Zuge dieser wurden die in der BRD lange missachteten | |
Migrant*innen zum ersten Mal nachhaltig unter Integrationsdruck gesetzt. | |
Migrantische (West)Deutsche zweiter und dritter Generation wurden auf | |
Sprachvermögen, Integrationswillen, Gesetzestreue und Deutschheit geprüft – | |
im Namen des weißen Toleranzprojekts ‚Multikulturalismus‘, dessen | |
Haupteigenschaft auch ein gutmeinender Rassismus war. | |
Die Krisenszenarien, die sich das Bürgertum dazu ausmalte, waren zweifach: | |
weiße deutsche Toleranz konnte nur an entweder integrationsunwilligen | |
„Ausländern“ scheitern (Huntington prägt 1991 den Begriff vom „Kampf der | |
Kulturen“) oder an den nicht-demokratiefähigen Rassisten aus dem Osten | |
(Rostock). Es entstand eine Integrationskonkurrenz zwischen Ostdeutschen | |
und (West)Migrant*innen, die sich bis heute auswirkt und in den Morden des | |
NSU ihre blutige Spur gezogen hat. | |
Der doppelte Diskurs – „weiße“ Einheit und tolerante Multikultur – pr�… | |
die paradoxe Anrufung der Ostdeutschen in den frühen 90er Jahren: als | |
Volkszugehörige eingemeindet und als toleranzunfähige Rassisten | |
abgestempelt. Ähnliches galt für die Nicht-Biodeutschen: nach Jahrzehnten | |
der Unsichtbarkeit multikulturell umarmt, ethnisch weiter unter | |
Beobachtung. Als Deutsche beziehungsweise Demokraten „auf Probe'“ waren | |
beide im impliziten Wettstreit eingespannt. | |
Das bundesweite Auftreten von Rechtsextremismus und Gewalt gegen | |
Migrant*innen und dessen Vorgeschichte in Ost und West konnte im | |
bürgerlichen und linken BRD-Bewusstsein als DDR-Problem eingetütet werden, | |
zurückführbar auf die Demokratieunfähigkeit der | |
Ex-Diktaturbewohner*innen. Das war nicht falsch, aber | |
komplexitätsreduzierend: man konnte so, [2][wie Anetta Kahane schreibt], | |
der Analyse des strukturellen Rassismus Gesamtdeutschlands aus dem Weg | |
gehen. | |
## Unser gemeinsames Problem ist der Aufstieg der Rechten | |
Ethnisch richtig und politisch falsch deutsch: so wurde eine bestimmte | |
Generation von Ostdeutschen adressiert. Für sie könnte Foroutans These | |
einen Ausweg aus den Paradoxien bedeuten und eine mögliche Allianz mit | |
Menschen muslimischen Glaubens, die derzeit ebenfalls unter den | |
Generalverdacht der Demokratieunfähigkeit gestellt werden, hervorbringen. | |
Die Debatte lohnt sich. Eine Neubeurteilung der letzten 30 Jahre drängt | |
angesichts der Rechtsradikalen im Bundestag und auf den Straßen. Unser | |
gemeinsames Problem ist der transnationale Aufstieg der Rechten. Diesen | |
Kräften ist ein schlagkräftiges Gefühl entgegenzusetzen. Neue Allianzen | |
sind dafür lebenswichtig. Warum nicht ein Bündnis unter dem Begriff | |
„Post/Migration“, wenn es Solidarität schaffen kann? | |
Naika Foroutans Denkangebot darf nicht vorschnell verworfen werden. Es | |
bietet die emotionale und strategische Chance, Allianzen gegen Rechts zu | |
stiften und zu überdenken, wer wen als „migrantisch“ identifizieren kann. | |
Und es gilt, die unausgesprochene Grundannahme zu verunsichern, in der | |
Migrantisch/Nicht-Weiß/Nicht-Deutsch und | |
Ostdeutsch/Weiß/Rassistisch-Deutsch sich gegenüberstehen. Diese Sicht | |
produziert Extreme, das Phantasma der „guten Weißen westdeutschen Mitte“ | |
bleibt unangekratzt. | |
In dieser Debatte liegen lange noch nicht alle Ansichten, Einwände, | |
Erfahrungen und Ambivalenzen auf dem Tisch. Was sie braucht, ist eine | |
konsequente Entkopplung von Migration und Ethnie, um die fatale Logik von | |
Deutsch = Weiß = Nicht-Migrantisch zu stürzen. | |
4 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Susann Neuenfeldt | |
Simon Strick | |
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