| # taz.de -- Debatte Deutsche Identitäten: Phantomschmerz Ost | |
| > Die DDR ist Vergangenheit. Warum die eigene Erinnerung dennoch wertvoll | |
| > ist, wenn es um die Beurteilung aller Ostler geht. | |
| Bild: Im Ausland rühren wir Fremde zu Tränen, wenn wir von unserem Mauerfall … | |
| „Was ist dein verdammtes Problem?“, hat mein Mann mich gefragt, wenn wir | |
| über Ostthemen stritten. „Willst du etwa die DDR wiederhaben?“ Ich schwieg | |
| dann beleidigt. Das mit dem Osten, das war ja einem Westler wie ihm nicht | |
| vernünftig zu erklären. Zu viele verquere Gefühle. | |
| Heute fragt er mich das nicht mehr. Im Laufe unserer Beziehung haben wir so | |
| oft und hart über den Osten gestritten – mit dem Thema sind wir durch. Und | |
| nach all den Jahren, die seit dem Mauerfall vergangen sind, weiß ich | |
| manchmal ja selbst nicht mehr, was noch stimmt von meinen Erinnerungen. | |
| Was ich weiß: Ich hatte dort ein Leben. Eine erste Identität. Und ich | |
| möchte von dieser Person erzählen können, ohne mich für ihr Leben | |
| rechtfertigen zu müssen. | |
| Es ist wie ein Phantomschmerz: Mir ist vor Jahrzehnten etwas amputiert | |
| worden, etwas Schwärendes, das mir nicht guttat. Doch noch heute schmerzt | |
| die Narbe. Ich müsste eigentlich froh sein, schließlich hätte ich ohne die | |
| Operation nie meine zweite Identität entwickeln können. Trotzdem fehlt mir | |
| etwas. | |
| ## Der Mangel | |
| Uns – den „Kindern des Sozialismus“ – mangelt es an etwas. Nennen wir es | |
| Respekt. Oder Repräsentanz. Es mangelt uns zudem an Weltläufigkeit und | |
| Bildungsbürgerlichkeit. Und es fehlt diese Erzählfolie, deren Codes uns als | |
| Teil der identitätsstiftenden Mehrheit erkennbar machen würden. | |
| Jugoslawienurlaub, Bonanza-Rad, „Sie baden gerade Ihre Hände darin“ … das | |
| können wir beim besten Willen nicht mehr aufholen. Vielleicht erzählen wir | |
| Ostler deshalb so gern von früher und wärmen uns am Erinnerungsfeuer: Wir | |
| hatten etwas, was auch die anderen nicht mehr haben können. Eine Identität, | |
| die nur uns gehört. Der Osten ist unsere emotionale Wahrheit. | |
| Dabei geht es uns besser als den anderen Minderheiten in diesem Land. Wir | |
| sind mit allen Privilegien ausgestattete Bürger. Wir checken an Flughäfen | |
| und Hotels mit dem wertvollsten Reisepass der Welt ein. Wir dürfen wählen | |
| und müssen nicht mehr Schlange stehen. Im Ausland rühren wir Fremde zu | |
| Tränen, wenn wir von unserem 9. November erzählen. Aber dankbar sind wir | |
| dafür nicht. Wem denn auch? Uns selbst? Helmut Kohl sicher nicht. | |
| Bis heute sind die Fehler der deutschen Wiedervereinigung nicht behoben. Im | |
| Gegenteil, sie werden geleugnet, ihre Folgen werden lautstark beschwiegen. | |
| Gefühl und Verstand klaffen deshalb bei diesem Thema nicht nur im Privaten, | |
| sondern auch im Politischen auseinander. | |
| ## Andauernde Ungleichheit | |
| „Ungleiches Deutschland“ heißt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von | |
| 2016. Ostdeutschland, steht da, stecke in einem „Teufelskreis aus | |
| Verschuldung, Arbeitslosigkeit und Abwanderung“. Schaut man sich die | |
| dazugehörigen Karten an, könnte man meinen, die DDR existiere noch. | |
| Zumindest was Themen wie Überalterung, Einkommensschwäche oder | |
| Bildungsarmut angeht. | |
| Wer der SPD-nahen Stiftung nicht vertrauen mag, kann sich gern auf das | |
| Deutsche Aktieninstitut verlassen. Gerade hat man dort 45.000 Bürger zu | |
| ihrem Anlageverhalten befragt. Im Osten hätten sie es auch lassen können – | |
| dort haben die Leute nicht das Geld, um ein bisschen zu spekulieren. Denn | |
| während das Nettovermögen von Sassnitz bis Suhl bei durchschnittlich 24.800 | |
| Euro liegt, beträgt es in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg 112.500. Ja, | |
| in der DDR gab es keinen Immobilienbesitz, keine Aktien. Trotzdem, dreißig | |
| Jahre nach der Wende besitzen die Westler immer noch viereinhalbmal so viel | |
| wie wir Ostler. | |
| Tja, könnte man sagen, sollen sie halt fleißig sein. Fragt sich nur, wo. In | |
| Ostdeutschland sitzt kein einziges DAX-Unternehmen. Und von 50 | |
| Bundesbehörden haben nur 3 ihren Sitz dort. Und das, obwohl es seit 1992 | |
| einen Regierungsbeschluss gibt, solche attraktiven Arbeitsplätze in den | |
| Osten zu verlagern. Das sind die traurigen Fakten. | |
| Was folgt daraus für die Gefühle? Für die leistet sich die Bundesregierung | |
| einen Beauftragten für die „neuen Bundesländer“. Derzeit ist der Thüring… | |
| CDU-Bundestagsabgeordnete Christian Hirte der Gute-Laune-Onkel für die arme | |
| Verwandtschaft. Einmal im Jahr darf er einen Bericht vorlegen. In dem wird | |
| stehen, dass der Osten auf einem sehr guten Weg ist. Jeder weiß, dass das | |
| nicht stimmt. Behauptet wird es trotzdem. Das nervt, auch Gutwillige wie | |
| mich, die ihren Platz in der Demokratie gefunden haben. | |
| ## Nicht jede Story stimmt | |
| Wenn 2019 Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg anstehen, | |
| wird die Zeit der Unaufrichtigkeit ablaufen. Deutschland ist geteilt – die | |
| Wahlergebnisse in den nach rechts driftenden Ostländern werden das zeigen. | |
| Seit bald 30 Jahren wird dort an den Küchentischen wieder und wieder | |
| erzählt, wie der Westen in Gestalt der Treuhand die Betriebe im Osten | |
| geschenkt bekommen und plattgemacht hat. Nicht jede Story stimmt. | |
| Richtiggestellt wird trotzdem keine. Denn das würde bedeuten, über Fehler | |
| zu sprechen. | |
| Auch geheilt wird nichts. Bis heute streiten Hunderttausende ehemalige | |
| Bergarbeiter, Künstler und Eisenbahner für ihre DDR-Betriebsrenten, die | |
| ihnen qua Einigungsvertrag genommen wurden. Jede dieser Geschichten ist | |
| eine von Vergeblichkeit. Sie werden wieder und wieder erzählt, im Verein, | |
| in der Familie, immer häufiger am Grab. | |
| Man kann das so lassen, klar. Aber klüger wäre es, wenn dieses Land sich | |
| ehrlich machen würde. Die unangenehme Wahrheit ist: Je öfter die Politik | |
| uns Ostdeutschen zu erklären versucht, wie scheiße unser Leben früher war, | |
| desto gemütlicher richten wir es uns im müffelnden Gefühl der Abwertung | |
| ein. Nein, ich will die DDR nicht wiederhaben. Aber ich will beides sein | |
| können – Ost- und Gesamtdeutsche –, ohne mich für den ersten Teil meines | |
| Lebens rechtfertigen zu müssen. Und ohne zurechtgewiesen zu werden, weil | |
| ich den zweiten für (noch) nicht gelungen halte. | |
| 13 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
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